Staatsversagen gegenüber Covid-19?

22.11.20/ASe: Anfang November 2020 sind wir haarscharf an einer katastrophalen Überlastung unseres Gesundheitssystems vorbeigeschliddert. Die Fallzahlen von Covid-19 verdoppelten sich in der Schweiz fast wöchentlich. Hätte sich unser Hygieneverhalten erst zwei oder drei Tage später geändert, wäre die schiere Zahl der Erkrankten medizinisch nicht mehr angemessen zu versorgen und zu bewältigen gewesen. Noch zwei oder drei Tage mit zusätzlichen Zehn- oder gar mehr als zwölftausend Fällen hätte die Schweiz nicht mehr verkraftet. Wir haben Glück gehabt.

Wir beklagen das Versagen von Behörden und Politik. Aber kritisieren wir mehr als Oberflächlichkeiten und Kleinigkeiten  im Getriebe von Behörden und Verwaltung? Wir schwelgen in Vergleichen zwischen Ländern mit unterschiedlichen Massnahmen, deren Wirkungen in so verschiedenen Kulturen nicht ohne weiteres klare Handlungsmöglichkeiten für unser Land aufzeigen. Kein Epidemiologe kann die Effekte von Verboten im Coiffeursalon, Restaurant oder beim Sportanlass detailliert abschätzen. Schon der durchschnittliche Appenzeller reagiert auf den gleichlautenden behördlichen Erlass anders als die meisten Basel-Städter.

Sobald die R-Zahl über den Wert 1 ansteigt, beginnen die Infektionszahlen exponentiell zu steigen. Das Justieren und Feintuning der Massnahmen um die Reproduktionszahl von Covid-19 unter dem Faktor 1 halten zu können, kann sich nicht auf allseits gesicherte Zahlen und Zahlenmodelle stützen. Die Steuerbarkeit ist eine Fiktion, welche mit uns allen spielt. Und doch ist das Jo-Jo zwischen Lockdown und Normalität kaum erstrebenswert.

Forward- und Backward-Tracing werden nur dann dauerhaft genügend wirksam, wenn sie in wenigen Stunden jede Zielperson erreichen und isolieren können. Aber werden wir uns die dabei notwendigen Einschränkungen unserer Persönlichkeits- und Datenrechte gefallen lassen? Sicherheit und Freiheit sind bei Covid-19 meist gegensätzliche Ziele. Wie können nachhaltige Massnahmen gestaltet werden, dass wir sie als Gesellschaft auch das ganze nächste Jahr durchhalten können? Stellen wir noch die richtigen Fragen?

Der Nebel der Unwissenheit über SARS-CoV2 ist geringer, und die mittelfristige Sicht über einen Zeithorizont von einem Jahr ist etwas klarer geworden. In einigen Monaten können wir mit einer hochwirksamen, sicheren und in grossen Mengen praktikablen Impfung rechnen. Schon wird vollmundig der Sieg über Covid-19 versprochen. Es gibt noch offene Fragen. Die Wirksamkeit erst eines der Impfstoffe wurde auch an mehr als 65 Jahre alten Probanden und an Probanden mit Risikofaktoren überprüft. Risiken und schwere Nebenwirkungen, welche nur bei jedem Hunderttausendsten Impfling auftreten, werden erst erkennbar, wenn der Stoff einer Million Menschen verabreicht worden ist. Schnell wird das pandemisch, weltweit, verbreitete Corona-Virus nicht verschwinden. Einschränkungen unseres sozialen Verhaltens werden darum auch in der Schweiz mittelfristig und vielleicht sogar über das Ende des kommenden Jahres hinaus notwendig sein.

Werden 60, 80 oder über 90 % der Menschen geimpft sein müssen, damit wir Herdenimmunität erreichen? In einer Gesellschaft ohne weit verbreitetes Händewaschen und Maskentragen ist SARS-CoV-2 ein hochansteckendes Virus, vergleichbar mit Masern. Bei Masern müssen mehr als 90% der Menschen geimpft sein, damit sich keine Infektionsherde verborgen halten und für immer wieder neue Ausbrüche sorgen können. Masern hat eine R-Zahl über 10, der durchschnittliche Erkrankte infiziert mehr als 10 weitere Menschen. Aber wir alle haben gelernt, dass diese R-Zahl variabel sein kann, wenn wir unser Hygieneverhalten anpassen. Wenn wir Hände waschen, Masken tragen und angemessene Distanz halten, wird die Impfung schon dann gesamtgesellschaftlich sehr wirksam sein, wenn erst weniger als die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist. Wie wird sich die Bereitschaft sich so einzuschränken verändern? Wie gross wird der Druck auf unsere Impfbereitschaft werden? Die Forderung nach Impfzwang birgt sozialen Sprengstoff.

Langfristig muss sich die Menschheit auch gegen kommende, weit schlimmere mögliche, Pandemien wappnen. Fernreise- und Flugverkehrs-Industrie müssen sich grundsätzlichen Fragen stellen. Ihre ganze Dimension, und nicht nur die Hygiene während der einzelnen Reise, stehen zur Debatte. Sind Massentourismus und Billigpreise mit den Notwendigkeiten der Pandemievorsorge in Zukunft noch kompatibel? Eine unregulierte globale Wirtschaft gibt es nicht. Aber wer legt die Regeln fest?

Meines Erachtens zu Recht wurde China zu Beginn der Pandemie kritisiert. Der politisch motivierte Kontrollwahn und die Repression missliebiger Meinungen waren initiale Quelle des Staatsversagens gegenüber SARS-CoV-2. Dieselbe Gängelung von Untertanen konnte aber durch rigorose Freiheitsbeschränkungen das Virus auch wieder unterdrücken. Es ist durchaus denkbar, dass China einen internationalen Druck aufbauen wird, der weltweit eine SARS-CoV-2-Eradikation erzwingen will. Könnte sich die Schweiz diesem Druck entziehen? Wie kann die Schweiz dann einen illiberalen Impfzwang vermeiden, wenn wir diese Diskussion jetzt nicht einmal Schweiz weit und um einen Konsens bemüht führen?