Covid, Aids und Masern: Sicherheit first?

23.11.20/ASe: In der Schweiz haben sich während des Corona-Lockdowns ein Drittel weniger Menschen mit HIV, dem Erreger von Aids, angesteckt. Die Menschen haben sich weniger oft in Clubs, Bars und auf Partys getroffen und weniger neue sexuelle Bekanntschaften gemacht. Der Sprecher der Aids-Hilfe Schweiz spekuliert schon, ob der Effekt nachhaltig sein könnte, da die meisten Neuinfektionen durch erst vor kurzem infizierte Personen weitergetragen werden. Der Trend zu immer weniger HIV-Infektionen könnte eine deutliche Treppenstufe tiefer langsam weitersinken. Auch bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Chlamydien, Gonorrhoe und Syphilis müsste sich dieselbe Entwicklung zeigen.

Unbeabsichtigte, aber erwünschte Effekte von allgemeinen Hygienemassnahmen wie Händewaschen, Maskentragen und sozialer Distanz ohne Händeschütteln und Umarmungen können möglicherweise auch bei vielen anderen ansteckenden Krankheiten zu beobachten sein. In Labors werden wegen Covid-19 mehr allgemeine Suchtests auf Erkältungsviren durchgeführt, Erkrankungen werden aber eher weniger festgestellt.

In den Grippe-Monaten in Australien wurden heuer 50 bis 500-mal weniger Influenza-Fälle registriert wie im vergangenen Jahr. Die neuseeländischen Allgemeinärzte haben in den kalten Sommermonaten 2020 sogar keinen einzigen Influenza-Fall in ihren Praxen entdeckt. Neuseeland hat allerdings mit rigorosen sozialen Einschränkungen auch jede Ausbreitung von SARS-CoV-2 unterdrückt.

Wegen Covid-19 scheint die Schwelle für ärztliche Untersuchungen bei Erkältungen gesunken. Schon im Sommer registrierte die Influenza-Überwachung in der Schweiz deutlich mehr grippeähnliche Erkrankungen als sonst. Aber das sind meist nur gewöhnliche Schnupfen oder tatsächlich SARS-CoV-2. Bisher werden in der Schweiz und in Europa praktisch noch keine Influenza, die eigentlichen Grippeviren, festgestellt.

In den vergangenen Jahren wurden weltweit und gerade auch in Europa wieder mehr Maserninfektionen und eigentliche Seuchenherde beobachtet. 2019 war ein besonders schlechtes Jahr. Das Ziel der WHO, Maserviren weltweit auszurotten war in die Ferne gerückt. Ich bin gespannt, welche Effekte die SARS-CoV-2-Pandemiemassnahmen auf die Masernzahlen von 2020 haben werden. In den USA sind bis Mitte Oktober 2020 nur zwölf Masernfälle gemeldet worden; verglichen mit den über zwölfhundert Fällen im Jahr 2019 wäre dieser Rückgang sensationell. Die Eradikation der Masern könnte wieder in den Bereich des Erreichbaren rücken. Keine Frage, dass wir das wollen. Wirklich keine Frage?

Denken wir das Ganze noch weiter. Hygiene-Massnahmen werden durch die Corona-Pandemie in einem Ausmass selbstverständlich werden, welches bis eben undenkbar schien. Wegen HIV und Aids haben Zahnärzte auch hierzulande begonnen, mit Schutzbrille, Maske und Gummihandschuhen zu arbeiten. Die Hygienemassnahmen der Zahnärzte sind infektiologisch eher übertrieben; vor der Mitte der 80-er Jahre wäre uns ein solcher Zahndoktor schlicht lächerlich vorgekommen.  2020 tragen Zahnärzte wegen SARS-CoV-2 doppelte Masken. Gegen andere Kulturen in Asien und sogar Nordamerika hegten wir den pauschalen Verdacht der paranoiden Bakteriophobie; diese Zeit ist noch gar nicht so lange her. Obwohl wir wissen, dass überbehütete Stadtkinder einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, eine Allergie zu entwickeln, lassen wir sie nicht präventiv Dreck fressen.

Sicherheit und Freiheit sind über weite Strecken krasse Gegensätze. Wenn wir im Zweifel immer für mehr Sicherheit plädieren, werden wir schleichend immer mehr Freiheit verlieren.

«Meh Dräck» oder «Im Minimum än Gummi drum»? Gut begründete Massnahmen und Verhaltensweisen wurden wegen Aids bald weithin befolgt. Riskantes Sexualverhalten ist unerwünscht, aber die homosexuelle Emanzipationsbewegung und eine auf Schadenminderung ausgerichtete Drogenpolitik haben moralisierendem Stigmatisieren erfolgreich die Stirn geboten. Im Zeitalter von HIV haben wir uns als Gesellschaft auf vernünftige Grenzen, Regeln und Einschränkungen geeinigt – das ist der heutige Konsens. Schreitet  der «Prozess der Zivilisation» ohne Bewusstsein weiter voran? Corona hat schon so viel, was nur als dystopische Science-Fiction denkbar schien zu Normalität werden lassen. Führt uns der Weg schleichend zu abgekapselten Einzelwesen in virensicheren Gummihüllen mit sicherer Luft in virtuellen Welten?