Herz

Herz Cerf Beer von Medelsheim, ein Jude in Frankreich, lebte im französischen Saarland und Elsass bis zum Beginn der Revolution. Herz bezog die Aufklärung auch auf sich persönlich. Das Wissen war Versprechen und Verpflichtung, das wahre Angebot des Höchsten. Im Gefolge der Revolution wurde der kleine, bucklige Jude mit grosser Nase verhöhnt und verlacht. Er starb nicht in Armut aber Bitternis.

Der kleine Herz durfte lernen, was er wollte. Sein Vater nahm ihn mit auf seine Reisen. Er las alles, auf Französisch, Deutsch, Latein und Hebräisch. Er schnupperte an den Büchern, am Staub, am Leder, der Tinte, den farbigen Bildern. Jedes Buch hatte seinen eigenen Geruch. Wer hatte es in der Hand gehalten, geblättert und was daraus erfahren? Herz’ Nase steckte in allen grossen Schmökern dieser Welt. Er roch den Duft und den Gestank der grossen Welt und seine Bibliothek wuchs seit Kindheitstagen.

In der Bibliothek stand sein Cello. Der Hauch des Bogenharzes zog Herz unwiderstehlich an, betäubte und liess ihn die ganze verborgene Tonwelt erahnen. Seit Kindheitstagen übte er auf seinem Cello. Der Vater hatte es ihm in Mittenwald ausgesucht. Der Geigenbauer beteuerte, dieses beste Stück sei noch von seinem Vater selbst gebaut worden. Mathias Klotz 1699, stand auf dem blassen Zettel des Geigenbauers, den man durch die f-Löcher an der Innenseite des hölzernen Bodens des Instrumentes sehen konnte.

Durch Handel und als Ausrüster der königlichen Armee hatte Herz Cerf Beer das Vermögen seines Vaters vielfach mehren können. Bestens eingeführt, bei niedrigem und hohem Adel angesehen, hatten sich seine Geschäftsbeziehungen, überhaupt Beziehungen, ja sein ganzes Leben aufs Erfreulichste entwickelt. Herz sah sich also in der Lage, aber wusste zunächst nicht wie, seinem obersten Herrn und Richter der Welt zu gefallen. Da kam ihm die Aufklärung gerade recht, die Haskala, der Verstand, die Ausbildung des Wissens, ein erneuerter Bund des Wortes, «Brit Mila», ein Heilsversprechen in der wirklichen Welt, die Posaunen und Orgeln des Spiels der Antworten und Fragen, des Heilsversprechens in seinem unaussprechlichen Namen, den man nicht für seine nichtswürdigen Geschäfte missbrauchen sollte.

Schon Herz’ Vater Dov hatte die Schule seiner jüdischen Gemeinde finanziert. Die Schüler wurden in allem Wissen der Welt geschult und auf Kosten der Familie Beer verköstigt. Herz aber liess auch Mädchen unterrichten. Die gescheitesten und hübschesten jüdischen Töchter, ob arm oder reich, ob verwaist oder nicht, wurden im Hause Beer aufgenommen. Bis ins heiratsfähige Alter durften sie in seinem Mädchenheim in die Schule, dann wurden sie versehen mit einer guten Mitgift per Postkutsche an ihren Zukünftigen versendet.

Cerf Beer verschickte lebendige Duftpakete, den betörenden Duft der aufklärerischen Ideen verpackt als wunderhübsches Geschenk, jede Braut ein Versprechen und Verpflichtung, eine Mitzwa. In seinen Träumen tanzte Herz mit der Braut Salomons, der besten Braut, in ihrer Schönheit vielfältig wie die Welt. In seinen Armen verwandelte sie sich in die geschmückte Torarolle, ein sinnliches Erlebnis, das sich verflüchtigte, aber insgeheim, wie ein transzendenter Duft, seine Tage beflügelte.

Herz Cerf Beer war kein ansehnlicher oder gar stattlicher Mann. Die vielen Verbeugungen nach allen Seiten, vor jedem Mann oder Frau von Stand, und bis in die tiefsten Niederungen des Adels, schienen sich seiner freundlichen Erscheinung bemächtigt zu haben. Das Bild Cerf Beers zeigt einen imposanten Buckel und eine grosse Nase. Sie steckte nicht nur in den Büchern, sondern führte ihn durch die ganze Welt. Aber wenn sich das häusliche Tor bei seiner Heimkunft wieder öffnete, zog der Duft der gescheiten schönen Töchter Beers gräuliche Gestalt hinein und verwandelte ihn in einen farbigen Vogel, der strahlende Freude und Heiterkeit verbreitete.

In der Arbeit, in der Musik, im gemeinsamen Gebet und Gesang, und im durch eigenen Verstand gewonnen Wissen stärkten er und die Seinen das Vertrauen in ihren allumfassenden Gott, jeden Tag.

Die Nase Beers war Ziel des öffentlichen Spotts, sein Judentum war Vorwand, aber Angst, Neid und Bosheit waren Grund für Nachstellungen und Intrigen. Jüdische Nasen sollten sich nicht unter anständige christliche Nasen mischen dürfen. Der «königlich gesalbten Nase» sandten sie das Spottgedicht «a una nariz» des Spaniers Franzisco de Quevedo. Das Beer von einem taubstummen Boten überbrachte kunstvoll verpackte Geschenk des Unbekannten enthielt nicht nur die böse Schrift gegen Juden, sondern auch eine mit Exkrementen gefüllte Schweinsnase. Die Frauen und Mädchen des Hauses Beer übertrafen sich in ihren Versuchen, die verletzte Seele ihre Hausherrn zu besänftigen. Beer kannte das Böse, er sah es in den Menschen, aber er glaubte an keinen Aberglauben im Namen eines Todesengels genannt «Malach Hamawet».

Nasen-Probleme waren noch das Geringste. Pogrome in Zfat in Judaea, in Polen und der Ukraine, Brandschatzung und Krieg; nicht nur Juden, überall auf der Welt litten Menschen Not, Schreckensnachrichten aus der ganzen Welt erreichten das Haus Beer im gleichen stetigen Strom der Neuigkeiten, die Nachricht über Preise oder Knappheiten von Gütern brachten.

Der französische König Louis XVI verlieh dem tüchtigen Ausrüster seiner Armee das Bürgerrecht. Herz Beer, der erste jüdische Bürger Frankreichs, setzte sich sein Leben lang für die Gleichstellung aller Juden in Frankreich ein.

Der Neid der feinen Herren in der grossen Satdt spannte Intrigen gegen den reichen Juden. Er wurde eines falschen Handels bezichtigt und sogar in Haft genommen. Bei dieser Gelegenheit wurden ihm die Finger der linken Hand gebrochen und er konnte nie mehr Cello spielen. Der Schutz des Königs war nicht mehr übermächtig.

Herz Beer liess sich nicht beirren. Er freute sich an seinen Büchern und am jungen Leben in seinem Haus. Einen lebendigen Duft konnte niemand besitzen; seine Essenz hätte sich für immer verflüchtigt. Beer finanzierte sein jüdisches Mädchenpensionat, und jedes Mädchen erhielt eine Aussteuer. Als wohldotierte, verpflichtende Pakete sendete Herz Beer von Hoffnung und Verstand beseelte Bräute an seine jungen Partner in alle Länder Europas.

Im Getuschel der behüteten Mädchen seines Heims nahm Herz selbstverständlich den ersten Rang unter allen Männern ein. Er war die Quelle des Wissens an seinem Tisch, aus seinen Büchern lernten sie. Seine Ideen und Visionen weckten die Begierden der Mädchen; würden ihre Zukünftigen, würde das Leben, sie stillen können? Nachrichten und Gerüchte über schon verschickte Ehemalige des Hauses Beer versprachen alles, Gutes und Schlechtes, Kinder und Segen, wie immer er aussehen mochte. Das Schicksal in der Welt draussen sickerte tröpfchenweise in die Herzen der Mädchen des Heims, welches Teil des Hauses Beer war. Was zu Frauen herangewachsenen jüdischen Töchtern widerfahren konnte, blieb den Mädchen nicht verborgen, auch wenn es in Bruchstücken von verschämten Erzählungen und meist nur in geheimen Kommentaren deutlich wurde.

Die Träume, Wünsche und Ängste waberten hin und her, geflüstert und sogar in geschriebenen geheimen Zeilen. Und der geheimste Traum noch jeder jüdischen Tochter war es doch, dass sie den Kommenden gebären wird, den Menschen, der das Heil der Welt bringt, gerade wo Gott so wenig fassbar und abwesend erschien in dieser schwierigen Welt einer jungen jüdischen Frau.

Der französische König Louis XVI verlieh Cerf Beer, dem Ausrüster seiner königlichen Armee, das Bürgerrecht lange bevor ihn die ausser Rand und Band geratene Revolution unter die Guillotine warf. Beer, der erste jüdische Bürger Frankreichs, setzte sich sein Leben lang für die Gleichstellung aller Juden in Frankreich ein. Er entging der Guillotine, war erfolgreich in seinem Lebensanliegen, aber er zerbrach daran. Das böse Bild seiner jüdischen Nase überlebte in Literatur und Hasspropaganda.

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