Sucht ist zutiefst menschlich

Siechtum und Sucht standen im Gegensatz zum Heil und Heiligen. Das Schlechte und Böse in den Wörtern Sucht, Seuche und Siechtum durchdringt noch heute die meisten Verwendungen.

Sucht ist in unserer Biologie nicht vorgesehen. Erst der Mensch kann eine süchtige Situation schaffen und das Belohnungssystem korrumpieren. Erstmals in der neolithischen Revolution, vor über 10‘000 Jahren, hat der Mensch Voraussetzungen für Süchte geschaffen. Erstmals wurde Getreide domestiziert und in grösseren Mengen verfügbar. Schon damals mussten für den Bau der riesigen Tempelanlage in Göbekli Tepe in Südostanatolien viele Menschen nicht nur ernährt, sondern auch motiviert werden. Ob dies Götter allein schafften? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dort auch rauschende Feste mit Bier gefeiert wurden. Vielleicht war das Brauen von Bier am Ende des Neolithikums für die Menschen zunächst wichtiger als das Backen von Brot.

Vielleicht ist Getreide auch nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern das erste Suchtmittel, welches den Menschen abhängig machen konnte. Vielleicht hat auch nicht der Mensch das Getreide domestiziert, sondern umgekehrt, hat das Getreide den Menschen in abhängige Knechtschaft genommen und zur Arbeit im Schweisse seines Antlitzes verdammt.

Aus zuckerhaltigen Körnern und Früchten aller Art lernten Menschen in den vergangenen Jahrtausenden viele weitere alkoholische Getränke zu brauen: Bier, Wein und Beerenschnäpse. Mehr als nur gelegentliches exzessives Saufen war im alten Ägypten, Babylon oder China nur selten möglich. Der alkoholkranke, süchtige Säufer ist erst in den letzten 250 Jahren ein massenhaftes Phänomen geworden.

Agrarische Gesellschaften entdeckten auch andere Rauschmittel. In schweizerischen Pfahlbauten fanden Archäologen 6‘000 Jahre alte Spuren von Mohnanbau. Auch Hanf wurde hierzulande schon seit Urzeiten angebaut. Warum wohl werden traditionelle Appenzeller Pfeifchen mit einer Unterpfanne konstruiert? Die Knechte konnten damit gefahrlos das billige Hanf rauchen, ohne dass Glusen ins Heu fallen.

Coca und Tabak waren in den agrarischen Gesellschaften Amerikas schon viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäischen Kolonisatoren bekannt und verbreitet. Süchtiger Konsum entstand aber erst mit der intensiveren Bewirtschaftung dieser Pflanzen durch die Kolonisation.

Der Rausch ist ein uraltes Bedürfnis und Phänomen, eine anhaltende Sucht ist neu in der Menschheitsgeschichte. Bis vor kurzer Zeit konnten nur wenige Menschen süchtig werden. Erstmals im 18. und 19. Jahrhundert wurde eine erkennbare Zahl von Menschen von Suchtmitteln abhängig. Erst in der industriellen Revolution wurde ein erheblicher Teil der Menschen zu andauernden Säufern. Sklaven aus Afrika ermöglichten eine billige agrarische Massenproduktion: in Zentralamerika wurde Zuckerrohr angebaut. Übergewicht wurde erst damals, und zuerst nur für wenige Reiche zu einer tödlichen Krankheit; frühere Menschen waren ausschliesslich an Unter- und nicht an Überernährung gestorben.

Chemie und andere wissenschaftlich-technische Fortschritte produzierten seit 150 Jahren neue und wirksamere Suchtmittel. Aus Opium, mehr oder weniger synthetisch, werden Opioide wie Heroin und Methadon gewonnen. Aus der Coca-Pflanze wird Kokain und aus Tabakblättern Nikotin extrahiert.

Die heutige Vielfalt an Suchtmitteln ist ein Phänomen der allerneusten Zeit. Noch in der Zeit meiner Kindheit war nur eine Minderheit der Menschen abhängig von einem Suchtmittel. Heute ist fast jeder in irgendeiner Weise süchtig. Uns alle hat das Internet am Wickel: Google, Microsoft, Facebook und WehwehwehPunktWie immer sie alle heissen mögen, wissen genau, was wir suchen, mögen und liken. Sie verlinken sich mit unserem intimsten System, dem Belohnungssystem.

Unser säugetierhaftes Belohnungssystem wird im konsumistischen Zeitalter auf allen Kanälen korrumpiert. Die industrielle Produktion von Gütern und Dienstleistungen bedient heute alle Bedürfnisse, Ziele, für welche unsere Vorfahren noch harte Anstrengungen auf sich nehmen mussten, und welche doch oft unerreichbar blieben. Nahrung, Trank, Wärme, Schmerzlinderung, Sex, Nervenkitzel, was immer sich auch frühere Menschen schon wünschten, ist heute für eine grosse Zahl von Menschen in einem bis vor kurzem unvorstellbaren Übermass erreichbar.

Gegenüber dem Mangel ist ein kapitalistisches einem planwirtschaftlichen System in der Allokation von Gütern und Dienstleistungen überlegen. Unsere Gesellschaft muss aber dem Individuum helfen, mit einem Überfluss an Möglichkeiten klarzukommen. Suchtfreiheit oder gar Sündenfreiheit? Der Klimawandel und Pandemiegefahren könnten zu einer Verzichtkultur führen, die Abstinenzforderungen gegenüber Sucht so grundlegend übertreffen, wie die mittelalterliche Forderung nach Sündenfreiheit, Reinheit.

Sucht ist das korrumpierte Belohnungssystem. Der direkte Zugang zum Schalter der Dopaminausschüttung. Nicht nur Junkies, jederman und jedfrau stehen heute täglich vor der Aufgabe, mit diesen süchtig machenden, immer vorhandenen Angeboten umzugehen. Wir alle können nicht mehr vollständig widerstehen. Wie sollten wir das auch können? Sind doch unsere Grundbedürfnisse durch das Belohnungssystem und die widerständigen Anforderungen der Umwelt, die Knappheit der Güter, reguliert. Jetzt sind sie der Hebel, mit dem die industrielle Produktion uns über das Belohnungssystem steuert. In unserer Entwicklungsgeschichte gleichen wir Menschen seit kurzer Zeit immer mehr der Ratte im Olds’schen Selbstreiz-Versuch: Die Ratte reizt am Schalter seinBelohnungssystem an der Basis des Grosshirns bis zur Erschöpfung.

Der Verstand, das Ich, unser Wahrheitsorgan, der Ort an welchem wir unsere Entscheidungen treffen, ist engstens mit unserem säugetierhaften Belohnungssystem verbunden. Wir haben eine Wahl, welchen Reizen wir gestatten wollen, unsere Entscheidungen in welchem Ausmass zu prägen. Aber unsere Wahlmöglichkeiten sind immer beschränkt und immer gefährdet. Unser Problem gleicht dem Märchen von Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf zu ziehen vermochte.

Sigmund Freud hat schon 1917 festgestellt, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. Weit über Freuds Erkenntnisse hinaus, geraten das Subjekt und damit der liberale Humanismus, welcher den Menschen, jeden einzelnen von uns, ins Zentrum der Welt stellt, auch ideologisch immer mehr unter Druck.

Ich meine, dass sich zwischen Subjekt und Objekt immer und jederzeit ein Spalt der Freiheit öffnet. Bevor diese Lava der Freiheit steinhart erstarrt, müssen wir unsere Chance immer wieder nutzen. Das gilt für das Individuum und für die Gesellschaft, jeden Tag, jeden Moment und immer wieder!