Henry Kissinger, die Ukraine und wir

Den Strategen interessiert kein Gut und Böse. Uns übrige Menschen aber schon. Der Stratege kennt nur die Moral seiner Truppen und die seiner Gegner. Der Stratege mobilisiert durch den Appell an das Gute und Böse. Was Gut und was Böse ist, interessiert den Strategen aber nicht, nur der strategische Nutzen. Stalin und Hitler haben miteinander gegen Polen paktiert. Der Westen und der Osten haben ihren gemeinsamen Sieg gegen Hitler unterschiedlich interpretiert; aber beide wähnen sich heute immer noch in demselben Kampf des Guten gegen das Böse.

Es lohnt sich immer noch die Gedanken des greisen Henry Kissingers in Ruhe anzuhören. Kissinger hat einst als Stratege so üblen Herren wie dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon gedient. Heute warnt er wohl richtig davor, Russland und China als Gegner strategisch gleich zu behandeln und in ihnen nur ein gleichartig Böses erkennen zu wollen. Kissinger warnt davor, der Verführungskraft eines einheitlich gedachten Kampfes gegen das Böse zu erliegen.

Sicher sind wir die Guten, wenn wir das Individuum als Quelle der Freiheit und den Staat als Mittel für die Freiheit ansehen, und nicht umgekehrt den Staat als Souverän und den Menschen als Werkzeug des Staates.

Aber wie kann das strategisch gefüllt werden?

Wolodimir Selensky hat Kissingers Forderung zurückgewiesen, dass sich die Ukraine auf die Grenzen vor dem 24. Februars 2022 zurückziehen solle. Recht hat er und vertritt damit wohl auch die Meinung fast aller Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie kämpfen dafür, in einem Staat leben zu können, der seine Menschen nicht als machtlose Manövriermasse behandelt. Sie kämpfen dafür, nicht mehr am Rand der permanenten Drohung leben zu müssen, von eben einem solchen Imperium wieder geschluckt zu werden.

Putins Reich der Hoffnungslosigkeit kann nicht nur, es muss besiegt werden. Dieses russistische Imperium darf  keinen Rand von Vasallenstaaten mit entrechteten Völkern und Menschen mehr beanspruchen wie einst Stalin. Anders als nach der Wende vor über dreissig Jahren muss heute strategischer gedacht und gehandelt werden, damit dieser Sieg nachhaltig sein kann. Wie können die europäischen Länder im Süden und Osten der Schweiz gegen hohle nationalistische Versuchungen immun gemacht werden? Die nationalistische europäische Rechte ist nicht zufällig Russland freundlich. Sie setzt ängstlich auf einen Zusammenbruch Europas im Schatten von Putins Reich. Es ist eine Wette gegen Europa.

Die Schweiz wird ihren Beitrag leisten müssen. Wir müssen Christoph Blochers Wette gegen Europa endlich zurückweisen. Wir können uns nicht mehr leisten, defensiv daneben zu stehen.

Wir müssen uns viel aktiver daran beteiligen, den Balkan und den Osten viel mehr in Europa zu integrieren. Die strategischen Schwächen Europas in Ex-Jugoslawien, in Ungarn, in der Moldau, Ukraine, ja vielleicht auch in der Türkei müssen entschieden behoben werden. Militärische Stärke ist das eine. Individuelle Rechte, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Entwicklung sind strategisch ebenso notwendig.