André Seidenberg. Das blutige Auge des Platzspitzhirschs LESEPROBE

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AndrĂŠ Seidenberg

Das blutige Auge des Platzspitzhirschs Meine Erinnerungen an Menschen, Seuchen und den Drogenkrieg


ANDRÉ SEIDENBERG

DAS BLUTIGE AUGE DES PLATZSPITZHIRSCHS meine erinnerungen an menschen, seuchen und drogenkrieg


ES HÄTTE ALLES NOCH VIEL SCHLIMMER WERDEN KÖNNEN

Drogen und Krieg können Menschen berauschen. Der Drogenkrieg dagegen hat kaum je berauscht und begeistert. Geschlissen und getötet hat er, massenhaft und schleichend, fies wie die Sucht auch. Niemand scheint süchtig nach diesem Krieg, und doch ist er anscheinend nicht zu stoppen, weltweit. Krieg und Seuchen sind oft böse Geschwister. Der Drogenkrieg flackert da oder dort auf, er ist offen gewalttätig oder tötet im Verborgenen, weltweit an vielen Orten, und das schon seit mehr als hundert Jahren. Krieg und Seuchen schienen weit weg oder überhaupt schon lange überwunden. In den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts aber standen die Stadt Zürich und die ganze Schweiz im Brennpunkt des Drogenkriegs und der HIV-Pandemie. Mehr als irgendwo sonst in Europa kulminierten hierzulande die Probleme mit Heroin und Aids; sie wurden in der Schweiz zu den wichtigsten Todesursachen im mittleren Lebensalter. Jährlich tausend junge Menschen starben in unserem kleinen Land an den Folgen ihres Drogenkonsums. Die Drogenszene war eine offen schwärende Wunde im Herzen der Stadt Zürich und die größte Sorge der Bevölkerung. Unsere Zukunft schien düster. Aber die Albtraumszenarien, die ich am Anfang erzählt habe, sind glücklicherweise nicht eingetreten. Die Geschichte des Drogenkrieges und seiner Seuchen war eine Zeit lang auch hierzulande ein großer Schrecken, fand bei uns aber ein glückliches Ende. Zehnmal, ja fünfzehnmal weniger Menschen als Mitte der Neunzigerjahre sterben heute an den Folgen des Drogenkonsums und an Aids; wir haben kaum noch Beschaffungskriminalität; kaum jemand beginnt heute noch, Heroin zu konsumieren. Wie konnte eine so große Katastrophe über unsere Stadt und unser Land hereinbrechen? Wie konnten wir aus diesen Schwierigkeiten wieder herausfinden? Warum und wie konnten Tausende von Heroinabhängigen


ihre sich und die Gesellschaft schädigenden Lebens- und Verhaltensweisen so grundlegend und nachhaltig ändern? Die ganze Drogengeschichte unserer Stadt kann ich vielleicht nicht befriedigend erklären. Aber einzelne Geschichten kann ich erzählen. Ich war von Anfang an dabei. Vierzig Jahre lang war ich Arzt in Zürich, im Notfalldienst, als Allgemeinmediziner in meiner eigenen Praxis und als Leiter der Methadonpoliklinik ZokL1 und der Heroinabgabe ZokL2. In meinen Sprech­stunden habe ich über dreißigtausend Menschen kennengelernt und mehr als dreitausend Heroinkonsumenten persönlich betreut, fast die Hälfte aller Opioidabhängigen in Zürich. Einige habe ich über viele Jahre hinweg immer wieder in meiner ärztlichen Praxis gesehen.


BABY

Bis 1951 war der Drogenkrieg von Großbritannien und den USA schon ein halbes Jahrhundert lang in die ganze Welt gebracht und oft auch blutig ausgetragen worden. Die Schweiz hatte sich aus kommerziellem Interesse dem Druck entzogen und widersetzt. Heroin und Kokain waren als Arzneimittel legal gehandelt und auch exportiert worden. Dann musste die Schweiz nachgeben. Ein neues Betäubungsmittelgesetz verschärfte die Rezeptpflicht f ür O pioide u nd Kokain u nd schränkte den Handel ein. Heroin war nicht mehr erhältlich. Aber opioidabhängige Ärzte und andere Medizinalpersonen konnten sich problemlos Morphin verschreiben. Wenige Dutzend andere Morphinisten lebten und versorgten sich in zwielichtigen Lokalen des Zürcher Niederdorfs: Boheme und Halbwelt. Baby war eine Freundin meiner Eltern. Einige Monate lang war sie unsere Hüterin, Kinderfrau, Amme, eine Frau mit wild verwuscheltem struppigem Pagenschnitt aus angegrautem schwarzem Haar, kleinen welken Brüsten, dürr unter ihrem dünnen Leibchen. Ich spürte ihre spärliche Wärme, als sie mich einmal nachts auf ihren Knien hielt. Ich spürte auch ihre Weichheit, obwohl Baby doch so mager war. Ich war noch so leicht, dass mein Gewicht die geringen Muskeln ihrer Oberschenkel nicht bis zur knochigen Unterlage wegdrücken konnten. Ich trug nur mein Hemd, denn meine Pyjamahosen waren nass geworden, weil ich schreiend in meinem Bett aufgewacht war. Baby und ich tranken eine warme gezuckerte Milch gemeinsam aus einem braunen Caquelon mit runden weißen Tupfen. Baby und ich liebten es süß. Die nächtliche Küche war kalt, der Boden und die Wände waren mit Platten gekachelt, die immer feucht anliefen. Wir lebten in einem sechshundert Jahre alten Haus im Niederdorf. In Babys Handtäschchen fand ich ein Puderdöschen, ein Spitzenunterhöschen aus dem Dessous-Geschäft im Nachbarhaus und ein Döschen mit einer auf Watte gebetteten Spritze


aus Stahl und Glas. Baby war nicht nur Alkoholikerin, sie war zumindest gelegentliche Morphinistin. Baby, meine Tante Regina, ihr gemeinsamer Liebhaber Palustra und ihre ganze Clique lebten vor allem in den Beizen des Niederdorfs. Das Malatesta und das Select waren ihre Stammlokale. Unsere Märchentante, Tante Regina, war eine zierliche, winzig kleine Traumtänzerin. Sie erzählte, dass sie als Seiltänzerin in einem Zigeunerzirkus in Frankreich vom sechs Meter hohen Seil gefallen sei; niemand wollte es glauben. Tante Regina war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Ihr Märchenprinz in Frankreich war ein kleiner reicher Japaner aus dem Hause Suzuki. Tante Regina trank keinen Alkohol. Sie rauchte, so viel sie konnte, und sie trank den Kaffee schwarz mit viel Zucker. Ob auch Tante Regina gelegentlich Drogen genommen hat, weiß ich nicht. Opioidrezeptoren im Hypothalamus regulieren die Lust auf Süßes. Alle Opioidabhängigen lieben es süß. Zwei, drei Löffel voll oder mehrere Würfel: Alle meine Methadonpatienten nahmen Zucker in den Kaffee.


MOISCHE

Moische, mein Großvater, war der Vater von Tante Regina. In seiner nach Zigarettenrauch stinkenden Kammer erzählte auch er Geschichten, aber seine Geschichten waren die Wahrheit, und dass Wahrheit auf russisch Prawda heißt, weiß ich von ihm. Mein Großvater kannte Sibirien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er im Russisch-Japanischen Krieg aus der zaristischen Armee desertiert und über den gefrorenen Fluss Amur geflohen. Viele seiner K ameraden erfroren. »In der Kälte hast du nicht kalt, aber nur wenn du stark bist und dich immer bewegst. Du musst laufen!« Mit einer schwindenden Schar Kameraden war er von Russland quer durch ganz China bis nach Schanghai gelaufen. »Und wenn du dich hast umgedreht, ist da einer gefallen, war tot, und du hast dich umgedreht andere Seite, ist da einer gefallen, war tot.« In Schanghai gab es von alters her eine Synagoge. Dort bekam er Hilfe. Von Schanghai kam er über Hamburg in die Schweiz, wo er eine Familie gründete. Moses Seidenberg wurde zweiundneunzig Jahre alt. Er starb in der Nacht vom 28. Dezember 1968. Es war eine sibirisch kalte Nacht. Großvater saß auf einer Bank im Bellevue-Rondell. Das Wartehaus der Straßenbahn war ein rund und elegant geschwungenes, offenes Verdeck im Stil der Dreißigerjahre. Zwischen den Rücken an Rücken liegenden ringförmigen Holzbankreihen schützte rundum gezogenes Fensterglas die innenseitig gelegenen Sitzplätze notdürftig vor Wind, Regen oder Schnee. Großvater Moische war Tuchhändler gewesen: »Gute Ware aus England.« Er war immer ein stolzer Mann, stets tadellos gepflegt i m D reiteiler, mit Einstecktüchlein, Taschenuhr am eingeknöpften Goldketteli und elegantem Gehstock. Quer durch ganz China bis hierher hatte er es geschafft. Jetzt konnte er nicht mehr, die Kraft hatte ihn verlassen. Nur in einem losen, verrotzten und verschlissenen Hemd und mit schlotternder Hose saß er, schlaff zurückgelehnt, mit dem Kopf am Glas im Rücken,


auf der harten Bank. Er atmete schwach, mit offenem, gebisslosem Mund. Er lächelte fast unmerklich, als er mich sah. Ich wollte ihm aufhelfen. »Geh weg! Ich sterbe.« Es war, als hätte er mich regelrecht fortgeschleudert. Ich war auf dem am krassesten überdosierten LSD -Trip meines Lebens. Ich hatte jegliche Kontrolle verloren. Ich war jung, ich war stark. Ich zog meine Kleider aus. Nur mit Gummistiefeln bekleidet rannte und hüpfte ich durch die eiskalte Nacht. Ich fror tatsächlich nicht. Wie Großvater gesagt hatte: »Du musst laufen, du musst laufen.« Die Polizei griff mich auf. Ich biss einen Beamten in den Daumen, als er mich in den Schwitzkasten nahm und abführte. Ich wurde in eine stockdunkle Zelle geworfen und starb tausend Tode. Vor allem wurde ich immer wieder vergast. Dumpfe Schläge hallten durch die Heizungs- und Lüftungsrohre. Sie kündigten mein erneutes Ersticken an: »Zy-klon B, Zy-klon B, bim, bam, bum.« Noch vor dem Morgen wurde ich in Handschellen in einem Kastenwagen in die Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli gebracht. Im nächtlichen Schlafsaal der geschlossenen Abteilung raschelte und flüsterte es unruhig umher. »Du, ein Neuer ist gekommen.« Nur Silhouetten von Bettgestellen und fahles Licht in den hohen vergitterten Fenstern waren sichtbar. »Ob der wohl auch herausfinden muss, wer er ist?« Der Flashback mit dem sterbenden Großvater traf mich hart und hyper­ real. Ich spürte die Kälte seiner bartstoppeligen Haut an meinem Ohr. Mit letzter Kraft flüsternd hatte er mich fortgeschickt, als er starb. Und doch schleuderte es mich mächtig weg. Ich sah mich rücklings zu Boden fallen, vor Schreck halb starr im staubigen Dreck aus dem Bellevue-Rondell wegrobben, nur noch weg, weg von meinem sterbenden Großvater. Plötzlich war ich wieder im Wachsaal der Psychiatrie. Der Nachtarzt kam. Er befragte mich. Ich erklärte ihm, dass ich einen LSD -Trip eingenommen hatte. Ich merkte, dass er keine Ahnung hatte. »In Ihren Büchern werden Sie finden, dass man 25 Milligramm Largactil spritzen muss. Bitte tun Sie das nicht. Ich brauche keine Neuroleptika. Die Wirkung ist ohnehin bald ganz vorbei.«


Der sterbende Großvater und die mordenden Gespenster meines Horrortrips in der Gaskammer des Polizeigefängnisses überfielen mich noch viele Male, lautlos, hinterrücks. Da kamen die Wärter, zu viert. Sie packten mich wortlos, und einer rammte eine Spritze in mein Fleisch. Ich hasse Neuroleptika, sie drücken dich nieder und machen dich steif. Schlimmer als beim tödlichen Gift Strychnin läuft dir die Steifigkeit vom Nacken und den Schultern herab, entlang der Wirbelsäule hinunter bis in die Oberschenkel. Dem blöden Nachtarzt bin ich später als ärztlichem Kollegen noch einige Male begegnet. Mein Großvater war schon unter der Erde, als ich aus der Klinik entlassen wurde.


GRÖBLI UND SCHÖBLI

Krieg und Seuchen galten schon fast überwunden. Und als sie trotzdem kamen, waren sie nicht so, wie wir sie uns noch hätten vorstellen können. Der Krieg war der Drogenkrieg, und die Seuchen hießen Sucht und Aids. Erst vor fünfzig Jahren begann sich auch die Schweiz am weltweiten Krieg um Drogenmärkte zu beteiligen. In den fünfundzwanzig Jahren bis zur Schließung der offenen Drogenszenen auf dem Platzspitz und beim ehemaligen Bahnhof Letten wurden die Polizeikräfte zur Unterdrückung des Drogenkonsums verhundertfacht und martialisch bewaffnet. Bis Mitte der Neunzigerjahre wuchs der Knüppel des Staates am Drogenproblem. Die Risiken für einen vorzeitigen Tod waren hierzulande um ein Vielfaches größer als heute. Europa lebte fast ein halbes Jahrhundert unter der sehr realen täglichen Gefahr eines Atomkrieges. Der Kalte Krieg wurde heiß gegessen. Die Fünfziger-, Sechziger- und auch noch die Siebzigerjahre waren um ein Vielfaches gewalttätigere Zeiten als heute. Zur Zeit meiner Kindheit waren Wirtshausschlägereien mit Todesfolge keine Seltenheit. Die Zeitungen berichteten meist nur beiläufig, mit einer kleinen Notiz. Heute macht ein einziger solcher Fall tagelang Schlagzeilen, und die Medien können sich deswegen wochenlang auflagenfördernd erregen. Der rasant wachsende Straßenverkehr forderte früher jedes Jahr Tausende Opfer in der Schweiz; jeder kannte Verkehrstote im eigenen Bekanntenkreis. Sogar der Terrorismus forderte in Europa und der Schweiz in der Zeit des Kalten Krieges wesentlich mehr Tote als heute, gerade in der Schweiz. Polizeiexzesse, bisweilen mit Todesfolge, sind in Europa nicht mehr an der Tagesordnung; früher waren sie gang und gäbe. Erziehungsanstalten für Jugendliche hießen damals noch so. Auch an normalen Schulen waren Prügelstrafen noch normal. Sogenannte Verdingkinder wurden manchenorts noch wie Sklaven gehalten. Wer sich traute, lange Haare zu tragen, wurde zu Hause verprügelt oder auf der Straße angepöbelt. »Schaffe, schaffe! Von nichts kommt nichts!«


Frauen in kurzen Röcken wurden nicht nur angestarrt, sondern handfest angemacht. Sie hatten noch lange kein Stimmrecht und auch sonst nichts zu melden. Vergewaltigung in der Ehe gab es nicht, denn ehelichen Verkehr durfte der Mann als legitimes eheliches Recht mit Gewalt erzwingen. Jede und jeder, der sich nicht unterordnen wollte, bekam den tätlichen Zorn derjenigen zu spüren, die das Sagen hatten, und noch mehr: die blanke verzweifelte Wut derjenigen, die nichts zu sagen hatten. »Da könnte ja jeder kommen, wir müssen doch auch alle, und wo würde das bloß hinführen?!« Die freiheitliche Toleranz hatte enge Grenzen; Anstand und Rechtschaffenheit schienen nur m it r igorosem, ja bösartigem Zwang gegen sich und andere erreichbar. Die Zweifel daran wuchsen erst allmählich. Der Kampf gegen Drogenkonsum war ein Kampf gegen Drogen konsumierende Menschen. Drogenkonsumenten wurden als Feinde der etablierten Gesellschaft angesehen. Nicht selten sahen und stilisierten sie sich auch selbst so. Das Ausmaß der Repression stand in keiner vernünftigen Relation zum Ausmaß der Probleme mit Drogen. Konsumiert wurde vor allem Cannabis und manchmal LSD. Immer noch waren erst wenige Dutzend Menschen in Zürich heroinabhängig, und Probleme mit anderen Drogen wurden kaum beobachtet. 1972 wurde in Zürich der erste offizielle Dr ogentote re gistriert. Er starb an einem Atemstillstand nach einer ungewohnt hohen Dosis Heroin. Ich kannte ihn flüchtig. Drei Jahre später, 1975, starben allerdings gemäß Polizeistatistik bereits zweiundfünfzig Menschen an einer Überdosis. Der aufbegehrenden Jugend wurden pauschal die schlimmsten Dinge unterstellt – sie seien vom kommunistischen Osten gesteuerte Terroristen –, und es wurde Drogenkonsum vermutet. Tatsächlich wurden in den Straßen von Zürich Langhaarige gesichtet, und die Polizei konfiszierte gelegentlich einige Gramm Cannabis. Drogen wurden zum Kennzeichen und zur Rechtfertigung für Repression und extensive Polizeimaßnahmen. Ende der Sechzigerjahre waren in der Stadt Zürich nur zwei Polizisten mit Drogendelikten befasst: Robert Schönbächler und Arthur Grob.


Die Zürcher Riviera liegt unterhalb der Quaibrücke, wo die Limmat aus dem See fließt. Lange behauene Quadersteine mit roten Verruccanoeinschlüssen bilden am rechten Ufer eine hundert Meter breite Treppe. Elf Stufen führen zum Wasser, wo Schwäne, Enten und Blässhühner auf Fütterung warten und sich deswegen aufgeregt streiten. Schon vor fünfzig Jahren konnte man über einen schmalen Steg auf das große Floß im Fluss, um ein Ruder- oder Pedaloboot zu mieten. Schwarze, schwere, in die steinerne Fassung der Treppe eingelassene Metallringe zeigen noch heute, wo vor noch längerer Zeit die Frachtschiffe am Hafen der Stadt vertäut lagen. Im Sommer 1968 saßen wir auf diesen Stufen der Riviera. Wir blinzelten in die Sonne oder zu den Mädchen, und manchmal kifften wir schon in der Mittagspause. Wir brachten Musikinstrumente mit und sangen. Musik musste man noch selbst machen; zwar gab es schon Kofferradios, tragbare Transistorradios, aber kein Sender brachte hörenswerte Musik. In diesem Sommer war immer schönes Wetter. Ich kann mich zumindest an nichts anderes erinnern. Ein Gruppenbild zeigt die Riviera mit uns. Der Fotograf muss auf einem Boot oder dem Floß der Bootsvermietung gestanden haben. Haben wir wirklich posiert? Es sind alle zu sehen, es sind alle da: Michael, Daniel, Tienäli, Ambar, David, Hirsch mit seinem Feuermal im Gesicht, Elefäntchen, Renate, Helen, Pieter und andere. Wir waren die ganz Jungen, Lehrlinge, Gymnasiasten und Drop-outs. Wir waren farbenfroh, mit Pluderhosen, Gilets und Blusen oder bunten Pullovern oder luftigen Röcken und Blumen oder Bändern im Haar und selbst gefertigtem Schmuck. Ich selbst besaß damals wohl nur meine zwei Paar Jeans. Das eine konnte ich waschen und trocknen und das andere tragen. Und vielleicht hatte ich einen unifarbenen Pullover, zwei T-Shirts und ein Paar Turnschuhe. Mir war gar nicht bewusst, wie sorgfältig herausgeputzt viele von uns damals waren. Mit selbst gemachten Kleidern oder Schmuck waren sie in und eher hot als cool; cool galt erst später als in. In der Mitte sitzt Sänger, breitbeinig, und grinst unter seinem breiten, dunklen Haarkranz direkt ins Auge des Betrachters. In der Rechten hält er eine indische Sitar wie ein Zepter, und die linke Hand stützt er


auf das Knie. Die Mädchen blicken alle zu ihm. Sogar Ambar scheint ihn anzuschmachten. Pieter trägt einen schwarzen Zylinder und Zwirbelschnauz, ein Aufzug, der seine schüchterne Art dementieren sollte. Elefäntchen, der Musiker, dessen blonde Lockenpracht jede Barockperücke übertroffen hat, scheint irgendetwas in der Ferne entdeckt zu haben. Wer waren die anderen? Ich erinnere mich nicht sofort. Mit Sänger, dem Sitarspieler, habe ich als Straßenmusiker vor Restaurants nicht schlecht verdient. Wir hatten kein Geld, oder wir zeigten es nicht. Einige hingen den ganzen Tag an der Riviera. Sie waren vielleicht aus einem Heim oder einer Anstalt entwichen, abgehauen, auf Kurve, wie zum Beispiel Tienäli. Sie hat sich mir selbst mit ihrem speziellen Spitznamen vorgestellt, und ich weiß nicht mehr, wie sie wirklich hieß, obwohl sie doch später einmal meine Patientin war. Tienäli trug eine blau-rot bestickte, weiße Bluse aus einer gekreppten Baumwolle. Sie hatte wulstige Lippen, lange Wimpern, blaue Augen, windschiefe, vorstehende Zähne und kleine, handliche Brüste, die ich damals gerne einmal erkundet hätte. Sie suchte einen Gymnasiasten. Den würde sie auf eine Party, das nannten wir damals einen Fez, begleiten, für fünfzig Franken. Als sie meine Augen sah, ergänzte sie, dass sie sich dann für weitere fünfzig Franken sogar küssen ließe. Ich weiß nicht, ob ich etwas Schlagfertiges zu sagen wusste, aber eine böse Bemerkung habe ich wohl nicht gemacht, da sie mich, wenn wir uns begegneten, immer freundlich anlächelte, mich etwas lüstern musterte und sich mit der Zunge über die Zähne fuhr. Sogar als sie, Jahre später, zum ersten Mal in meine Sprechstunde kam, tat sie das. Hinter der grün bemalten, hölzernen Flussbadeanstalt für Frauen, aus dem Jugendstilbau des Steueramtes, stierten Gröbli und Schöbli mit ihren Ferngläsern über den Fluss. Grob und Schönbächler, die beiden ersten und damals einzigen Drogenfahnder der Stadt, hatten ihren Posten hinter dem ovalen Fenster in der obersten Dachkammer des von einem orientalisch wirkenden kupfergrünen, bauchigen, Spitzhelmgiebel gekrönten Türmchens bezogen. »Juhuh.« Sänger winkte den beiden Polizisten fröhlich zu.


Der Einärmer reichte dem Sänger einen Joint weiter und nahm einen Schluck aus der Flasche. Ambar und Tienäli bastelten noch mehr große Öfen auf einem Flugblatt und vier zusammengepressten Knien. Sie giggelten und kicherten. »Juhuh«, winkte nun die ganze Truppe grölend. Der Gymnasiast, der im Schlepptau von Tienäli aufgetaucht war, natürlich ein Angsthase, merkte aber, das seien doch sicher Schmierlappen. »Ja, der Gröbli und der Schöbli: Schmier und Schroter, macht nichts, nur noch lustiger, juhuh.« Wenn wir Schweizer Sprache schreiben, geht für uns immer etwas verloren, meist das, was uns nahe ist. Soll ich Knast schreiben, wenn wir von »Kiste« sprechen, in welche man uns einlocht? Und wie beschreibe ich die »Kurve«, wenn wir aus einem Heim oder Gefängnis ausbrechen? Und die »Schmier«, das sind nicht die »Bullen«, weil »Bullen« schon wieder den TV-geprägten Wortschatz meint, welcher sich auf der Gasse erst später als hiesige Sprache breitgemacht hat. Damals saßen wir noch nicht so lange vor der Glotze wie heute. Und die Schmier ist einfach auch nicht die Polizei. Ich erhoffte mir schon immer mal, von einem Schmier dafür angeklagt zu werden, dass ich »Schmier« sagte oder schrieb, und ich dann hätte zurückfragen können, ob der Schmier ein Antisemit sei, weil doch Schmier jiddisch ist und von »Schmirah«, die Wache, kommt, und wenn Schmier hierzulande beleidigend für einen Polizisten ist, dann ist Schmier nur beleidigend, weil ein hiesiger Polizist mit einem dreckigen, jiddischen Ausdruck belegt wurde, der wiederum nur dreckig ist, weil er jiddisch ist. Übrigens sind auch der »Schroter« und die »Schroterei« jiddische Wörter für Polizisten und Polizei. Die Polizisten schienen unser Winken nicht zu bemerken. Ambar lachte und meinte, die beiden Steinfiguren, welche den obersten Balkon des Türmchens flankierten, würden mit gesenkten Köpfen, verschämt zurückwinken. »Siehst du, wie sie insgeheim die lauernden Polizisten auslachen?« Immer mehr Hippies auf der hundert Meter breiten Steintreppe gestikulierten nun johlend über den Fluss. Die festliche Hochzeitsgesellschaft vor dem Stadthaus glaubte wohl, sie wäre gemeint, und einige Damen


winkten fröhlich zurück, aber die Herren vermuteten Hohn und Spott, und zwei winkten gar nicht freundlich, sondern mit Fäusten, vor allem als David seinen entblößten Hintern zeigte. Es war nun gar nicht mehr klar, ob die Polizisten oder die Männer der Hochzeitsgesellschaft gemeint waren.


ELEFÄNTCHEN

Nicht nur wegen Drogen bin ich von der Schule geflogen. Ich war einfach fällig. Unruhestiftung und schlechte Noten allein hätten auch schon gereicht. Die Lehrer hatten unglaublich lange Geduld mit mir gehabt. Ich aber fühlte mich befreit. Die Schule brauchte mich nicht – und ich sie sowieso nicht; das bisschen konnte ich mir auch ohne Gymnasium beibringen. Es war das Jahr 1968, und mein Leben begann. Appenzeller sind in der Schweiz als besonders kleine Menschen bekannt. Charlottes holzverkleidete Stube war so niedrig, dass sogar ich mit der ausgestreckten Hand die Decke erreichen konnte. Der lange Geiger konnte nicht stehen. Die Luft stank nach Rauch von Zigaretten und Marihuana, der große, schmucklose Kachelofen und die vielen Menschen erzeugten eine stickige Wärme. Wir waren alles Musiker, einige waren schon erfolgreich, andere wurden später berühmt, ja sogar richtige Stars. Außer Charlotte waren wir alle sehr jung. Ich glaube, an diesem Silvesterabend im Appenzellerland hatte jeder einen LSD -Trip eingenommen. Es war absolut gigantisch. Die Welt kugelte sich wie ein gewaltiger Schneeball um die kleine Stube. Elefäntchen und mich katapultierte irgendetwas hinaus in den mehrere Meter hohen Schnee. Dann rannten wir die Dorfstraße hinauf. Der Schneepflug blinkte und ratterte an uns vorbei wie ein mechanisiertes Fasnachtsungetüm. Wir zweigten auf eine unbeleuchtete Straße ab, keuchten mit Leichtigkeit den Berg hinauf, jauchzten, sangen und bewarfen uns mit Schnee. Die Lichter des Dorfes und der spärlichen Fahrzeuge auf der Hauptstraße im Tal unter uns und der hoch auf den Dächern und Wiesen liegende Schnee beleuchteten eine Landschaft, kitschig schön wie eine Modelleisenbahnanlage. Da verschwand ein Zug in einem Tunnel. Dort blinkte stumm der Schneepflug. Auf den Kaminen standen kleine Rauchfähnchen still, als wären sie grau-weiße Wattebäuschchen. Die kleinen Häuser leuchteten aus ihren Fenstern wie auf einem Adventskalender. Nichts bewegte sich mehr in dieser eisigen Welt – außer uns zwei lächerlich aufgeregt-­fröhlichen


Figuren unter dem stummen Dröhnen und Ächzen der Milchstraße. Die eisige Welt war verkehrt. Wir gingen kopfüber. Vor mir hüpfte und sprang Elefäntchen mit ausgebreiteten Armen. Die Straße vor uns verbog sich in eine Kurve, auf der zuerst nur still glitzernd flackernde Frage zeichen tanzten. Da kam ein Licht und begann, blendend wie der Strahl aus dem Finger einer strafenden Hand, auf uns zu zeigen. Elefäntchen hob ab. Er sprang auf die Kühlerhaube des Wagens, ja auf das Dach. Das Auto drehte, schleuderte unter ihm, und mein Freund sprang schlitternd wieder ab. Er landete in seinen Finnenstiefeln federnd auf der Straße. Der perfekte Stunt. Das Fahrzeug durchbrach die Schneemauer am Straßenrand und blieb im tiefen Schnee der Böschung stecken. Wir hörten heftiges Fluchen und rannten davon. Elefäntchen und seine Band lebten in einem baufälligen im Jugendstil gebauten Gebäude am Bellevue in Zürich. Der vergitterte Aufzug im Treppenhaus war außer Betrieb. Dicke Hochspannungsdrähte und Kabel hingen frei im Liftschacht. Standen sie unter Strom? Elefäntchen musste sich einen Schuss setzen. Musste er sich wirklich etwas spritzen? Waren er und die anderen damals wirklich abhängig? Im Nachhinein glaube ich eher nicht; vermutlich konsumierten sie das Zeug nur gelegentlich. Aber ich sah das erste Mal, dass sich jemand etwas spritzte. Dieses Etwas war Heroin, einige braune Bröckchen, welche in einem Löffel m it Wasser u nd Zitronensaft aufgelöst u nd i n eine Spritze aufgezogen wurden. Solche Spritzen wurden vielfach verwendet, waren im Dampfkocher sterilisierbar, aus Edelstahl mit einem eingesetzten Glaskonus; die Nadeln wurden zum Sterilisieren mit einem dünnen Metalldraht-Mandrin gereinigt und ablagerungsfrei gehalten. Ich selbst fand Heroin eher unangenehm; das Gefühl, wohlig in süßer Melasse zu ertrinken, war grauenhaft und erschreckend. Nein, ich stand definitiv nicht auf Opioide und auch sonst nicht auf Downer. Ich wollte nicht schlafen, sondern wach sein. Ich wollte mich nicht beruhigen und kaltstellen, sondern mich erregen: »Lieber sich aufregen als sich nicht mehr regen!«


ZUM AUTOR

André Seidenberg, geboren 1951 in Zürich, Schweizer Arzt, drogenpolitischer Pionier in Zürich. 1985/86 gewann er gegen die kantonalen Zürcher Behörden den publizistischen und juristischen Streit um die Spritzenabgabe an Drogenabhängige. 1991 Gründer und bis 1996 Leitender Arzt der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen, Arud. Er entwickelte die nachfragedeckende Versorgung mit Methadon. Er war maßgebend an den eidgenössischen Heroinversuchen beteiligt. www.seidenberg.ch


André Seidenberg Das blutige Auge des Platzspitzhirschs Meine Erinnerungen an Menschen, Seuchen und den Drogenkrieg Elster & Salis AG, Zürich info@elstersalis.com www.elstersalis.com

Lektorat Anja Linhart und André Gstettenhofer Korrektorat Kristina Wengorz für Torat GmbH Satz Peter Löffelholz für Torat GmbH Foto Autor Maria Kühne Foto Seite 261 Gertrud Vogler, Sozialarchiv Zürich, mit freundlicher Genehmigung Fotos Seiten 258, 259 und 261 André Seidenberg Umschlaggestaltung André Gstettenhofer, Peter Löffelholz Gesamtrealisation www.torat.ch Gesamtherstellung CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2020 © 2020, Elster & Salis AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-03930-006-8

Printed in Germany Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.


Es beginnt Ende der 1960er-Jahre mit kiffenden Hippies an der Zürcher Riviera und führt über die ersten Heroin-Abhängigen in den 1970er-Jahren in die 1990er-Jahre mit der größten offenen Drogenszene der Welt im Platzspitz-Park. In seinem ersten Buch erzählt der Arzt André Seidenberg von über vierzig Jahren im täglichen Umgang mit Drogenkonsum, Drogensucht und Aids. Mit großer Empathie und Sinn für authentische Beschreibung, Timing und Dramaturgie lässt er seine Leser eintauchen in eine Welt, die kaum möglich erscheint, aber so existiert hat und es vielerorts immer noch tut. Es gab zu Zeiten des weltweit berüchtigten Platzspitz-Parks in Zürich nur wenige Drogensüchtige, die nicht mindestens einmal von André Seidenberg behandelt wurden. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass es in der Schweiz eine großzügige Methadon-­Politik sowie ärztlich verordnetes Heroin gibt.


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