Der Kleine

Verenalins weit aufgerissene Augen kündigten den unmittelbar folgenden Schrei an: «Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten!»

Waren da Verfolger? Der Kleine stolperte. Er hatte sich umgedreht und die Novizin nicht gesehen. Er streifte sie. Er fiel rücklings. Ein böser Stich durchfuhr seinen Fuss. Im Fallen erkannte er: im Kleid der Novizin steckte Verenalin. Da lag er im schlammigen Dreck und Schweinepisse. Ein kleines metallenes Kreuz steckte in seiner Sohle. Er zog es heraus und liess es fallen; es blutete.

Verenalin kannte er schon immer. Einmal hatte sie ihn sogar geküsst, da waren sie noch kleine Kinder gewesen. Sie hatte bedauert, dass sie ihn nicht heiraten könne, da er ja ein Jude sei. Sie hatten ihr Spiel gespielt: «Wahrheit oder Hoffnung, eins, zwei, drei».

Verenalin wurde zuhause geprügelt und getreten, für jedes kleinste Vergehen, das noch nicht einmal eine Sünde hätte sein können. Die Welt sei zwei geteilt in «Licht und Schatten, Gut und Böse, Himmel und Hölle, Schuld und Sühne, Erlösung und Verdamnis», hatte Verenalin deklamiert, als sie in ihrem Spiel nach der Wahrheit gefragt worden war. Der Kleine hatte sie mit offenem Mund angestarrt, dann gelächelt und sie mit seinen blauen Augen verschlungen. Die Welt sei nicht zweigeteilt, denn Sein Licht sei überall, und auch in der tiefsten und dunkelsten Gruft sei irgendwo ein Hoffnungsschimmer des Lichts. Auch die schlimmste Wahrheit enthalte die Hoffnung. Da hatte sie ihn auf den Mund geküsst.

Aber jetzt kreischte die Novizin, die Verenalin war, und schrie erneut: «Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten! Die Pest kommt!»

Gestern Abend war der Diktator Rudolph Brun in seiner ganzen purpurnen Pracht, mit goldener Wappenkette und aller amtlichen Würde vor das Ratshaus getreten. Zwei Trommler standen auf der Treppe vor dem Tor als die Räte herauskamen. Mit langsam schneller werdenden Schlägen erzeugten sie auf ihren grossen Pauken Spannung und jeder Schlag war im Zwerchfell zu spüren. Rudolph Brun selbst hatte ausgerufen und der ganzen Stadt verkündet: «Die Juden müssen weg, bevor sie die Pest auch noch zu uns bringen. Tötet sie, verbrennt sie und verbannt sie!»

Neben dem Friedhof hatte das Feuer gebrannt. Die Flammen gingen nicht hoch, man wollte Holz sparen. Aber in der Glut brannten Moses und Mordechai, der Vater und der Onkel, der eine aufgespiesst und schon tot, der andere zerrte vergeblich noch an seiner Fussfessel bis ihn die Hitze in schrecklicher Verkrümmung erstarren liessen.

Der Kleine war davongerannt, den Wolfbach entlang, an der Predigerkirche vorbei, und er war schon fast zuhause, als er mit Verenalin zusammenstiess. Sie kreischte: «Der böse kleine Jude trampelt auf das Kreuz! Rettet Euch, die Pest kommt!»

Rücklings im tiefen Dreck kroch der Kleine weg von der Nonne, rappelte sich auf und rannte weg. Nach zwanzig Schritten, um die Ecke, wäre er fast in die Menschen geprallt. Die Menge johlte und warf Steine. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden aus ihren Häusern gezerrt und in einer Reihe abgeführt. Die Schlinge um den Hals zog an den zusammengebundenen Händen im Rücken des Vordermanns oder Frau. Da war auch die Grossmutter.

Ihre roten Haare, die sie sonst in der Öffentlichkeit immer so sorgfältig verbarg, hingen ihr wirr um den Kopf; das Gewand war zerrissen; schneeweisse Haut, rote Striemen und blutige Kleiderfetzen auf ihrem Rücken zeugten von Peitschenhieben. Die bis gestern so stolze Frau Minne, war nur noch eine schlurfend mitgezogene Gestalt unter den anderen jüdischen Opfern, die mit hängenden Köpfen hinter einander hertrotteten. Wer in die keifenden Gesichter der Nachbarn aufsah, wurde geschlagen, oder sonst hart getroffen.

Die Grossmutter hatte ihrem Enkel am Morgen den Talit, das schwarz gestreifte Gebetsmantel-Tuch, umgebunden. Warum durfte er schon seinen Tales anziehen? Er sollte ihn doch erst nächstes Jahr zu seiner Bar Mizwa erhalten. Er musste den Talit anziehen. Er hob den Kopf als sie sich keuchend aufrichtete, um kurz zu verschnaufen. Die Grossmutter erkannte seine nackte Angst. Sie drückte ihn kurz an sich, ihren Kleinen, der schon nicht mehr so klein war. Mit feinen ledernen Riemen band die Grossmutter viele in das Tuch gehüllte, engbeschriebene Blätter Papier auf seinen Leib, ein ganzes Buch.

«Das ist das Wichtigste. Bring es Deinem Vater, sie werden ihn freilassen. Ich habe alles organisiert. Du wirst mit ihm fliehen.» Aber der Vater war nun auf den Scheiterhaufen gebunden und brannte oben am Wolfbach. Das Buch seines Vaters, der S’mak des Mosche ben Menachem von Zürich, war berühmt. Warum wusste der Kleine nicht. Er hatte es auswendig gelernt, er hatte auch die fünf Bücher gelernt, er war schon fast perfekt.

Die Grossmutter trottete mit den Elenden als sie den Kleinen inmitten der gaffenden und geifernden Meute erblickte. Sie stolperte, als die stockende Menschenschlange sich wieder in Gang setzte. Die Schlinge würgte sie, aber ihre aufgerissenen Augen blieben an ihrem kleinen Enkel hängen, während sie sich fast erstickt aufrappelte.

«Ersäuft alle Juden in der Limmat!»

Hoch erhobene Kreuze und Fackeln wurden von Mönchen die Gasse hinaufgetragen. Der Gesang liess den Lärm verstummen. Die Peitschen der Wachen und Büttel des Rates knallten umso lauter durch die hohen Häuser.

Der kleine Jude rannte über den oberen Mühlesteg in die mindere Stadt. Die Kirchenglocken läuteten Sturm. Jede einzelne und der ganze Chor der Glocken schienen sich zu empören: Gegen die Juden oder über ihr Schicksal? Durch das Rennwegtor flitzte der kleine Jude stadtauswärts an den Wachen vorbei, hinaus nach St. Jakob und weiter, bloss weg. Er rannte und rannte nach Westen, nach Norden, nach Osten und Süden, am Tag und in der Nacht, er achtete kaum auf seinen Atem und die unbewusst gezählten Schritte: «Eins zwei drei, eins zwei drei vier; hhh homhom, hhh homhomhom, hhh homhom, hhh homhomhom.»

Das Bildnis des Herrn am Kreuze bannte alles Böse. Fünfhundert Jahre und länger wurden keine Juden in unserem Land geduldet.

«Weisst Du das nicht?»

Als er nicht mehr rannte, klammerten sich die Papiere des Buches seines Vaters um seinen Leib. Wolkenlos blaue Himmel, die Sterne des Firmamentes, alle Wetter und Unwetter stürzten auf ihn.

Lauter Geschichten hatten sie ihm erzählt; nichts und alles hatte ihn auf das vorbereitet, was geschah. Das Wichtigste hatte die Grossmutter gesagt und ihm das Buch des Vaters umgebunden. Das Wort seines Vaters war berühmt. «Was Du in Dir trägst, ist das Wichtigste, das kann Dir niemand nehmen.»

«Aber in mir habe ich nur Fragen.»

«Eben! Das ist das Wichtigste», hatte Moses ben Menachem zu ihm gesagt und sein Sohn hatte ihn noch nie so lange zögern gesehen. Antworten waren spärlich in seinem Unterricht. Seine Rückfragen kamen meist vor dem Ende der Frage. In den Bart hatte er sich gegriffen und mehr als dreimal den Oberkörper vor und zurück gewippt, und dann doch nachgefragt: «Gott hat nur eine Frage an Dich, welche?»

«Wo bist Du?», wusste der Kleine sofort. «Aber wen kann ich fragen?»

«Seine ganze Welt.»

Und nach langer Pause erklärte der Vater noch:«RamBaM, der grosse Rebbe Moses Maimonides, sagte uns, dass der Verstand, der Verstehende und das Verstandene in Gott eine Sache sind. Der Unendliche ist in jedem Wort, in jedem Ding und in jedem der über diese Dinge denkt und spricht. Geh hin und lerne!»

Er kam in eine Stadt. Er ging dort zum höchst angesehensten Rebbe und rezitierte singend die fünf Bücher, die Kommentare der Weisen und das Buch seines Vaters. Aber im Buch seines Vaters standen nur Muster von Verträgen: Verträge zum Heiraten, zum Geldverleihen und der Wert dieses Wissens erschloss sich dem Kleinen nicht. Man gab ihm Papier und Feder. Nach einer Probeseite durfte er die Kopie des S’mak auf Pergament schreiben. Man verköstigte den Kleinen und er zog in die nächste Stadt und tat dasselbe. Er kannte jedes Wort, das er schrieb aber verstand nichts.

«Ich bin’s Tüüfelin
ich lauf mir ischt kalt,
darf nirgendwo wohnen,
keim Huus oder Wald

Ich laufen und laufen,
darf nirgendwo blieben
han nu mienen Gott
mir di Ziet ze vertrieben

Ich bin Lucifer
ich lauf mir ischt kalt.»

Er rannte weiter und weiter. Im Aschkanas und im Zarphat und sogar im Spharad waren viele jüdische Gemeinden zerstört und abgebrannt. Er sang wenn er nicht rannte oder summte. Er lag auf Gras und nackter Erde. Die Lichtung mit allen Pflanzen, Gewürm und kleinem Getier drehte sich um den kleinen Juden, und schneller noch drehte sich aussen der Wald mit den Pilzen, Wurzeln und grösseren Tieren, und darum herum rasten die Hügel, die Gewässer und Auen, und alles darum herum bis in die Unendlichkeit. Und aus einem leeren Violenkasten dröhnten lautlose Töne die blau oder weiss bemalten Stufen der Wendeltreppe hinab, aber wenn er aufblickte, waren sie wechselnd rot und weiss bemalt.

Er hatte eine Frage; sie öffnete sich wie eine Blume und ihr Duft durchdrang seinen ganzen Leib. Manchmal würgte sie und drohte ihn zu ersticken, und dann drehte sie sich spiralig und verzweigte sich zu immer neuen und weiteren Fragen in die Höhe und Tiefe und alle Richtungen und sie sprossen wie aus einer in atemberaubenden Tempo wachsenden Pflanze die sich selbst umschloss, riesig gross und winzig klein bis in die Unendlichkeit.

Der kleine Jude hatte mit den Kindern gespielt. Der Fragende musste das andere Kind an der Hand oder den Ohren, Nasen oder gar am Knie oder Füssen berühren und fragen: «Hoffnung oder Wahrheit, eins zwei drei?!»

Der Kleine war wahrheitssüchtig.

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