Zornesausbruch wegen Corona

Lieber Andre, liebe Freunde,
Für meinen Zornesausbruch möchte ich mich entschuldigen. Wut bringt nix. Und ich will auch nicht recht haben. Ich würde es nie wagen, jetzt die aktuelle Arbeit des BAG, der Ärzte und des Medizinpersonal an der Front zu kritisieren. Im Gegenteil: Nach meiner laienhaften, subjektiven Meinung macht Ihr alle einen ganz schwierigen und ganz tollen Job. Auch der Bundesrat tritt kompetent und überzeugend auf.
Aber diese Krise zeigt brutal auf, dass irgendetwas in unserem Sicherheitsdispositiv für die Bevölkerung total schief gelaufen ist. Wenn wir analysieren, WAS schief gelaufen ist und WER Fehlentscheidungen getroffen hat, können wir vielleicht lernen, auf kommende Krisen besser zu reagieren.
Meine brennende Frage an Euch alle:
Wie konnte es soweit kommen in einem der reichsten Länder der Welt und unserem exzellenten Gesundheitssystem?

Lieber Urs,
Ja Du hast Recht, dass die Pandemie-Strategie grundlegend überdacht werden muss. Und ja Du hast Recht, es ist so schwierig Wut und Hilflosigkeit auszuhalten. Als Arzt musste ich das lernen, und es entspricht auch heute noch, nach 40 Jahren, gar  nicht meinem Naturell, Salut Copain!
Lagebericht heute: Das Institut medizinische Virologie UZH konnte durch Inbetriebnahme einer neuen Roche-Maschine die Testkapazität für Corona (SRS-CoV-2 PCR) massiv aufstocken. Am Wochenende konnten alle ausstehenden Testproben verarbeitet und mitgeteilt werden. Heute Morgen hatte ich an der Hotline nur noch wenige Resultat-Nachfragen. Es war ruhig. Auch die Teststrategie in den Spitälern wurde geändert. Heute Morgen waren nur 200 SARS-CoV-2-Test eingeschickt worden. Es werden nur noch die Tests gemacht, welche praktische und unmittelbare medizinische Konsequenzen haben: Muss der Patient in Quarantäne bleiben, kann er ein Bett frei machen und weniger isoliert, weniger aufwändig betreut werden, etc.
Pandemie: Diese Woche und vermutlich noch bis Mitte nächster Woche werden die Fallzahlen unvermindert exponentiell weiter ansteigen und sich alle 3-4 Tage verdoppeln. Danach werden die Auswirkungen der Massnahmen und Verhaltensänderungen sichtbar. Seit einigen Tagen steckt eine infizierte Person vermutlich (begründete Hoffnung ist angebracht) deutlich weniger als 1 weitere Person an. Zwei bis drei Wochen nach Infektion sind geheilte infizierte Personen nicht mehr ansteckend. Die Zahl der Neuinfektionen wird möglicherweise im Mai so gering sein, dass wir dann auf eine Containment-Strategie der Isolierung und Eindämmung umschalten können. Dann müssen nicht nur durch Bluttests immune Personen erfasst werden, sondern möglichst lückenlos alle Neuinfektionen durch Mund-Rachen-Abstriche. Dann macht auch das Kontakt-Tracing wieder einen grossen Sinn. Eigentlich immer noch ziemlich rigorose, entschlossene Massnahmen werden anhaltend einige Monate und vielleicht noch viel länger notwendig sein. Das SARS-CoV2 wird vor allem durch Impfungen vielleicht einmal ganz ausgerottet werden können.
Kleiner Exkurs: Die Allokation von Mitteln ist im Gesundheitswesen chronisch prekär: Alle wollen immer etwas und noch mehr für ihren Bereich. Ich habe mich vor einigen Jahren sehr über Herrn Daniel Koch vom BAG geärgert, weil er sich gegen die Ausrottungsstrategie der Hepatitis C quer gestellt hat. Die Behandlung der chronischen C-Hepatitis ist sehr effizient aber auch sehr teuer. Für 4-5 Milliarden Franken wäre es mit den damals neuen Medikamenten möglich gewesen, HCV in der Schweiz zu eliminieren. In der Zwischenzeit hat HCV die Schweiz sicher schon 2-3 Milliarden Franken gekostet; die 4-5 Milliardenkosten werden bald einmal erreicht, ohne dass wir HCV eliminiert haben. Meine Wut ist schon noch da; es waren meine Patienten betroffen. . HCV fordert in der Schweiz mittlerweile mehr Tote als HIV! Die Schweiz ist Teil der Hepatitis-C-Pandemie. Die weltweite Verbreitung von HCV könnte gestoppt werden. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist positiv zugunsten des Nutzens. Wer bekommt wieviel Geld und andere Mittel für seinen Bereich der Medizin? Warum sollen ausgerechnet die Epidemiologen zu kurz gekommen sein?
Jedes Virus ist anders: SARS-CoV, Mers-CoV und das halbe Duzend anderer Coronaviren, welche den Menschen bekanntermassen befallen, haben unterschiedliche Eigenschaften in der Verbreitung, der Erzeugung von Krankheitssymptomen und bezüglich Todesfällen. Das Testen erfolgt mit heutiger Technik bei einem neu auftretenden Virus mittels der PCR-Technik. PCR weist charakteristische Genpartikel des Virus nach. Die ganze PCR-Test-Maschinerie kann sehr schnell (Tage, wenige Wochen) auf einen neu entdeckten Virus angepasst werden. Serologische Methoden kommen später zum Einsatz und brauchen zur Entwicklung länger. Serologische Methoden weisen Virusbestandteile oder bei einem geheilten Patienten Antikörper gegen das Virus nach. Serologische Methoden sind für einen Schnelltest geeignet. Ein solcher Schnelltest auf SARS-CoV-2 wird vermutlich im Mai Millionenfach produziert werden. Das Kontakt-Tracing und die Abschätzung der Durchseuchung einer Bevölkerung wird dadurch leichter.
Pandemieplan: Ein besserer Pandemieplan hätte es möglich gemacht, die SARS-CoV2-Epidemie in der Schweiz frühzeitig einzugrenzen (Containment). China, Taiwan und Korea scheint dieses Kunststück geglückt zu sein. Mit rechtzeitigen Massnahmen und genügend Mitteln haben sie es anscheinend geschafft, jeden Infizierten und seine Kontakte zu erfassen und unter Quarantäne zu halten. In dieser frühen Phase ist es richtig: Testen, Testen, Testen. Jetzt müssen wir die beschränkten Testkapazitäten auf die klinische Entscheidungsfindung beschränken. Wenn die Zahl der Neuinfizierten abnimmt, werden wir endlich in die Lage kommen, jeden neuen Fall zu erfassen. Dann müssen wir wieder versuchen, alle Infizierten mit Tests zu erfassen, lückenlos. Ein Pandemieplan muss als Stabsübung vorbereitet und durchgespielt werden. Jedem Beteiligten muss seine Rolle schon lange vor Ausbruch der Pandemie klar sein. Die Mängel dieses Pandemiejahres 2020 müssen analysiert werden. Ich bin sicher dass dieses Vorhaben jetzt genügend Mittel erhält. Herr Koch hat Recht, man kann nur das realistisch fordern, was man zu einem gegebenen Zeitpunkt auch erreichen kann.