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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025
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In Deinen Augen finde ich die ganze Welt, Deine und meine, das Leben und den Tod, Dein Begehren, die Angst, das Glitzern Deiner Lust, Dein Schmerz, die Verzweiflung und Wut, in Deinem Blick finde ich die einzige Hoffnung und die Wahrheit.
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Das Heil der Welt erscheint als Tod des Juden. Der Angelpunkt der christlichen Moral ist der Opfertod des Juden am Kreuz. Aber die Macht Allahs bewies sich schon in der Überwindung, Vertreibung und Vernichtung der Juden durch seinen Propheten Mohammed. Wieder und wieder wird die Judenfrage gestellt, weltweit.
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Es ischt emal xi xi xi, begann der Kleine seine Geschichten. Woche für Woche erzählte er den anderen Kindern, was er in der Schul der Erwachsenen gehört hatte. Er wusste jedes Wort. Er sang den Text des Buches und erzählte, was er verstanden hatte, die wunderbarsten Geschichten. Im Herbst kniete er im Staub der Gasse. Bereschit, am Anfang, schrieb er mit einem Stöckchen. Sorgfältig zeichnete er die Buchstaben. Er blickte nicht auf, aber er sah die zahlreicher werdenden nackten kleinen Füsse.
Als die Kinder sich um ihn versammelt hatten, erzählte der Kleine vom Anfang, wie der Kopf der Unendlichkeit über der Finsternis schwebte und in die tiefsten Abgründe des Tehom hinunterblickte. Und bis zur Unendlichkeit müsstest Du unzählige Leben lang zählen können. Und er erzählte, wie das Licht entzündet wurde: Jehi Or wehaja Or, es werde Licht und es war Licht.
Manchmal schimpfte ein alter Mönch, sie sollten nicht auf einen kleinen Juden hören. Mit seinem Bettelstab schlug er nach den Kindern. Sie lachten ihn aus, rannten davon und versammelten sich woanders. Sie spielten ihr Spiel: Wahrheit oder Hoffnung, eins, zwei, drei.
Verenalin war schon bald kein Kind mehr. Sie trug ein bis zum Boden reichendes blaues Kleid unter dem feine Schuhe sichtbar wurden, weil sie den Saum hochhalten musste, damit er nicht schmutzig wurde. Eigentlich durfte sie nicht mehr mit den Kindern spielen. Zuhause wurde sie geprügelt. Für jedes kleinste Vergehen, das noch nicht einmal eine Sünde hätte sein können, wurde sie getreten und gestraft. Die Welt sei zwei geteilt in Licht und Schatten, Gut und Böse, Himmel und Hölle, Schuld und Sühne, Erlösung und Verdammnis, hatte Verenalin deklamiert, als sie in ihrem Spiel nach der Wahrheit oder Hoffnung gefragt worden war. Der Kleine hatte sie mit offenem Mund angestarrt, dann gelächelt und sie mit seinen blauen Augen verschlungen.
Die Welt sei nicht zweigeteilt, denn Sein Licht sei überall, und auch in der tiefsten und dunkelsten Gruft sei irgendwo ein Hoffnungsschimmer des Lichts. Auch die schlimmste Wahrheit enthalte noch Hoffnung. Da hatte sie ihn auf den Mund geküsst. Das durfte sie nicht. Und sie erklärte dem Kleinen, dass sie ihn auch nie heiraten könnte, da er doch ein Jude sei.
Aber das alles war schon lange her.
Verenalins weit aufgerissene Augen kündigten den unmittelbar folgenden Schrei an: Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten!
Waren da Verfolger? Der Kleine stolperte, weil er sich umgedreht und die Novizin nicht gesehen hatte. Er streifte sie und fiel rücklings. Ein böser Stich durchfuhr seinen Fuss. Im Fallen erkannte er: im Kleid der Novizin steckte Verenalin. Da lag er im schlammigen Dreck und Schweinepisse. Ein kleines metallenes Kreuz steckte in seiner Sohle. Er zog es heraus und liess es fallen. Er blutete. Die Novizin, die Verenalin war, kreischte und schrie erneut: Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten! Die Pest kommt!
Am Vorabend war der Diktator Rudolph Brun in seiner ganzen purpurnen Pracht, mit goldener Wappenkette und aller amtlichen Würde vor das Ratshaus getreten. Zwei Trommler waren auf der Treppe vor dem Tor gestanden, als die Räte der Stadt herauskamen. Mit langsam schneller werdenden Schlägen erzeugten sie auf ihren grossen Pauken Spannung und jeder Schlag war im Zwerchfell zu spüren.
Rudolph Brun selbst hatte ausgerufen und der ganzen Stadt verkündet: Die Juden müssen weg, bevor sie die Pest auch noch zu uns bringen. Tötet sie, verbrennt sie und verbannt sie!
Schon am Morgen hatte das Feuer neben dem Friedhof beim Wolfbach gebrannt. Die Flammen gingen nicht hoch, man sparte mit Holz. Aber in der Glut brannten Moses und Mordechai. Der eine war der Vater und der andere der Onkel des Kleinen. Der eine war aufgespiesst und schon tot; der andere zerrte noch vergeblich an seiner Fussfessel, bis ihn die Hitze in schrecklicher Verkrümmung erstarren liess.
Der Kleine war davongerannt, dem Wolfbach entlang hinunter in die Stadt, schon an der Predigerkirche vorbei, war er fast zuhause, als er mit Verenalin zusammenstiess. Sie kreischte: Der böse kleine Jude trampelt auf das Kreuz! Rettet Euch, die Pest kommt!
Rücklings im tiefen Dreck kroch der Kleine weg von der Nonne, rappelte sich auf und floh. Kaum zwanzig Schritte weiter, um die Ecke, wäre er fast in die Menschen geprallt. Die Menge johlte und warf Steine. Die Juden der Gemeinde wurden aus ihren Häusern gezerrt und in einer Reihe abgeführt. Die Schlinge um ihren Hals zog an den zusammengebundenen Händen im Rücken des Vordermanns oder Frau.
Da war auch die Grossmutter. Ihre roten Haare, die sie in der Öffentlichkeit sonst immer so sorgfältig verbarg, hingen ihr wirr um den Kopf. Das Gewand war zerrissen. Schneeweisse Haut, rote Striemen und blutige Kleiderfetzen auf ihrem Rücken zeugten von Peitschenhieben. Die bis gestern so stolze Frau Minne, Wittfrau des Menachem, war nur noch eine schlurfend mitgezogene Gestalt, eine unter den anderen jüdischen Opfern, die mit hängenden Köpfen hintereinander hertrotteten. Bis gestern waren die Nachbarn meist höflich gewesen. Wer heute in ihre keifenden Gesichter aufsah, wurde geschlagen, oder sonst hart getroffen.
Die Grossmutter hatte ihrem Enkel am frühen Morgen das schwarz gestreifte Tuch mit den weissen Schaufäden umgebunden. Warum durfte er schon sein Gebetsmantel-Tuch anziehen? Seinen neuen Tales sollte er doch erst nächstes Jahr zur Bar Mizwa erhalten. Er hob den Kopf, als sie sich keuchend aufrichtete, um kurz zu verschnaufen. Die Grossmutter erkannte seine nackte Angst. Sie drückte ihn kurz an sich, ihren Kleinen, der schon nicht mehr so klein war. Mit feinen ledernen Riemen band die Grossmutter viele in das Tuch gehüllte, engbeschriebene Blätter Pergament auf seinen Leib, ein ganzes Buch.
Das ist das Wichtigste. Bring es Deinem Vater, sie werden ihn freilassen. Ich habe alles organisiert und bezahlt. Du wirst mit ihm fliehen. Aber Mosche Ben Menachem, sein Vater, war oben am Wolfbach auf den Scheiterhaufen gebunden und brannte. Sein Buch, der S’mak von Zürich, war berühmt. Warum wusste der Kleine nicht. Er hatte es auswendig gelernt, wie auch die fünf Bücher Moses, den Chumasch, er war schon fast perfekt.
Die Grossmutter trottete im Zug der Elenden, als sie den Kleinen draussen, in der gaffenden und geifernden Meute erblickte. Sie stolperte, als die stockende Menschenschlange sich wieder in Gang setzte. Die Schlinge würgte sie, aber ihre aufgerissenen Augen blieben an ihrem kleinen Enkel hängen, während sie sich fast erstickt aufrappelte.
Ersäuft alle Juden in der Limmat!
Hoch erhobene Kreuze und Fackeln wurden von Mönchen die Gasse hinaufgetragen. Ihr Gesang liess den Lärm verstummen. Die Peitschen der Wachen und Büttel des Rates knallten umso lauter durch die hohen Häuser.
Der kleine Jude rannte über den oberen Mühlesteg in die mindere Stadt. Die Kirchenglocken läuteten Sturm. Jede einzelne und der ganze Chor der Glocken schienen sich zu empören: Gegen die Juden oder über ihr Schicksal? Durch das Rennwegtor flitzte der kleine Jude stadtauswärts an den Wachen vorbei, hinaus nach St. Jakob und weiter, bloss weg. Er rannte und rannte nach Westen, nach Norden, nach Osten und Süden, am Tag und in der Nacht, er achtete kaum auf seinen Atem und die unbewusst gezählten Schritte: Eins zwei drei, eins zwei drei vier; hhh homhom, hhh homhomhom, hhh homhom, hhh homhomhom.
Das Bildnis des Herrn am Kreuze bannt alles Böse. Fünfhundert Jahre und länger wurden keine Juden in unserem Land geduldet.
Weisst Du das nicht?
| Ich bin’s Tüüfelin ich lauf mir ischt kalt, darf nirgendwo wohnen, keim Huus oder WaldIch laufen und laufen, darf nirgendwo blieben han nu mienen Gott mir di Zit zu vertriebenIch bin’s Tüüfelin ich lauf mir ischt kalt. |
Als er nicht mehr rannte, klammerten sich die Seiten des Buches seines Vaters um seinen Leib. Wolkenlos blaue Himmel, die Sterne des Firmamentes, alle Wetter und Unwetter stürzten auf ihn.
Lauter Geschichten hatten sie ihm erzählt; nichts und alles hatte ihn auf das vorbereitet, was geschah. Das Wichtigste hatte die Grossmutter gesagt und ihm das Buch des Vaters umgebunden. Das Wort seines Vaters war berühmt.
Was Du in Dir trägst, ist das Wichtigste, das kann Dir niemand nehmen.
Aber in mir habe ich nur Fragen.
Eben! Das ist das Wichtigste, hatte Moses ben Menachem zu ihm gesagt und sein Sohn hatte ihn noch nie so lange zögern gesehen. Antworten waren spärlich im Unterricht. Aber seine Rückfragen kamen meist vor dem Ende der Frage. In den Bart hatte er sich gegriffen und mehr als dreimal den Oberkörper vor und zurück gewippt, und dann doch nachgefragt: Gott hat nur eine Frage an Dich, welche?
Wo bist Du? Diese Antwort wusste der Kleine sofort. Aber ich, wen kann ich fragen?
Seine ganze Welt.
Und nach langer Pause erklärte der Vater doch noch: RamBaM, der grosse Rebbe Moses Maimonides, sagt uns, dass der Verstand, der Verstehende und das Verstandene in Gott eine Sache sind. Adonai echad, Gott ist einzig. Der Unendliche ist in jedem Wort, in jedem Ding und in jedem der über diese Dinge denkt und spricht. Geh hin und lerne!
Er kam in eine Stadt. Er ging dort zum höchst angesehensten Rebbe und rezitierte singend die fünf Bücher Chumasch, die Kommentare der Weisen und das Buch seines Vaters. Aber im Buch seines Vaters standen nur Muster von Verträgen: Verträge zum Heiraten, zum Geldverleihen und der Wert dieses Wissens erschloss sich dem Kleinen nicht. Man gab ihm Papier und Feder. Nach einer Probeseite durfte er die Kopie des S’mak auf Pergament schreiben. Man verköstigte den Kleinen und er zog in die nächste Stadt und tat dasselbe. Er kannte jedes Wort, das er schrieb, aber verstand nichts.
Er rannte weiter und weiter. Im Aschkenas, im Zarphat und erst recht im Spharad waren viele jüdische Gemeinden zerstört und abgebrannt. Er sang, wenn er nicht rannte oder summte. Er lag auf Gras und nackter Erde. Die Lichtung mit allen Pflanzen, Gewürm und kleinem Getier drehte sich um den kleinen Juden, und schneller noch drehte sich aussen der Wald mit den Pilzen, Wurzeln und grösseren Tieren, und darum herum rasten die Hügel, die Gewässer und Auen, und alles darum herum bis in die Unendlichkeit. Und aus einem leeren Violenkasten dröhnten lautlose Töne die blau oder weiss bemalten Stufen der Wendeltreppe hinab, aber wenn er aufblickte, waren sie wechselnd rot und weiss bemalt.
Er hatte eine Frage; sie öffnete sich wie eine Blume und ihr Duft durchdrang seinen ganzen Leib. Manchmal würgte sie und drohte ihn zu ersticken, und dann drehte sie sich spiralig und verzweigte sich zu immer neuen und weiteren Fragen in die Höhe und Tiefe und alle Richtungen und sie sprossen, wie aus einer in atemberaubenden Tempo wachsenden Pflanze, die sich selbst umschloss, riesig gross und winzig klein bis in die Unendlichkeit.
Der kleine Jude hatte mit den Kindern gespielt. Der Fragende musste das andere Kind an der Hand oder den Ohren, Nasen oder gar am Knie oder Füssen berühren und fragen: Hoffnung oder Wahrheit, eins zwei drei?
Der Kleine war wahrheitssüchtig.
Als Verenalins Vater merkte, dass seine Tochter lesen und schreiben konnte, verprügelte er sie schlimm. Sie flüchtete in den Frauenkonvent der heiligen Verena bei der Predigerkirche. Monate später besuchte die Novizin heimlich ihre Mutter im Hause der Familie von Meiss an den oberen Zäunen. Prompt erwischte sie der Vater. Er sperrte sie zuhause ein. Er schlug sie blau und grün. Nur die Mutter konnte noch Schlimmeres verhindern. Als Verenalin weinte und um väterliche Gnade bettelte, verhöhnte er sie: Sie müsse so lange in ihrer Kammer bleiben, bis sie wieder präsentabel sei. Die väterliche Wut sei verständlich, setzte die Mutter um Versöhnung heischend obendrauf. Conrad von Meiss musste nämlich befürchten, vertragsbrüchig zu werden. Im Suff hatte er seine schöne Tochter Verena dem Vorsteher der Metzgerzunft zum Widder versprochen. Jakob Gelstner, der mächtigste Zunftmeister Stadt, und der höchste Constabler von Meiss hatten sich nämlich im Beisein des Bürgermeisters Rudolf Brun geeinigt: die Juden sollten vertrieben, die Schulden bei ihnen gelöscht und ihr Gut verteilt werden. Verena war das Pfand dieses heimlichen Bundes.
Am Sankt-Matthias-Tag war der Vater noch vor Sonnenaufgang ausser Haus gegangen. Kurz vor Mittag kam er offensichtlich schon betrunken nach Hause. Im Erdgeschoss legte er Helm und Schwert auf einen Stuhl. Verena war im Turmzimmer eingesperrt als er hochkam. In leichter Rüstung stürmte er in ihre Kammer unter dem spitzen Dach. Als er seine Tochter immer noch im Novizengewand sah, packte er sie mit Fäusten an beiden Armen und schrie in ihr Gesicht, auch sie werde lernen zu gehorchen. Er prahlte, heute würden alle Feinde des Heilands vernichtet. Höchstselbst habe er die Ergreifung und Verbrennung der jüdischen Brüder Menachem überwacht: Sie brennen, oben am Wolfbach.
Erregt liess er die Jungfer los, drehte sich und stolperte zur Türe hinaus. In der Aufregung vergass er abzuschliessen. Er polterte die vielen Treppen des Turmhauses hinunter. Vor dem untersten Geschoss hörte man ihn schrecklich stürzen. Mutter und Magd schrien laut. Mit Hilfe des Knechts brachten sie den angeschlagenen Constabler in die gute Stube.
Verena hatte das Stöhnen des Vaters und das Flüstern der besorgten Frauen noch gehört, als sie leise aus dem Haus ihrer Eltern geschlichen war. Auf Umwegen war sie durch die Stadt gerannt: die Kirchgasse hinunter, am Grossmünster vorbei und über die Limmat; ein Stück flussabwärts wechselte sie von der minderen Stadt wieder über die Brücke beim Rathaus und wollte hinauf zum Convent. Sie hatte sich eben am Zug der gefangenen Juden und der gaffenden Menge vorbeigedrückt und hatte das Haus der Frauen der heiligen Verena schon fast erreicht, als sie mit dem kleinen Juden zusammenstiess. Mit ihrem Schrei hatte sie ihn gewarnt. Sie hatte ihn gerettet. Ungebremst wäre er doch in die Prozession der jüdischen Opfer und ihrer Feinde gerannt, mit allen anderen in ein Gitter gepfercht und in der Limmat ertränkt worden. Ihr Eingreifen war ein Zeichen des Herrn.
Es geschah am Tag des heiligen Matthias. Und das demonstriert doch, wie ein Fluch durch Gottes Willen zum Segen wird. Wurde nicht Judas Iskariot, der geldgierige Mörder, Leugner und Verräter am Erlöser Jesus, durch diesen Heiligen ersetzt. Anstelle des verdammten Juden wurde Matthias zum zwölften Apostel erwählt. Am Matthiastag erfüllte sich die Weissagung, dass mit dem Sinnbild des Bösen, Judas, das ganze Volk der Juden, dem Untergang geweiht sei. Die Stadt wurde vor Juden und Seuche gerettet! Gelobt sei der Herr!
Schwester Verena betete regelmässig zum Heiligen Matthias, denn zweimal wurde an seinem Namenstag nicht nur die ganze Stadt, sondern auch sie selbst gerettet. Just ein Jahr nach der Vertreibung von Juden und Seuchen, wieder am Tag des heiligen Matthias, manifestierte sich der Wille Gottes in der Mordnacht von Zürich erneut.
Der alte Adel und viele noble Constabler waren Freunde der Habsburger in der Stadt Zürich und Feinde der Brun’schen Zunftverfassung. Sie waren angeschlagen aber noch nicht besiegt und vertrieben. Sie hatten ihren Juden den vertraglich zugesicherten Schutz nicht mehr gewährleisten können. Durch die von Rudolf Brun angeordnete Vertreibung und Ermordung der Juden waren nicht nur einige Noble und Zünfter, sondern auch einfache Bürger ihre Schulden losgeworden. Das Kräfteverhältnis in Zürich neigte sich zugunsten von Brun und seiner neuen Zunftverfassung. Aber nur ein Teil der Constabler hatte sich schon zu Beginn auf die Seite Bruns geschlagen. Conrad von Meiss wurde verdächtigt, sich mit beiden Parteien gut stellen zu wollen. Zudem stand Verenas Vater noch immer in einer speziellen Schuld gegenüber dem Zunftmeister zum Widder. Der hohe Metzger Gelstner pochte auf Einhaltung des geheimen Heiratsversprechens.
Der Vater hatte Verena einen Brief in den Frauenkonvent geschickt. Ihr Seelenheil sei das eine, aber die Ehre der Familie das andere. Er erinnerte seine Tochter an ihre christliche Pflicht, ihre Eltern zu ehren. Sie sei nun mal dem Metzger versprochen und müsse das Wort des Vaters erfüllen, ob sie wolle oder nicht. Er habe Mittel, die er lieber vermeiden würde.
Verena fühlte sich nicht mehr sicher in ihrem Konvent. Darum hatte sie gebeten, im Kloster Oetenbach aufgenommen zu werden. Sie war edler Herkunft, konnte lesen, schreiben und rechnen, Latein und unglaublicherweise sogar etwas Hebräisch. In der Schreibwerkstatt des zweitgrössten Frauenklosters der Stadt war sie als Novizin hochwillkommen. Aber der Vater und der Metzger liessen sich nicht aufhalten.
Am Tag vor Matthias drangen drei vermummte Gesellen sogar ins Frauenkloster ein. Sie raubten Verena. diese wehrte sich verzweifelt. Sie hielten ihr den Mund, bis sie fast erstickt wäre. Im Haus des Zunftmeisters erwachte sie aus ihrer Ohnmacht. Gelstner, ein ungehobelter riesiger Mann, sass am Tisch. Morgen, zu Sankt Matthias werde im Grossmünster geheiratet, höhnte er. Der Metzger schmatzte an seiner Wurst und schlürfte den zweiten Becher Wein. Er stierte auf die schöne Constablerstochter, die sich ihm nun schon seit mehr als einem Jahr verweigerte. Er machte Anstalten, sich schon vor der Hochzeit mit Gewalt nehmen, was ihm doch zustünde. Verena hatte sich schon ein Messer von der Tafel gegriffen. Sie wollte sich bis zum Letzten verteidigen.
Da klopfte es heftig und Rufe drangen durch die verschlossene Türe. Der Zunftmeister müsse aufmachen. Die Stadt sei verraten worden. Verbannte Constabler, Habsburger und andere Feinde des Bürgermeisters Brun wollten Morden und die Macht übernehmen. Der Metzger rüstete sich sofort. Er öffnete seine Waffenschränke und griff nach seinem persönlichen Schwert. Seine Gesellen nahmen halblange Halparten und die kürzeren Schlachtbeile.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, rief Gelstner Verena noch zu und verschwand im Dunkeln. Auf in den Kampf für die Stadt. Sein Opfergang für Zürich sei heldenhaft gewesen. Ein halbes Duzend Auswärtige habe er mit sich gerissen, hiess es. Gelstners Tod rettete auch Verena.
Die Gesellen der Metzgerzunft zum Widder hatten die Stadt Zürich gerettet. Mit dem Isengrind, ihrer gehörnten Eisenstange, hatten sie die Türe des Hauses gerammt, in dem sich die eingedrungenen Feinde heimlich versammelt hatten. Sie töteten, erstachen und erschlugen alle. Drei Jahre später erlaubte der Bürgermeister Rudolf Brun und der hohe Rat den Metzgern, ihren Sieg über die Pest, die Juden und alle Feinde der Stadt von nun an jedes Jahr zu feiern. Mit dem schweren langen Sturmbock Isengrind voran, mit Halparten und Schlachtbeilen, mit Knallen von Peitschen und Geknatter von Rätschen, unter Geheul und Johlen, beleuchtet von Fakeln trieben sie seither die Judensau jeden Frühling durch und aus der Stadt. Vor dem Rennwegtor wurde sie geschlachtet, gebraten und öffentlich verteilt.
Bald wird wieder Ostern. Die Juden, wo immer sie noch leben mögen, werden an ihrem Pessachfest die Befreiung feiern, den Auszug ihres Volkes aus Ägypten, der Knechtschaft unter dem Pharao. Wir Christen aber feiern viel Grösseres, nämlich das Heil der Welt, die Erlösung durch den Opfergang Jesu: dies ist das Brot, sein Leib und sein Blut. Den Tod des Juden hat sich die Schweiz auf ihre Fahne geschrieben, das Symbol Christi, ein reines weisses Kreuz auf blutrotem Grund.
Es ischt emal xi xi xi, es war einmal. Aber sofort hatte er alles vergessen. Ein fürchterliches Poltern und hartes Knirschen weckten ihn. Deutlich spürte er die Bewegung auf der Höhe seiner Knie. Aussen zerquetschten Blumengebinde am Fenster. Seine Schläfe hatte eben noch an der feucht beschlagenen Scheibe gelegen. Da kam der Schlag. Weiter vor ihm barst die Wand. Ein schwerer Holzbalken drang splitternd in den Waggon und drückte den dritten Sitz vor ihm mit einem Knall in den Mittelgang der Trambahn.
Niemand war verletzt. Durch den klaffenden Spalt drang Kälte in die Kabine. Für einen Moment war alles still. Draussen hörte man Stimmen und in der Ferne eine Marschmusikkapelle. Die Türen öffneten sich. Aufgeregte Männer fragten, ob sie helfen könnten. Der Schaffner forderte die Fahrgäste auf, sich ruhig zu verhalten und zu evakuieren. Jemand half ihm. Der Schnee mischte sich mit feinen Regentropfen. Die Passagiere standen in kleinen Gruppen auf der Strasse und dem benachbarten Trottoir. Aufgeregt, fast freudig erzählten sie einander, was sie erlebt und gesehen hatten. Der Alte stand allein. Ein stattlicher Metzger mit Blumen geschmücktem Schlachtbeil und blanker Lederschürze stiess ihn beinahe um. Als er sah, dass nichts Schlimmes geschehen war, entschuldigte er sich wortreich und eilte davon. Ein Reisläufer in flammendem Faltengewand brachte ihn mit dem Schaft seiner Hellebarde doch noch zu Fall. Der junge Mann, der ihm aus dem havarierten Wagen geholfen hatte, war kurz um den Tramzug gegangen und hatte den Schaden von aussen besichtigt. Eben kam er wieder zurück und reichte ihm die Hand, fasste den Ellbogen des Alten und zog ihn zur Seite. Eine weitere Gruppe von festlich gekleideten Zunftleuten drückte sich durch die Menge. Sie hatten das Unglück gar nicht bemerkt und waren ob der Störung ihres Zuges ungehalten.
Glück im Unglück, sagte der junge Mann.
Was für ein Glück, war es eine Feststellung oder Frage? Der Alte sah auf seine nassen Schuhe. Tropfen und kleine Wellen veranstalteten in den Pfützen ein Lichtspiel. Schuhe traten in die Lachen. Unbewusst zerstörten und erzeugten sie neue Effekte. Vornehme Herren in Frack und Zylinder oder mittelalterlich wirkenden Handwerkerkostümen hasteten vorbei. Frauen in blauweissen und bunten Trachten trugen ein halbes Dutzend Blumensträusse in ihren Armen. Der Umzug der Zünfte sollte bald beginnen. Reiter zogen hinter dem Wagen vorbei. Die Lichter im leeren Tramzug wurden ausgeschaltet. Draussen drückten sich die Passagiere und die gaffende Menge dicht an die Häuserfassaden. Der Rammbock mit Isengrind wurde auf dem Fuhrwerk der Metzgerzunft vorbeigezogen. Die ledernen Schürzen der Metzger waren hellbraun, unbeschmutzt von jeglichen Blutspuren, ihre Hemden schneeweiss. Zivil waren sie keine Handwerker, sondern Bankleute oder andere hochbezahlte Bürolisten im Kader von internationalen Firmen.
Sowas! Schnee am Sechseläuten! Das ist ein Fest! Ja, da erlebt man noch Sachen!
Wo wohnen Sie?
In Zürich.
In der Stadt?
Ja.
Finden Sie nach hause?
Ja. Glück im Unglück! Ja ja, da erlebt man noch Sachen!
Alles Gute! Der junge liess den alten Mann in der Kälte stehen.
In grauem Frack und Zylinderhut eilte ein zünftiger Schneider mit mannsgrosser Pappschere durch die Menge. Im Ersatzbus wurde dem Alten rasch wieder warm. Erneut lag sein Kopf am feucht-kühlen Fensterglas. Er wusste nicht mehr, was ihn so erschreckt hatte. Die Marschkappele zog draussen mit dem Sechseläutenmarsch vorbei. Tä pfnn tä pfnn tä pfnn. Täräp täp täriäräptät täriäräptät, tärum tärum tä didäräp, täräp täp täriäräptät täriäräptät, tärum tärum tee. Die Sturmglocken der Kirchen hörte er nur noch mit halbem Ohr.