Die Judenfrage

Sie stellen wieder die Judenfrage, in Bern, in Brandenburg, in Italien, Frankreich, Spanien, lauthals, unverschämt, schamlos, selbstblind, unschuldig, böse, selbstvergessen, hämisch und manchmal gewalttätig. Auch in unserem Jahrhundert steht sie wieder im Zentrum der weltweiten Diskussion.

Die Judenfrage wird schon seit Jahrtausenden gestellt. In der Bibel erscheint sie seit den Kriegen der Israeliten ums gelobte Land gegen die Amalekiter und Jebusiter. Sie wurde zur Kardinalfrage der Moral von Nichtjuden und Juden. Sie ist in jeder Diskussion um Opfer und Schuld präsent, meist unbewusst.

Der Prophet des Islams, Mohammed, stellte die Judenfrage an den Anfang seiner Mission in Medina. In seinen Kriegen machte er die arabische Halbinsel judenrein. Der Islam, nicht nur der Islamismus, ist mit einer grundlegenden Judenfeindschaft verknüpft. In muslimischen Ländern ist das Wort Synonym für alles Übel der Welt. Juden werden keine vollwertigen Bürgerrechte gewährt, in den meisten können sie nicht mehr leben, sie wurden vertrieben oder getötet. Die Hoffnung, Jüdinnen und Juden könnten in einem palästinensischen Staat gleichberechtigt leben, erscheint wenig realistisch.

Jede Zeit und jede Ideologie hat die Judenfrage gestellt, seit dem Foltertod Jesu, seit das Mordopfer eines Juden zum Dreh- und Angelpunkt der christlichen Ethik wurde. Das Kreuz stellt die Judenfrage, wenn Christen das Symbol des zu Tode gefolterten Juden als Bildnis Gottes verehren, das Opfer des Juden in ihrer Messe als lebendigen Leib Gottes verzehren, und sein heiliges Blut in einem kannibalistischen Ritual trinken. Die Judenfrage wird mit tödlichen Folgen gestellt, seit die christlichen Kirchenväter zu den ersten Pogromen aufriefen, und seit der Reformation, welche den Judenhass auf eine sublimere Ebene stellte.

Die Judenfrage ist ein Begriff der Aufklärung. Im 18. Jahrhundert wurde die Lösung der Judenfrage in der Emanzipation und Integration der europäischen Juden gesehen. Im Westen Europas führte die jüdische Aufklärung (Haskala) viele in die Assimilation, die schon zu Ende des 19. Jahrhunderts durch die Dreyfuss-Affäre grundlegend diskreditiert wurde. Im Osten führte sie viele in den Sozialismus und initiierte den politischen Zionismus.

Die Judenfrage durchzieht die ganze Geschichte der Aufklärung und ihr Weltbild. Immanuel Kant wollte nicht wahrhaben, dass sein kategorischer Imperativ und sogar die kritische Vernunft im jüdischen Talmud wurzeln. Wie das Christentum forderte er die Überwindung und sogar die Euthanasie des Judentums. Die Judenfrage hat die Geschichte des Denkens entscheidend befruchtet aber auch pervertiert. Die Idealisten und die Materialisten haben sie diskutiert, Hegel und Marx wollten sie lösen. Hitler beantwortete die Judenfrage mit seiner Endlösung und Stalin stellte die Juden blutig zur Disposition. Die Nationalisten stellen die Judenfrage seit sie sich selbst als Nation entdeckten und die Juden als Läuse im Pelz ihres purpurnen Mantels. Unbekümmert stellen alle die Judenfrage als Lackmus-Test ihrer Ansichten.

Auch die Zionisten rühmen sich der Lösung der Judenfrage, aber schon vor dem grauenhaften 7. Oktober 2023, seit der Gründung ihres Staates, sind in keinem Land der Welt mehr Menschen gestorben, weil sie Juden sind, als in Israel-Palästina. Und das Leid der nicht-jüdischen Menschen ist dort noch um Dimensionen grösser. Die Führer des Staates Israel schreien Nizachon muchlat: Sie fordern den totalen Sieg, ein Schlachtruf zum Endsieg gegen ein hilfloses Volk, welches sich weder gegen seine übermächtigen Feinde noch seine eigenen grässlichen Führer zu wehren weiss. Die Palästinenser sind die Juden der Juden: das ist böse Propaganda und zugleich grauenhafte Realität. Die Kritik am Staat Israel mag noch so berechtigt sein, sie stellt zwangsläufig die Judenfrage und kann sich von seiner judenfeindlichen Geschichte nie reinigen. Es gibt keine vom Antisemitismus absolutierte Position.

Die Judenfrage stellt Jüdinnen und Juden potentiell tödlich in Frage. Aber sie ist implizit oder explizit mit allen unseren Werthaltungen unauflösbar verknüpft. Genau dies ist heute wieder so sichtbar, wie vor bald hundert Jahren. In christlich, islamisch oder durch die Aufklärung geprägten Gesellschaften ist keine Moral möglich ohne ihre Geschichte mit den Juden.

Die Judenfrage ist unlösbar. Sie kann auch nicht durch Sprachregelungen gelöst werden. Die Selbstgerechtigkeit an den Schalthebeln der Macht stimuliert mit ihren geschliffenen philosemitischen Sprüchen und mit Redeverboten genau das, was sie vorgeblich bekämpfen will. Die politische Bewirtschaftung der Judenfrage behindert ihre intellektuelle Durchdringung. Nie wieder, war immer eine verzweifelte Parole. Eine Lösung der Judenfrage kann weder erwartet noch gefordert werden. Sie ist eigentlich keine Frage, sondern eine grundlegende Struktur unseres Denkens, und für Jüdinnen und Juden ist sie eine unlösbare Lebensaufgabe. Die Judenfrage muss nicht gestellt oder beantwortet, sondern gründlich bedacht werden. Das Judentum ist keine Frage, und das Judentum ist auf alle Fälle mehr als die Judenfrage. Tikun Olam: Dein Beitrag zur Verbesserung der Welt ist eine jüdische Forderung an jeden Menschen. Dazu hilft es, zu versuchen, mehr zu verstehen.