Rache des Vaters

Soweit hätte alles noch gut kommen können. Aber weitere Schwierigkeiten zeigten sich schon bald.

Die Chefin des anderen Scherer’schen Hauses, des Hauses auf der anderen Seite des gedeckten Brückchens, wollte Ida bald zeigen, wer hier das Sagen hat. Ida war ihr ins Gehege geraten, ohne es zunächst zu merken.

Frau Beerli hatte nämlich nicht nur die fast erwachsene Tochter Hildi, sondern eine noch etwas ältere Tochter aus einer früheren Beziehung. Das konnte Ida nicht wissen. Diese Yvonne weinte eines Nachts fürchterlich. Lauthals rief sie vor dem Mühlesteg eins nach ihrer Mutter und nach Hildi, bis Ida nachschauen ging und eine schwer verprügelte, junge Frau vor ihrer Haustüre fand, übers ganze Gesicht verschmiert mit Blut, Tränen, Rotz und Kajal, in verrissenen Kleidern, die sofort erkennen liessen, dass sie wohl zum anderen Scherer’schen Haus gehörte.

Ida öffnete und Frau Beerli nahm ihre Tochter zu sich hinauf nach Hause. Als das ganze durch den Lärm auf den Treppen versammelte Haus der Frauen sich endlich wieder schlafen gelegt hatte, polterte es an der Haustüre. Es war der grobe Gustav. Er verlangte, dass Fleure, das sei die Yvonne Beerli, sofort wieder in das Puff zurückkehre, wo sie hingehöre. Die Chefin habe es befohlen.

«Welche Chefin», wollte Ida wissen.

«Hier bin ich der Chef, und Du kannst dieser Frau ausrichten, dass ich es nicht toleriere, wenn Frauen in unseren Häusern so verprügelt werden.»

«Das werden wir ja sehen», meinte Grobgusti darauf und zog «Heilanddonners Nom de Dieu» fluchend von dannen. Der grobe Gustav war einer aus unserer Stadt, aber er sammelte Flüche, egal ob von Bern, Basel oder aus Frankreich, so wie andere Männer Briefmarken, Frauen oder Hosenknöpfe sammelten.

Eveline Gygax, die Chefin des Puffs im anderen Haus des alten Scherers kam am nächsten Morgen höchstselbst an den Mühlesteg eins, elegant aufgetakelt und gerüstet wie ein Schlachtschiff, welches es mit jeder Dame vom Sonnenberg der Stadt aufnehmen wollte. Den groben Gusti, der sie am Arm begleitete, hätte man kaum mehr erkannt. Dieses Mal fand er die Glocke und läutete höflich, anstatt an die Türe zu poltern. Ida öffnete und bat die beiden herein, aber schon im Treppenhaus begann die heftige Vorstellung:

«Fräulein Scherer, Sie wissen bestens wer ich bin. Von Ihnen werde ich mir nicht vorschreiben lassen, wie ich meine Mädchen abrichte. Die Fleure gehört mir und Gustav hat sie zu Recht bestraft, wenn sie nicht pariert, wie es sich gehört. Jetzt hole ich sie mir.»

Ida machte nur einen kleinen Versuch, die beiden farbigen Vögel zum vernünftigen Gespräch höflich in ihre Wohnstube zu lotsen. Die Puffmutter hatte eben gerade hinaus erklärt, was sie wollte und versuchte Ida zur Seite zu schieben, um nach oben zu den Beerlis zu gelangen und Yvonne aus dem Bett ihrer Mutter zu zerren. Aber Ida stand höher auf der Treppe und so leicht ist auch an einer jungen Schererin kein Vorbeikommen.

Als sie merkte, dass sie ins Hintertreffen geraten könnte, bröckelte die Fassade des aufgetakelten Schlachtrosses.

«Hört Fräulein Scherer, Sie sind vielleicht hier der Chef, aber auf der anderen Seite des gedeckten Brückchens habe ich das Sagen!»

«Also mit dem Fräulein machen Sie sich nur lächerlich, Frau Gygax. Ich bin ebenso wenig ein Fräulein wie Sie selbst. Aber wer was zu sagen hat in unseren Häusern, werden wir noch sehen! Frau Gygax, Ich muss Sie bitten, mein Haus sofort zu verlassen!»

Da setzten Flüche ein, wie sie nicht einmal Grobgusti gewusst hätte, und die hohen Absätze der Puffmutter klackten auf dem Pflaster und über das gedeckte Brückchen. Noch als sie im Haus verschwunden war, hörte man sie lauthals schimpfen und wettern.

Am Abend erschien der alte Scherer in seinem Haus auf der anderen Seite des gedeckten Brückchens. Die Puffmutter wollte ihn keilen aber geriet offensichtlich an den Falschen. Ida und die Frauen des Mühlesteg eins standen vor der Haustüre und guckten, als die Bordellchefin und Grobgusti ihren Plunder und grosse Koffern auf eine Kutsche packten und in Richtung Bern abreisten, woher Eveline Gygax ursprünglich stammte.

Und immer noch standen und schauten sie hinüber als der alte Scherer kurze Zeit später aus dem anderen Haus über das gedeckte Brückchen zu seiner grossen Kebsfamilie kam. Ida umarmte ihren Vater. Sie trug dabei auch ihre kleinen Kinder und drückte nun alle drei ganz fest. Der alte Scherer machte sich los. Er hielt seine Tochter etwas von sich, blickte sie fast neugierig an und sagte so, dass alle es hören mussten:

«Jetzt bist Du die Chefin beider Häuser, hörst Du!»

Bald verkündete auf der Oetenbachseite des gedeckten Brückchens eine nachts elektrisch beleuchtete Schrift mit roten Buchstaben offiziell, in welchem Haus sich die Rache des Vaters befindet. Die meisten dachten wohl an eine andere Form der Rache oder hatten sonst etwas im Sinne, wenn sie dort ins Puff gingen. Und überhaupt: Wer rächte sich da an wem?

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