Täglicher Konsum von Opioiden, wie Heroin, Morphin, Methadon, Codein oder Subutex, erzeugt eine Opioidabhängigkeit. Die Opioidabhängigkeit hinterlässt fast immer eine bleibende Narbe. Aber diese ist meist grösser als die Narbe der Sucht von irgendeinem anderen Suchtmittel, ja oft auch viel grösser als die Narbe von Alkoholsucht. Es lohnt sich, genau hinzusehen, welchen Preis diejenigen zahlen, welche sich aus dieser Sucht befreien möchten. Die Heroinsucht ist einerseits exemplarisch für die Korrumpierbarkeit und für die Flexibilität des am Belohnungssystem hängenden Säugetierdaseins. Heroinsucht ist andererseits auch speziell, weil sie meist eine besonders deutliche Spur der Verwüstung im Gehirn des Menschen hinterlässt und meist nicht überwunden werden kann.
Im menschlichen Körper gibt es viele Nervensysteme, welche wesentlich durch Opioide gesteuert werden: Wärme- und Kälte-, Schmerzempfindung, Hunger, Darmtätigkeit, Wachheitsgrad, Angst, Euphorie, Depression und sexuelle Lust. Jede Freude und jedes Leid und vieles mehr sind opioidabhängig.
Alle Opioidrezeptoren tragenden Zellen passen sich einer andauernden Opioidwirkung an. Die Wirkung täglichen Konsums von Heroin oder von Methadon wird schon nach wenigen Tagen schwächer. Für dieselbe Wirkung muss die Dosis erhöht werden. Der Körper wird tolerant. Jede einzelne Opioidrezeptoren tragende Zelle wird tolerant; sie reagiert nicht mehr so stark. Die Verbindungen zu anderen Zellen werden entsprechend neu aufgebaut oder verringert.
Wenn kein Heroin oder Methadon mehr eingenommen wird, kommt der Körper auf Entzug. Das akute Entzugssyndrom dauert mindestens drei Tage: Breite Teller, das sind grosse Pupillen, Niessen und das Erwachen sexuellen Verlangens kündigen den Beginn des Entzugs an. Weniger angenehme Symptome setzen auch bald ein: Zittern, motorische Unruhe, Durchfall, Bauchkrämpfe, Schmerzen am ganzen Körper, Herzrasen, Angst und tiefste Verzweiflung, dass das nie ein Ende nehmen wird. Im akuten Entzug erwarten die opioiden Nervenzellen Heroin, aber es kommt nicht mehr. Die Nerven sind im Entzug für Opioide überempfindlich, da sie hohe Dosen gewohnt sind. Die körpereigenen Endorphine können die ausbleibende regelmässige Zufuhr von Opioiden nicht genügend kompensieren. Alle Entzugssmptome lassen sich so erklären: Kältegefühle, Zittern, kalter Schweiss, Der Cold Turkey wird durch überempfindliche opioidabhängige Nervenzellen im Hypothalamus über den Hirnanhangsdrüsen ausgelöst, Angst und Depression in der Amygdala und im Hippocampus. Die Schmerzempfindung wird an vielen Stellen, vor allem im Gehirn und Rückenmark durch Opioide reguliert; die entsprechenden Nervenzellen sind im Entzug überempfindlich und darum tut alles weh. Die ausgedehnten opioidabhängigen Nervennetzwerke im Magendarmtrakt werden im Entzug überempfindlich und verursachen dadurch Durchfall und Krämpfe.
Das chronische Opioidentzugssyndrom ist weniger bekannt aber eine ganz offensichtlich verbreitete Krankheit. In unserer ärztlichen Praxis sahen wir wohl mehr als hundert Fälle. Andauernde schwerste Schlafstörungen, Unruhe, Getriebenheit, ständiges Frösteln, Durchfall, Reizdarm, schwere und schwerbehandelbare Depressionen. Alle vom akuten Entzug auftretenden Beschwerden können einzeln oder kombiniert über Monate und Jahre der Opioidabstinenz anhalten und nie mehr verschwinden. Meistens leiden diese Menschen nur an einem oder wenigen dieser Symtome. Am häufigsten beobachtet man in diesen Fällen die Symptome der Fibromyalgie: Schmerzüberempfindlichkeit der Glieder, Muskeln und Knochen. Die meisten Patienten leiden so stark, dass sie wieder mit Heroin oder sonstigem Opioidkonsum beginnen.
Es ist keine moralische Schwäche, welche abstinente Opioidabhängige immer wieder zum Opioidkonsum zwingt. Nach dem Opioidentzug können sich nicht alle neuronalen Netzwerke wieder so wie vor der Sucht einstellen. Zwar passen sich die meisten Opioid empfindlichen Zellen der verminderten Opioidzufuhr in wenigen Tagen wieder an, aber nicht alle. Aber der Thermostat, der Temperaturregler und die anderen Regelsysteme können sich oft nicht vollständig wieder auf Normal stellen. Nur ein Teil der von der Heroinsucht verursachten Veränderungen ist reversibel. Es bleibt eine Art innere Narbe: das chronische Opioidentzugssyndrom.