Sucht und Freiheit

André Seidenberg 2023/2024

Wenn Dein Denken, so sehr und ausschliesslich an etwas festhält, dass alles andere dagegen wertlos erscheint, dann bist Du in süchtiger Weise gefangen.

Sucht ist das Ende von vielem, was sonst auch noch möglich gewesen wäre. Wo nur noch das Eine bleibt, das ganz Wenige, welches das ganze Denken beinhaltet, fast das ganze Sein gefangen nimmt, dort ist die Sucht. Sucht ist elend, wirklich, schrecklich, furchtbar erbärmlich und grauenerregend zerstörerisch.

Als Arzt habe ich dreieinhalb Tausend opioidabhängige Menschen persönlich getroffen, gekannt, und manchmal ein halbes Leben lang begleitet, begleitet in ihrer Opioidabhängigkeit, in einer Sucht, aus der sie keinen Ausgang fanden. Die meisten lernten, sich mit ihrem endlosen Leiden zu arrangieren. Die Sucht hat sie nicht losgelassen, das Leiden war nicht geheilt, aber eingedämmt. Die Einschränkung, mit welcher Sucht einhergeht, war am kleinstmöglichen Ort in ihrem Leben zurückgedrängt, eingedämmt. So habe ich einigen Tausend Menschen helfen können.

Versprechen werde ich hier keine machen. Ein Hoffnungsverkäufer mag ein erfolgreicher Arzt sein, aber es kommt der Moment, wo er ein schlechter Arzt sein wird. Dieses Buch ist nicht erbaulich, es hilft Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, höchstens etwas mehr Realität zu gewinnen. Sucht ist oft eine unheilbare Krankheit, bei Opioiden fast immer. Bei anderen Drogen, finden die meisten Menschen wieder einen Weg aus der Sucht heraus, bleibende Narben sind oft nicht auszuschliessen. Sucht findet ihren Weg der Zerstörung, wie viele andere Krankheiten auch. Und noch schlimmer: Sucht ist in uns allen angelegt und betrifft uns heute fast alle.

Sucht ist menschlich. Nur der Mensch kann Tiere oder Menschen in süchtige Abhängigkeiten bringen. Sucht ist in unserer Biologie grundlegend angelegt, aber nur der Mensch kann sich Begehren in süchtiger Weise hingeben. Und nur der Mensch findet manchmal einen Weg aus der Sucht hinaus. Sucht könnte die Geschichte des Menschen beenden, da wir die Endlichkeit der irdischen Ressourcen aus unserem Handeln ausblenden können. Sucht ist gefrässig und droht uns Menschen zu zerstören. Unser Denken und Handeln ist durch Sucht grundlegend korrumpierbar. Darum lohnt es sich, diese grundlegende Bedingtheit unseres Denkens genauer zu untersuchen.

Ich beziehe mich in meinem Buch oft auf Baruch Spinoza [1]. Das Buch diskutiert Fragen, welche schon Spinoza aufgeworfen hat, und die sich mir angesichts meiner Tätigkeit im Bereich der Sucht gestellt haben. Ich gebe keine Hilfe, sich bequem einzurichten. Ich möchte mich nicht gemeinsam mit dem Publikum wohlfühlen um nicht mehr weiter denken zu müssen, sondern das Gegenteil.

Können wir irgendetwas zu Ende denken? Zu Ende oder bis in die Unendlichkeit: Die Wahrheit ist der Unendlichkeit und dem Tod sehr nah. Wir leben und deswegen ist die Wahrheit nicht der Tod. Aber ist es die Unendlichkeit? Dieses Buch fokussiert auf die Bedingtheiten unseres Denkens und Handelns.

Spinoza war ein Zu-Ende-Denker, unerbittlich sorgfältig wollte er bis zur Unendlichkeit in jedem grossen oder kleinen Ding vordringen. Unsere Existenz, unser Streben, ist im Leben, im Diesseits, nicht im Jenseits oder Tod. Die Hoffnung, die einzige Hoffnung, ist die, dass wir auf der Seite des Lebens sind, so lange wir leben. Mehr Hoffnung, gibt es nicht. Ausserhalb des Lebens, ja der ganzen Existenz, ist das Nichts, nicht das andere, sondern Nichts. Dieses Diesseits erstreckt sich bei Spinoza von und bis in die Unendlichkeit, und ist die Unendlichkeit Gottes, אין סוף, En Soph. Es mag für viele, wie Spinoza, ein Trost sein, dass es eine Unendlichkeit gibt, die göttlich erscheint, und Du magst darin Deinen Trost, ja sogar Erlösung finden. Mir persönlich ist die Wahrheit bis an den Tod am Liebsten. Aber wer weiss es schon vorher? Und dem grossen Schrecken bin ich als Arzt ja auch nicht gerade selten begegnet.

Angst kann das Denken beeinträchtigen. Aber Furcht vor dem, was Schreckliches sein könnte, was es Schreckliches tatsächlich gibt, diese Furcht ist berechtigt und angebracht. Und fast jeden denkbaren Schrecken gibt es tatsächlich. Also lass uns gemeinsam weiter denken. Jede Verkleinerung der Realität kann schaden. Also lass mich bei Dir sein, wenn wir uns gemeinsam fürchten müssen. [2]

Spinoza war kein Skeptiker. Er war ein unerbittlicher Zu-Ende-Denker. Das hat die Menschen in seiner Zeit zutiefst verstört und verängstigt. Viele waren durch die blutige Vertreibung aus Spanien und Portugal traumatisiert. Deswegen wurde er 1656 von der portugiesisch-jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgestossen.

Was ist das Streben, Spinozas Begriff Conatus, das Begehren, die Begierde? Was treibt uns an, bis wir nicht mehr weiter wissen, getrieben, in die Enge getrieben sind? Was ist dieser Trieb, der uns ein Leben lang leitet, aber uns auch in die Irre führen kann. Immer wieder finden wir diesen Trieb in allem, in allem was wir suchen, in allem, was wir gut finden, wohin wir wollen, was wir wahr finden, schön finden, in allem, was wir sind.

Der Zwiespalt zwischen Leben und Tod existiert, im Leben vor dem Tod.

Aber die Freude darüber, dass wir Teil des Lebens sind, dieses unbändige Leben, das wir bis in die Unendlichkeit wünschen… Menschen in existentiellen Situationen zu begegnen, ist für den Arzt eine tägliche Last und ein grosses Glück. Die schiere Selbsterhaltung, von was sonst soll ich mich leiten lassen? Was ist wichtiger: Hoffnung oder Wahrheit, Freiheit und das Recht des Menschen?

Die Entkleidung der Welt von jedem Aberglauben, von jeder Furcht und Hoffnung[3], hinterlässt keine absolute Wahrheit, sondern nur noch bedingte Wahrheiten. Die allumfassende Wahrheit liegt in einer vom Menschen erstrebten, unerreichbaren Unendlichkeit.[4]

Aber Doktor, wir brauchen doch eine allgemeine Wahrheit. Wie willst Du Deine Patienten behandeln können, die Vielheit der Menschen, ohne eine wissenschaftliche allgemeingültige und konkrete Wahrheit? Du wärst doch handlungsunfähig!

Karl Marx fragte zu Recht nach der richtigen Praxis: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.»[5] Marx wollte der Philosophie des Idealismus’ Beine machen, sie vom Kopf auf die Füsse des Materialismus stellen. Aber dazu musste der Marxismus das Individuum, das Subjekt, praktisch abschaffen. «Was tun?»[6] die Frage bleibt notwendig, gerade angesichts des individuellen Menschen. Für jeden Arzt ist die Frage unmittelbar und praktisch, und unverzichtbar, und wenn die Verzweiflung noch so gross ist, und man doch etwas tun muss, darf der Arzt seinen Verstand nicht verlieren, ob aller Not und Gefühlen.

Was tun in dieser Welt? Ärztinnen stellen sich die Fragen des Lebens sehr konkret. Schon in der Zeit meines Studiums sind Freunde und später Patienten verwahrlost, erkrankt, verschwunden, in realen und anderen Gefängnissen verelendet, gestorben, und noch mehr Menschen haben die Suche nach Freiheit und allem anderen aufgegeben, in eine Ecke gestellt, verschoben, aber ein Leben lang mit Sehnsüchten vermisst. Exzess ist nicht dasselbe wie Sucht. Aber Sucht ist eines der Gefängnisse, von denen ich hier spreche.

Grosse Teile der staatlichen Obrigkeit waren bis in die Achtziger Jahre hinein der Ansicht, dass sie in die Körper und Geister der Menschen hinein bestimmen müssten. Sie wollten uns Ärzte als Repressionsinstrumente gegen Drogensüchtige einspannen. 1985 versuchte die Zürcher Gesundheitsdirektion die Abgabe von sterilen Spritzen und Nadeln an Drogenabhängige zu verbieten. Mit unserer Generation von Ärzten war das nicht mehr möglich. Die Ignoranz und die Überheblichkeit der Behörden und der Ordinarien waren für unsere Patientinnen lebensgefährlich.


Bild: Gertrud Vogler (Sozialarchiv Zürich)

Aids war eine neue Krankheit. Zürich und die ganze Schweiz waren von HIV und Heroinsucht mehr betroffen als jedes andere Land in Europa. Hunderte von Ärzten weigerten sich, dem Erlass des Kantonsarztes in Zürich zu folgen. Sie erklärten, dass sie weiterhin sterile Injektionsutensilien an Süchtige abgeben werden. Wissenschaftliche Grundlagen und Evidenz waren bezüglich HIV/Aids und auch bezüglich Suchtkrankheiten spärlich. Persönlich war ich durch mehrere Rechtsverfahren förmlich gezwungen, mich besonders kundig zu machen. Ich wurde zum Fachmann und leitete einige Jahre später die niedrigschwellige Methadonabgabe der Arud[7] und dann die erste Poliklinik für kontrollierte Heroinabgabe in der Schweiz ZokL. Sucht wurde zu einem Lebensthema für mich, mehr als für die meisten Ärzte. Ich sah die schrecklichsten Dinge: Süchtige schwangere Frauen, die an ihren quellenden Brüsten neue intakte Venen zum Spritzen fanden, süchtige Täter, süchtige Opfer, Blut und Eiter, Mütter, die ihre an Aids verstorbenen Kinder beerdigen mussten, ganze Familien, die in wenigen Jahren verschwanden und noch mehr Geschichten, die sich gar nicht erzählen lassen (Geschichte der Drogen in Zürich → Platzspitz-Chronik).

Der Rausch ist ein altbekanntes menschliches Phänomen. In der ganzen Menschheitsgeschichte herrschte vorwiegend Mangel. Sucht ist erst seit wenigen Dekaden für jede und jeden möglich, und ein uns alle betreffendes Problem geworden. Wir alle sind von irgend etwas abhängig: Nikotin, Alkohol, Schlaf-, Beruhigungsmittel, Esssucht, Magersucht, Sexsucht, Spielsucht, TV, Handy, Arbeit, Sport, Geld, Machtstreben, Rechthaberei, etc. Alle unsere Motivation wird vom Belohnungssystem gesteuert. Es gibt keine Schönheit und keine Wahrheit unabhängig von Dopaminausschüttungen im Nucleus accumbens. Die Korrumpierbarkeit unseres Denkens ist offensichtlich. Über Sucht nachzudenken, lohnt sich. Über Sucht nachzudenken, ist notwendig, aus schierer Selbsterhaltung.

Die Kraft einer Gesellschaft kann an ihrer Fähigkeit gemessen werden, Menschen an ihren Rändern aufzunehmen und zu halten. Der kranke Mensch, der sieche Mensch, der Mensch mit Siechtum[8], Lepra, Aussatz wird nicht ausgestossen, sondern gepflegt. Die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen ist ein zentraler Gedanke des Abendlandes, und ein grundlegendes Motiv vieler Ärzte.

Wenn ich ein Menschenleben rette, rette ich eine ganze Welt. Und was kann ich schon Besseres tun auf dieser Welt? Auch ein nicht-gläubiger Mensch steht vor dieser Welt, die ihn fragt: Wo bist Du? Hier bin ich! [9],

Keine Sorge, dieses Buch ist nicht religiös und will zu keinem Glauben verführen, nur zum Denken. Das auf und ab meiner Gedanken will unterhalten und die Bedingtheiten des Denkens verdeutlichen. Also wünsche ich Geduld und Vergnügen.

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[1] Baruch Spinoza, Benedictus de Spinoza, 1622-1677

[2] Spinoza, Ethik IV.47: «Die Affekte der Hoffnung und Furcht können nicht an und für sich gut sein.» Hoffnung, Schrecken und Gefahr sind nur gut oder schlecht insofern unsere Gefühle affiziert sind. «Wer von der Furcht geleitet wird und das Gute tut, um das Schlechte zu meiden, der wird nicht von der Vernunft geleitet» (IV.63).

[3] Spinoza, Tractatus theologico-politicus TTP, Vorrede: Die Menschen stehen oft im «Banne des Aberglaubens … [da] sie keinen Plan ergreifen können und … meistens kläglich zwischen Hoffnung und Furcht schwanken, ist ihr Sinn in der Regel geneigt, alles Beliebige zu glauben… Im Banne des Aberglaubens … ersinnen sie unzählige Dinge und deuten die Natur, ganz als ob sie ihren Wahn teilten, auf sonderbare Weise.»

[4] Spinoza dachte diese Unendlichkeit allerdings in einer so unmittelbaren Nähe, dass sein asketisches Leben und Denken davon spirituell durchdrungen erscheint. Die Bedingtheit der menschlichen Existenz, hat Spinozas Denken nicht sehr beschäftigt.

[5] Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 1845, 11. These. «Was tun?» fragte Lenin knapp und präzise 1902

[6] Wladimir Illjtsch Lenin, Was tun? 1902

[7] Arud: Arbeitsgemeinschaft für Risikoarmen Umgang mit Drogen: Gegründet 30.11.1991 in Zürich. Non-Profit, damals hauptsächlich finanziert und getragen durch privat tätige allgemeinpraktische Ärzte.

[8] Im schweizerdeutschen Gsüchti, Gicht, klingt die Wortwurzel Sucht noch deutlich an

[9] 1. Mose 22: Hineni הנני! Hier bin ich!