Der kleine Schweizer Juhude, Prolog

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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In Deinen Augen finde ich die ganze Welt, Deine und meine, das Leben und den Tod, Dein Begehren, die Angst, das Glitzern Deiner Lust, Dein Schmerz, die Verzweiflung und Wut, in Deinem Blick finde ich die einzige Hoffnung und Wahrheit.

Das Heil der Welt erscheint als Tod des Juden. Der Angelpunkt der christlichen Moral ist der Opfertod des Juden am Kreuz. Aber die Macht Allahs bewies sich schon in der Überwindung, Vertreibung und Vernichtung der Juden durch seinen Propheten Mohammed.

Das Heil der Welt beruht in christlich geprägten Landen auf der Ermordung eines Juden. Das Kreuz ist das heilige Zeichen des Opfertodes des Juden Jesus. Der Wiederholungszwang verlangt sein Opfer regelmässig. Das Totem seines Fleisches und Blutes wird in einem kannibalistischen Ritual im Abendmahl und jeder Messe zelebriert.

Der christliche Einspruch erfolgt sofort: Der Jude habe das falsch verstanden. Die Inkarnation, die Fleischwerdung, symbolisiere doch die höchste Liebe, das höchste Opfer, welches Jesus von Nazeret, der Mensch gewordene Gott, für alle Menschen erbracht hat.

Ist das so? Nach zwei blutigen Jahrtausenden: Dein Glaube oder meiner? Und wozu brauchst Du dazu einen Juden?

Die Lösung der Judenfrage, ist die Reinkarnation des Mordes am Juden Jesus von Nazaret. Die Moral des Abendlandes und des Morgenlandes brauchen den Opfertod des Juden. Ein Moloch, ein schwarzes Loch als Grundstein der Moral?

Na sag’ mal? Übertreibst Du da nicht? Siehst Du keine Bemühung für den Menschen? Ist kein Humanismus in der christlichen Geschichte, in ihrer Kirche und in der Kritik an ihr, in der Aufklärung?

Die Judenfrage ist die Kardinalfrage, auch in der Aufklärung. Seit den Aposteln haben sich alle an der Judenfrage versucht, die Kirchenväter, die Reformatoren, die Revolutionäre der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Nationen. War das gut für die Juden?

Sie wollten sie bekehren, ersatzweise verdammen, töten, eliminieren, vernichten, auslöschen, verbrennen, zur Hölle schicken, nach Birobidschan in Sibirien, nach Madagaskar, einer Insel im Osten Afrikas, oder nach Palästina. Seit dem Mord am Juden Jesus von Nazaret ist die Judenfrage der Prüfstein und Angelpunkt der öffentlichen Moral. Keine politische Glaubensrichtung kam um die Judenfrage herum.

Willst Du die Aufklärer, Leibniz, Voltaire, Kant, Hegel, Marx, Herzl in einen Topf werfen mit Hitler, Stalin und dem Pabst?

Judenfeindliche Pogrome seit den Zeiten der Kirchenväter: Die schwarzen Löcher in der Geschichte und im sozialen Geflecht sind einmal grösser und einmal kleiner.

Ja, ja, Ihr Juden seid die grössten Leider! Das auserwählte Volk!

Weisst Du, was ein Schwitzkasten ist? Nein, nicht den vom Schulhof; ich meine den echten Schwitzkasten, in dem Dich ein überaus muskulöser Arm gepackt hält, Dein Kopf ragt vorne in Panik heraus. Du kannst kaum noch atmen. Deine Hände können ausser nasser gespannter Haut eines sich in seinem Rücken fortsetzenden wurstig glitschigen Bauches und seinen mehr als strammen Oberschenkeln nichts mehr fassen. Sein böse stinkender Schweiss sticht trotz Atemnot in Deine Nase, die er Dir bei seinem ersten Fausthieb zu korrigieren verspricht. Es ist doch immer noch eine erlesene Lust eine so jüdische Nase mit etwas Blut zu dekorieren. Es tut ihm doch gar nichts: der ewige Jude ist nicht auszurotten.

Alle erzählten Geschichten, die Geschichten der Väter, der Mütter, der Familie, die Geschichten der Juden. Und von den anderen Völkern erzählten sie Geschichten, als wären sie anders. Und von den Juden erzählten sie, wie sie ständig wandern mussten, zuoberst auf der Erde, weil sie sich doch dreht. Und der Erdballdreht sich und dreht sich, und sie würden immer schiefer auf der Kugel stehen, wenn sie nicht ständig wanderten. Sie würden herunterfallen, denn kopfüber kann niemand stehen.

Keiner darf zurückbleiben, aber immer sind einzelne und manchmal auch viele Juden in den Abgrund gefallen. Ganze Familien sind in den Tehom gefallen. Und sogar zehn Stämme sind dort in den Tiefen verschwunden. Du musst immer laufen und laufen. Und wenn Du links hinter dich schaust, fällt einer weg. Und wenn Du rechts hinter dich schaust, fällt einer weg.

Nur keine jüdische Hast, sagten sie, als er noch ein Kind war, und gelegentlich hörte er das bis heute. Der gestampfte Jude ist eine nahrhafte Sulzmischung von Abfallfleisch, des Schweizer Soldaten Genuss aus der Konservendose. Viele Jahrhunderte blieb unser Land judenrein. Das Kreuz beschützte unser Land.

Seine Heimat hat sich den Tod des Juden auf ihre heilige Fahne geschrieben. Der tote Jude prangt da als schneeweisses Kreuz auf blutrotem Grund. Das Symbol des Judenmordes führt uns gegen jeden Feind, es markiert unser Land. Das Kreuz steht auf jedem Berggipfel. Es steht am Wegrand, auf Deinen Dokumenten, und wenn Du einst tot bist, werden sie Dich mit einem Kreuz vermerken.

Menschen Sohn, was willst Du? Die Freiheit im Diesseits oder die Erlösung im Jenseits? Dazugehören, zu diesen oder zu jenen? Zu den Schwarzen oder Weissen? Den Hutu oder Tutsi? Er schloss seine Augen und liess sich schaukeln. Sofort erschienen sie ihm, diese Bilder, die falschen, die richtigen und halbrichtigen Beweise ihrer Geschichten voller verzweifelt hoffnungsvoller Blicke auf den unsichtbaren Betrachter.

Die Zionisten haben den Juden eine sichere Heimstädte versprochen. Weil sie Juden sind, sind seit der Gründung ihres Staates Israel viel mehr Menschen dort in Palästina gestorben als irgendwo sonst auf der Welt. Das Verderben der Gegner dieses Staates ist noch grösser. Noch viel mehr Menschen sind in Palästina gestorben, weil sie nicht Juden sind. Das Elend ist unerträglich, dort.

Aber er schaukelte in seinem Sitz und dachte, er könnte die kleine Geschichte der Nase erzählen. Der blutigen Nase, der Juhuden-Nase, der nasal tönenden Nase, wenn sie Dir jemand zuhält, und Du den bösen Humor noch halbwegs mitspielst, wenn Du mit so verstellter Stimme protestierst, das sei doch gar nicht lustig. Doch doch, denn die grunzende Judensau, welche zum Spass durch mittelalterliche Gassen getrieben wird, tönt doch auch so komisch. Die lange Nase Pinocchios und die Judennase haben dem Vernehmen nach nichts gemeinsam. Die erste sei ein moralisches Sinnbild der Lüge und die Judennase sei ein böses Lügenkonstrukt.

Eine Nase kann man brechen, plattschlagen, abhacken oder gnädig nur leicht kneifen und verbiegen. Die Geschichte der Judennase begann wohl schon im Mittelalter. Und nach Jahrhunderten der blutigen Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel schrieb Franzisco de Quevedo 1647 das Spottgedicht an eine Nase: Es war einmal ein Mann, der steckte auf einem Superlativ von einer Nase. De Quevedos Verse sind in spanischen Schulen noch heute das Mass der Dichtkunst. Voltaire spottete gegen die Nase des Juden Spinoza. Honoré de Balzac benutzte das Bild der Judennase in in seiner Comédie humaine, um den Elsässer Financier und Aufklärer Hersch Cerf Beer zu diskreditieren, den ersten Juden, dem das französische Bürgerrecht verliehen worden war. Dem Hauptmann Dreifuss wurde eine auffällig jüdische Nase angedichtet, und der Stürmer der deutschen Nazis übernahm das Bild zur Vorbereitung der Vernichtung der Juden in der Schoah.

Seine Fahrt war nur leicht holprig. Das Ruckeln und Zuckeln des Gefährts wiegten ihn angenehm auf seinem Sitz. Er dämmerte bei halbgeschlossenen Augen und dösige Halbträume erzählten von humorlosen Lustigkeiten.

Die Geschichten der Hoffnung erzählen sie Dir. Aber sind ihre Versprechen hohl und meist billig? Schon als kleines Kind beginnst Du an ihren Märchen zu zweifeln.

Wenn Du Schweizer bist, versprechen sie Dir die Freiheit, die schon die Vorväter errungen haben. Und wenn Du Jüdin oder Jude bist, versprechen sie Dir die ewig gelobte Freiheit, ob Du’s glaubst oder nicht.

Und die Führer des Staates Israel schreien Nizachon muchlat leAm echad! Und wenn Du das auf Deutsch übersetzt, bedeutet das: Wollt Ihr den totalen Sieg? Und es ist keine Frage mehr, sondern der Schlachtruf zum Endsieg gegen ein hilfloses Volk, welches sich weder gegen seine übermächtigen Feinde noch seine eigenen grässlichen Führer zu wehren weiss. Die Palästinenser sind die Juden der Juden: das ist böse Propaganda und zugleich grauenhafte Realität.

Du warst immer auf der Seite der Schwachen, Du warst nie ein Antisemit, aber was Du jetzt in Gaza siehst… Mit welchen Mitteln das auserwählte Volk das gelobte Land erobern will, weckt Deinen moralischen Geist. Die Erkenntnis der Verworfenheit der Juden ist die Wiederholung der urchristlichen Mythologie der Erlösung durch das Kreuz. Die Schuld der Juden ist die Triebfeder dieser selbstblinden Gerechtigkeit. Gerade inbezug auf Israel gibt es keine Moral ohne antisemitischen Impetus. Die reine, ja heilige Kritik an Israel ist eine religiöse Illusion. Die gezähmte Sprache der antijüdischen Kritik ist das Vermächtnis der abendländischen Kultur. Wieviel unbekümmerter berufen sich doch die Muslims auf die Kriege Mohammeds gegen die Juden in Medina und Kheibar.

Und ob Du willst oder nicht, wird Dir die uralte Geschichte auferlegt, eine Geschichte mit deren Wohl und Weh sich die ganze Welt verbunden fühlt. Dein Opfer wird von der ganzen Welt erwartet.

Und wenn Du männlich bist, wirst Du als Pfand und zum Zeichen dieses Opfers, am achten Tag Deines Lebens beschnitten. Und wenn Du weiblich bist, ist die Selbstverständlichkeit Deines Opfers nicht einmal der Rede wert, oder wird mit schmutzigen Worten entehrt. Denn unbefleckt kann Deine Empfängnis nicht sein und mit der Mutter Gottes wirst Du Dich auch als jüdisches Mädchen nie messen können, sogar wenn Du den Messias gebären solltest.

Die Erde dreht sich und dreht sich. Aber wir fallen nicht mehr herunter. Senkrecht und sicher stehen wir, denn wir sind Schweizer, Schweizer Juhuden.

Ihren Ausschnitt schmückte ein schlichtes Kreuz. Ihre Augen leuchteten, zogen ihn an und saugten ihn fest. Der zu Tode gefolterte Jude baumelte zwischen ihren Brüsten. Er konnte ihren freundlichen Blick nicht deuten. Er hielt den Atem an.

Du bist so ein fanatischer Jude! Willst Du jeden Christen für das Mittelalter haftbar machen, jeden Europäer für die Verbrechen früherer Generationen? Anerkennst Du die Bemühungen nicht, den Antisemitismus zu überwinden? Siehst Du nicht, wie immer mehr Menschen den Menschen ins Auge fassen?

Sie quälen, plagen und verletzen das Opfer, Dich, mit Worten, mit Büchern, mit Repektlosigkeit, mit Intimitäten und Körperteilen, mit Feuer und Mordwerkzeugen, Schnüren, Seilen, Kabeln, Drähten, Messern, Stichwaffen, Hackbeilen, Dolchen, Säbeln, Pistolen oder Gewehren. Sie beleidigen und erniedrigen Dich. Sie vergewaltigen und töten Dich. Sie nehmen Dir die Sprache und alles. Sie machen mit Dir, was immer Du Dir Schlimmes nicht vorstellen wolltest, Du, Deine Leute, alle Menschen.

Was kümmerte ihn Auschwitz, was kümmerte ihn Gaza, der Krieg im Sudan und im Osten von Kongo oder der Ukraine? Warum durften ihm alle sagen, was ihn angehen muss und wer er sein soll?

Seine Befindlichkeit ist angesichts der Gräuel der Welt sowieso irrelevant. Warum also sollte er ihnen schildern, was er ob dem dortigen Grauen spürte und dachte? Zustimmung und Ablehnung zur Wahrheit der Schoah, Zustimmung und Ablehnung zu all den Völkermorden, zum 7. Oktober, zur Nakhba, zur Vernichtung des palästinensischen Volkes: die von der Öffentlichkeit geschliffenen Formeln sind Bekenntnisse der Zugehörigkeit. Er ist ein Jude.

Allen Aussatz erkennen wir ausser dem eigenen Makel selbst, sagt der Talmud. Und ein anderer sprach zu selbiger Zeit, oder war er etwas später, vom Splitter im Auge des Nächsten und dem Balken im Eigenen, den wir nicht sehen.

Sie wollen ihre alten Werte wieder haben. Sie werden Dich lehren, auf der richtigen Seite zu stehen, oder zu schweigen! Schweig endlich! Halt’s Maul!

Er hörte sie in der Finsternis zwischen den Bäumen und den Schatten der Büsche. Er blieb stehen und unterdückte das Atmen. Nichts. Doch, da, ein leises Flattern, dann ein Rascheln. Als er weiterging, hörte er seinen Puls und den Ruf eines Nachtvogels.

Jemand kam ihm entgegen. Ein anderer näherte sich rasch in seinem Rücken. Der Entgegenkommende war fast schon vorbei. Ein Tritt in sein Kreuz schmetterte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden. Schwere Schuhe trafen ihn zwischen den Beinen. Und das war erst der Beginn. Dumpfe Schläge, ein Schrei, Kreischen, Knirschen, leises Schmatzen von Körpersäften, Stöhnen, Seufzen, Weinen, keine Worte, Karcheln, erstickendes Gurgeln, letztes Blubbern. Die Vielfalt der bösen Gerüche erreichte kein Bewusstsein.

Die Gnade seines Opfers ist übermässig. Die Blässe seines Leichnams im Grab soll jede Ästhetik übertreffen. Lichterglanz spiegelt sich im Elend. Die Dornenkrone könnte, leicht aufgesetzt, die Haut nur kratzen. Aber der Stachel kann auch durch Haut und Fleisch dringen, hinein und heraus. Ein dauernd verweilender Spiess erzeugt Eiter. Eiter stinkt, aber diese Säfte sind so tot, dass man sie nicht riechen kann, übersinnlich das fleischlose Fleisch. Der Marterpfahl, an welchem der Märtyrer starb, wurde er später noch benutzt? Oder das Rad, auf welches seine gebrochenen Knochen geflochten wurden? Sind sie Teufels Werkzeuge oder heilig, so dass sie niemand mehr benutzen darf? Heilig, heilig, auch das schwärzeste Loch dient der Moral der Macht.

Es war einmal, beginnen alle Geschichten, die Geschichten des Grossvaters in seiner verrauchten Kammer, Tante Reginas Geschichten, und auch die Geschichte, in der wir uns gerade befinden. Es war einmal wirklich. Aber wer und was erzählt die Geschichte unserer Stadt? Auch die hiesigen Bonzen und Oberen lassen sich vom niederen Volk als Repräsentanten der Geschichte feiern. Den Ursprung aber wollen sie vergessen und verheimlichen.

Es ischt emal xi xi xi, begann der Kleine seine Geschichten. Woche für Woche erzählte er den anderen Kindern, was er in der Schul der Erwachsenen gehört hatte. Er wusste jedes Wort. Er sang den Text des Buches und erzählte, was er verstanden hatte, die wunderbarsten Geschichten. Im Herbst kniete er im Staub der Gasse. Bereschit, am Anfang, schrieb er mit einem Stöckchen. Sorgfältig zeichnete er die Buchstaben. Er blickte nicht auf, aber er sah die zahlreicher werdenden nackten kleinen Füsse.

Als die Kinder sich um ihn versammelt hatten, erzählte der Kleine vom Anfang, wie der Kopf der Unendlichkeit über der Finsternis schwebte und in die tiefsten Abgründe des Tehom hinunterblickte. Und bis zur Unendlichkeit müsstest Du unzählige Leben lang zählen können. Und er erzählte, wie das Licht entzündet wurde: Jehi Or wehaja Or, es werde Licht und es war Licht.

Manchmal schimpfte ein alter Mönch, sie sollten nicht auf einen kleinen Juden hören. Mit seinem Bettelstab schlug er nach den Kindern. Sie lachten ihn aus, rannten davon und versammelten sich woanders. Sie spielten ihr Spiel: Wahrheit oder Hoffnung, eins, zwei, drei.

Verenalin war schon bald kein Kind mehr. Sie trug ein bis zum Boden reichendes blaues Kleid unter dem feine Schuhe sichtbar wurden, weil sie den Saum hochhalten musste, damit er nicht schmutzig wurde. Eigentlich durfte sie nicht mehr mit den Kindern spielen. Zuhause wurde sie geprügelt. Für jedes kleinste Vergehen, das noch nicht einmal eine Sünde hätte sein können, wurde sie getreten und bestraft. Die Welt sei zwei geteilt in Licht und Schatten, Gut und Böse, Himmel und Hölle, Schuld und Sühne, Erlösung und Verdamnis, hatte Verenalin deklamiert, als sie in ihrem Spiel nach der Wahrheit oder Hoffnung gefragt worden war. Der Kleine hatte sie mit offenem Mund angestarrt, dann gelächelt und sie mit seinen blauen Augen verschlungen.

Die Welt sei nicht zweigeteilt, denn Sein Licht sei überall, und auch in der tiefsten und dunkelsten Gruft sei irgendwo ein Hoffnungsschimmer des Lichts. Auch die schlimmste Wahrheit enthalte noch Hoffnung. Da hatte sie ihn auf den Mund geküsst. Das durfte sie nicht. Und sie erklärte dem Kleinen, dass sie ihn auch nie heiraten könnte, da er doch ein Jude sei.

Aber das alles war schon lange her.

Verenalins weit aufgerissene Augen kündigten den unmittelbar folgenden Schrei an: Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten!

Waren da Verfolger? Der Kleine stolperte, weil er sich umgedreht und die Novizin nicht gesehen hatte. Er streifte sie und fiel rücklings. Ein böser Stich durchfuhr seinen Fuss. Im Fallen erkannte er: im Kleid der Novizin steckte Verenalin. Da lag er im schlammigen Dreck und Schweinepisse. Ein kleines metallenes Kreuz steckte in seiner Sohle. Er zog es heraus und liess es fallen. Er blutete. Die Novizin, die Verenalin war, kreischte und schrie erneut: Er ist mit Füssen auf meinen Heiland getreten! Die Pest kommt!

Am Vorabend war der Diktator Rudolph Brun in seiner ganzen purpurnen Pracht, mit goldener Wappenkette und aller amtlichen Würde vor das Ratshaus getreten. Zwei Trommler waren auf der Treppe vor dem Tor gestanden, als die Räte der Stadt herauskamen. Mit langsam schneller werdenden Schlägen erzeugten sie auf ihren grossen Pauken Spannung und jeder Schlag war im Zwerchfell zu spüren.

Rudolph Brun selbst hatte ausgerufen und der ganzen Stadt verkündet: Die Juden müssen weg, bevor sie die Pest auch noch zu uns bringen. Tötet sie, verbrennt sie und verbannt sie!

Schon am Morgen hatte das Feuer neben dem Friedhof beim Wolfbach gebrannt. Die Flammen gingen nicht hoch, man sparte mit Holz. Aber in der Glut brannten Moses und Mordechai. Der eine war der Vater und der andere der Onkel des Kleinen. Der eine war aufgespiesst und schon tot; der andere zerrte noch vergeblich an seiner Fussfessel, bis ihn die Hitze in schrecklicher Verkrümmung erstarren liess.

Der Kleine war davongerannt, dem Wolfbach entlang, an der Predigerkirche vorbei, und er war schon fast zuhause, als er mit Verenalin zusammenstiess. Sie kreischte: Der böse kleine Jude trampelt auf das Kreuz! Rettet Euch, die Pest kommt!

Rücklings im tiefen Dreck kroch der Kleine weg von der Nonne, rappelte sich auf und floh. Kaum zwanzig Schritte weiter, um die Ecke, wäre er fast in die Menschen geprallt. Die Menge johlte und warf Steine. Die Juden der Gemeinde wurden aus ihren Häusern gezerrt und in einer Reihe abgeführt. Die Schlinge um ihren Hals zog an den zusammengebundenen Händen im Rücken des Vordermanns oder Frau.

Da war auch die Grossmutter. Ihre roten Haare, die sie in der Öffentlichkeit sonst immer so sorgfältig verbarg, hingen ihr wirr um den Kopf. Das Gewand war zerrissen. Schneeweisse Haut, rote Striemen und blutige Kleiderfetzen auf ihrem Rücken zeugten von Peitschenhieben. Die bis gestern so stolze Frau Minne, Wittfrau des Menachem, war nur noch eine schlurfend mitgezogene Gestalt, eine unter den anderen jüdischen Opfern, die mit hängenden Köpfen hintereinander hertrotteten. Wer in die keifenden Gesichter der Nachbarn aufsah, wurde geschlagen, oder sonst hart getroffen.

Die Grossmutter hatte ihrem Enkel am frühen Morgen das schwarz gestreifte Tuch mit den weissen Schaufäden umgebunden. Warum durfte er schon sein Gebetsmantel-Tuch anziehen? Seinen neuen Tales sollte er doch erst nächstes Jahr zur Bar Mizwa erhalten. Er hob den Kopf, als sie sich keuchend aufrichtete, um kurz zu verschnaufen. Die Grossmutter erkannte seine nackte Angst. Sie drückte ihn kurz an sich, ihren Kleinen, der schon nicht mehr so klein war. Mit feinen ledernen Riemen band die Grossmutter viele in das Tuch gehüllte, engbeschriebene Blätter Pergament auf seinen Leib, ein ganzes Buch.

Das ist das Wichtigste. Bring es Deinem Vater, sie werden ihn freilassen. Ich habe alles organisiert und bezahlt. Du wirst mit ihm fliehen. Aber der Vater war auf den Scheiterhaufen gebunden und brannte oben am Wolfbach. Das Buch seines Vaters Mosche Ben Menachem, der S’mak von Zürich, war berühmt. Warum wusste der Kleine nicht. Er hatte es auswendig gelernt, wie auch die fünf Bücher des Chumasch; er war schon fast perfekt.

Die Grossmutter trottete mit den Elenden, als sie den Kleinen inmitten der gaffenden und geifernden Meute erblickte. Sie stolperte, als die stockende Menschenschlange sich wieder in Gang setzte. Die Schlinge würgte sie, aber ihre aufgerissenen Augen blieben an ihrem kleinen Enkel hängen, während sie sich fast erstickt aufrappelte.

Ersäuft alle Juden in der Limmat!

Hoch erhobene Kreuze und Fackeln wurden von Mönchen die Gasse hinaufgetragen. Der Gesang liess den Lärm verstummen. Die Peitschen der Wachen und Büttel des Rates knallten umso lauter durch die hohen Häuser.

Der kleine Jude rannte über den oberen Mühlesteg in die mindere Stadt. Die Kirchenglocken läuteten Sturm. Jede einzelne und der ganze Chor der Glocken schienen sich zu empören: Gegen die Juden oder über ihr Schicksal? Durch das Rennwegtor flitzte der kleine Jude stadtauswärts an den Wachen vorbei, hinaus nach St. Jakob und weiter, bloss weg. Er rannte und rannte nach Westen, nach Norden, nach Osten und Süden, am Tag und in der Nacht, er achtete kaum auf seinen Atem und die unbewusst gezählten Schritte: Eins zwei drei, eins zwei drei vier; hhh homhom, hhh homhomhom, hhh homhom, hhh homhomhom.

Das Bildnis des Herrn am Kreuze bannte alles Böse. Fünfhundert Jahre und länger wurden keine Juden in unserem Land geduldet.

Weisst Du das nicht?

Als er nicht mehr rannte, klammerten sich die Seiten des Buches seines Vaters um seinen Leib. Wolkenlos blaue Himmel, die Sterne des Firmamentes, alle Wetter und Unwetter stürzten auf ihn.

Lauter Geschichten hatten sie ihm erzählt; nichts und alles hatte ihn auf das vorbereitet, was geschah. Das Wichtigste hatte die Grossmutter gesagt und ihm das Buch des Vaters umgebunden. Das Wort seines Vaters war berühmt.

Was Du in Dir trägst, ist das Wichtigste, das kann Dir niemand nehmen.

Aber in mir habe ich nur Fragen.

Eben! Das ist das Wichtigste, hatte Moses ben Menachem zu ihm gesagt und sein Sohn hatte ihn noch nie so lange zögern gesehen. Antworten waren spärlich im Unterricht. Aber seine Rückfragen kamen meist vor dem Ende der Frage. In den Bart hatte er sich gegriffen und mehr als dreimal den Oberkörper vor und zurück gewippt, und dann doch nachgefragt: Gott hat nur eine Frage an Dich, welche?

Wo bist Du, wusste der Kleine sofort. Aber wen kann ich fragen?

Seine ganze Welt.

Und nach langer Pause erklärte der Vater doch: RamBaM, der grosse Rebbe Moses Maimonides, sagt uns, dass der Verstand, der Verstehende und das Verstandene in Gott eine Sache sind. Der Unendliche ist in jedem Wort, in jedem Ding und in jedem der über diese Dinge denkt und spricht. Geh hin und lerne!

Er kam in eine Stadt. Er ging dort zum höchst angesehensten Rebbe und rezitierte singend den Chumasch, die fünf Bücher, die Kommentare der Weisen und das Buch seines Vaters. Aber im Buch seines Vaters standen nur Muster von Verträgen: Verträge zum Heiraten, zum Geldverleihen und der Wert dieses Wissens erschloss sich dem Kleinen nicht. Man gab ihm Papier und Feder. Nach einer Probeseite durfte er die Kopie des S’mak auf Pergament schreiben. Man verköstigte den Kleinen und er zog in die nächste Stadt und tat dasselbe. Er kannte jedes Wort, das er schrieb, aber verstand nichts.

Er rannte weiter und weiter. Im Aschkanas, im Zarphat und erst recht im Spharad waren viele jüdische Gemeinden zerstört und abgebrannt. Er sang, wenn er nicht rannte oder summte. Er lag auf Gras und nackter Erde. Die Lichtung mit allen Pflanzen, Gewürm und kleinem Getier drehte sich um den kleinen Juden, und schneller noch drehte sich aussen der Wald mit den Pilzen, Wurzeln und grösseren Tieren, und darum herum rasten die Hügel, die Gewässer und Auen, und alles darum herum bis in die Unendlichkeit. Und aus einem leeren Violenkasten dröhnten lautlose Töne die blau oder weiss bemalten Stufen der Wendeltreppe hinab, aber wenn er aufblickte, waren sie wechselnd rot und weiss bemalt.

Er hatte eine Frage; sie öffnete sich wie eine Blume und ihr Duft durchdrang seinen ganzen Leib. Manchmal würgte sie und drohte ihn zu ersticken, und dann drehte sie sich spiralig und verzweigte sich zu immer neuen und weiteren Fragen in die Höhe und Tiefe und alle Richtungen und sie sprossen, wie aus einer in atemberaubenden Tempo wachsenden Pflanze, die sich selbst umschloss, riesig gross und winzig klein bis in die Unendlichkeit.

Der kleine Jude hatte mit den Kindern gespielt. Der Fragende musste das andere Kind an der Hand oder den Ohren, Nasen oder gar am Knie oder Füssen berühren und fragen: Hoffnung oder Wahrheit, eins zwei drei?

Der Kleine war wahrheitssüchtig.

Als Verenalins Vater merkte, dass seine Tochter lesen und schreiben konnte, verprügelte er sie schlimm. Sie flüchtete in den Frauenkonvent der heiligen Verena bei der Predigerkirche. Monate später besuchte die Novizin heimlich ihre Mutter im Hause der Familie von Meiss an den oberen Zäunen. Prompt erwischte sie der Vater. Er sperrte sie zuhause ein. Er schlug sie blau und grün. Nur die Mutter konnte noch Schlimmeres verhindern. Als Verenalin weinte und um väterliche Gnade bettelte, verhöhnte er sie: Sie müsse so lange in ihrer Kammer bleiben, bis sie wieder präsentabel sei. Die väterliche Wut sei verständlich, setzte die Mutter um Versöhnung heischend obendrauf. Conrad von Meiss musste nämlich befürchten, vertragsbrüchig zu werden. Im Suff hatte er seine schöne Tochter Verena dem Vorsteher der Metzgerzunft zum Widder versprochen. Jakob Gelstner, der mächtigste Zunftmeister Stadt, und der höchste Constabler von Meiss hatten sich nämlich im Beisein des Bürgermeisters Rudolf Brun geeinigt: die Juden sollten vertrieben, die Schulden bei ihnen gelöscht und ihr Gut verteilt werden. Verena war das Pfand dieses heimlichen Bundes.

Am Sankt-Matthias-Tag war der Vater noch vor Sonnenaufgang ausser Haus gegangen. Kurz vor Mittag kam er offensichtlich schon betrunken nach Hause. Im Erdgeschoss legte er Helm und Schwert auf einen Stuhl. Verena war im Turmzimmer eingesperrt als er hochkam. In leichter Rüstung stürmte er in ihre Kammer unter dem spitzen Dach. Als er seine Tochter immer noch im Novizengewand sah, packte er sie mit Fäusten an beiden Armen und schrie in ihr Gesicht, auch sie werde lernen zu gehorchen. Er prahlte, heute würden alle Feinde des Heilands vernichtet. Höchstselbst habe er die Ergreifung und Verbrennung der jüdischen Brüder Menachem überwacht: Sie brennen, oben am Wolfbach.

Erregt liess er die Jungfer los, drehte sich und stolperte zur Türe hinaus. In der Aufregung vergass er abzuschliessen. Er polterte die vielen Treppen des Turmhauses hinunter. Vor dem untersten Geschoss hörte man ihn schrecklich stürzen. Mutter und Magd schrien laut. Mit Hilfe des Knechts brachten sie den angeschlagenen Constabler in die gute Stube.

Verena hatte das Stöhnen des Vaters und das Flüstern der besorgten Frauen noch gehört, als sie leise aus dem Haus ihrer Eltern geschlichen war. Auf Umwegen war sie durch die Stadt gerannt: die Kirchgasse hinunter, am Grossmünster vorbei und über die Limmat; ein Stück flussabwärts wechselte sie von der minderen Stadt wieder über die Brücke beim Rathaus und wollte hinauf zum Convent. Sie hatte sich eben am Zug der gefangenen Juden und der gaffenden Menge vorbeigedrückt und hatte das Haus der Frauen der heiligen Verena schon fast erreicht, als sie mit dem kleinen Juden zusammenstiess. Mit ihrem Schrei hatte sie ihn gewarnt. Sie hatte ihn gerettet. Ungebremst wäre er doch in die Prozession der jüdischen Opfer und ihrer Feinde gerannt, mit allen anderen in ein Gitter gepfercht und in der Limmat ertränkt worden. Ihr Eingreifen war ein Zeichen des Herrn.

Der Tag des heiligen Matthias demonstrierte doch, wie ein Fluch durch Gottes Willen zum Segen wird. Wurde nicht Judas Iskariot, der geldgierige Mörder, Leugner und Verräter am Erlöser Jesus, durch einen Heiligen ersetzt. Anstelle des verdammten Juden wurde Matthias zum zwölften Apostel erwählt. Am Matthiastag erfüllte sich die Weissagung, dass mit dem Sinnbild des Bösen, Judas, das ganze Volk der Juden dem Untergang geweiht sei. Die Stadt wurde vor Juden und Seuche gerettet! Gelobt sei der Herr!

Schwester Verena betete regelmässig zum Heiligen Matthias, denn zweimal wurde an seinem Namenstag nicht nur die ganze Stadt, sondern auch sie selbst gerettet. Just ein Jahr nach der Vertreibung von Juden und Seuchen, wieder am Tag des heiligen Matthias, manifestierte sich der Wille Gottes in der Mordnacht von Zürich erneut.

Die Feinde der Brun’schen Zunftverfassung, die Freunde der Habsburger in der Stadt Zürich waren angeschlagen aber noch nicht besiegt und vertrieben. Der alte Adel und die noblen Constabler hatten ihren Juden den vertraglich zugesicherten Schutz nicht mehr gewährleisten können. Einige Noble, Zünfter und einfache Bürger waren durch Vertreibung und Ermordung der Juden ihre Schulden losgeworden. Das Kräfteverhältnis in Zürich neigte sich immer mehr zugunsten von Brun und seiner neuen Zunftverfassung. Aber nur ein Teil der Constabler hatte sich schon zu Beginn auf die Seite Bruns geschlagen. Conrad von Meiss wurde verdächtigt, sich mit beiden Parteien gut stellen zu wollen. Zudem stand Verenas Vater noch immer in einer speziellen Schuld gegenüber dem Zunftmeister zum Widder. Der Metzger Gelstner pochte auf Einhaltung des geheimen Heiratsversprechens.

Der Vater hatte Verena einen Brief in den Frauenkonvent geschickt. Ihr Seelenheil sei das eine, aber die Ehre der Familie das andere. Er erinnerte seine Tochter an ihre christliche Pflicht, ihre Eltern zu ehren. Sie sei nun mal dem Metzger versprochen und müsse das Wort des Vaters erfüllen, ob sie wolle oder nicht. Er habe Mittel, die er lieber vermeiden würde.

Verena fühlte sich nicht mehr sicher in ihrem Konvent. Darum hatte sie gebeten, im Kloster Oetenbach aufgenommen zu werden. In der Schreibwerkstatt des zweitgrössten Frauenklosters der Stadt war sie als Novizin hochwillkommen. Aber der Vater und der Metzger liessen sich nicht aufhalten.

Am Tag vor Matthias drangen drei vermummte Gesellen sogar ins Frauenkloster ein. Sie raubten Verena. Sie wehrte sich verzweifelt. Sie hielten ihr den Mund, bis sie fast erstickt wäre. Im Haus des Zunftmeisters erwachte sie aus ihrer Ohnmacht. Gelstner, ein ungehobelter riesiger Mann, sass am Tisch. Morgen, zu Sankt Matthias werde im Grossmünster geheiratet, höhnte er. Der Metzger schmatzte an seiner Wurst und schlürfte den zweiten Becher Wein. Er stierte auf die schöne Constablerstochter, die sich ihm nun schon seit mehr als einem Jahr verweigerte. Er machte Anstalten, sich schon vor der Hochzeit mit Gewalt nehmen, was ihm doch zustünde. Verena hatte sich schon ein Messer von der Tafel gegriffen. Sie wollte sich bis zum Letzten verteidigen.

Da klopfte es heftig und Rufe drangen durch die verschlossene Türe. Der Zunftmeister müsse aufmachen. Die Stadt sei verraten worden. Verbannte Constabler, Habsburger und andere Feinde des Bürgermeisters Brun wollten Morden und die Macht übernehmen. Der Metzger rüstete sich sofort. Er öffnete seine Waffenschränke und griff nach seinem persönlichen Schwert. Seine Gesellen nahmen halblange Halparten und die kürzeren Schlachtbeile.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, rief Gelstner Verena noch zu und verschwand im Dunkeln. Sein Opfergang sei für die Stadt heldenhaft gewesen. Ein halbes Duzend Auswärtige habe er mit sich gerissen, hiess es später. Sein Tod rettete auch Verena.

Die Gesellen der Metzgerzunft zum Widder hatten die Stadt Zürich gerettet. Mit dem Isengrind, ihrer gehörnten Eisenstange, hatten sie die Türe des Hauses gerammt, in dem sich die eingedrungenen Feinde heimlich versammelt hatten. Sie töteten, erstachen und erschlugen alle. Drei Jahre später erlaubte der Bürgermeister Rudolf Brun und der hohe Rat den Metzgern, ihren Sieg über die Pest, die Juden und alle Feinde der Stadt von nun an jedes Jahr zu feiern. Mit dem schweren langen Sturmbock Isengrind voran, mit Halparten und Schlachtbeilen, mit Knallen von Peitschen und Geknatter von Rätschen, unter Geheul und Johlen, beleuchtet von Fakeln trieben sie seither die Judensau jeden Frühling durch und aus der Stadt. Vor dem Rennwegtor wurde sie geschlachtet, gebraten und öffentlich verteilt.

Alle wussten, er war ein kleiner Jude, ein Stock und ein sturer Bock. In Italien war der kleine Jude aus Holz und hatte eine lange Lügennase. Auch in Spanien erzählte der Jude Lügen, und seine Nase wand sich um die ganze Welt, von der er behauptete, sie sei eine Kugel. Und in Frankreich war nicht nur seine grosse Nase bekannt. Dort hatte der Jude auch einen Buckel aus Bosheit, und aus allen seinen Säcken tropfte Gold. Und wie konnte es der Herr, gesegnet sei er, zulassen, dass auch in Zürich wieder Juden ihr höllisches Unwesen treiben konnten. Ein Böögg, ein Nasenpopel, der weggespickt gehörte, war der kleine Jude. Mit Hilfe des Herrn, des Heilandes Jesus und durch die Inquisition der Kirche seines heiligen Geistes würden die Juden bald endgültig aus der Eidgenossenschaft verbannt bleiben, für alle Zeiten.

Bald wird wieder Ostern. Die Juden werden an ihrem Pessachfest die Befreiung feiern, und die Christen feiern viel Grösseres, nämlich das Heil der Welt, die Erlösung durch den Opfergang Jesu.

In Jerusalem war ein jüdischer Wunderheiler und Prediger an einem Holzkreuz zu Tode gefoltert worden. Seine Rede war den Herschenden gefährlich erschienen. Aber nach dem Opfertod Jeshua ben Miriam miNazeret bauten Generationen von Jüngern ein Reich des Himmels und der Verdamnis auf seinen Visionen. Wo immer ihre christliche Macht sich erstreckte, wurden die Juden verfolgt. Nur der zu Tode gemarterte Jude war heilig.

Nach mehr als einem halben Jahrtausend hatte das Judentum auf der arabischen Halbinsel noch einmal geboren, in schrecklichen Wehen und andauernden Nachwehen. Für Allah höchstselbst hatte der Prophet Mohamed die Juden vertrieben und vernichtet. Er feierte seine Siege, liess sie segnen und durch Schreiber verewigen. Die neue Heilsgeschichte, der Koran, und seine Macht, der Islam, breiteten sich blutig und siegreich nach Afrika, Asien und Europa aus. Es wird erzählt, im Lande der Berber hätte die jüdische Königin Kohana den muslimischen Heeren noch viele Jahre widerstanden, und im Osten der Ukraine habe der sagenhafte jüdische Chasaren-König Khagan Bek dem Islam getrotzt. Als es im Reich Allahs kaum noch Juden gab, begannen die Herscher ihre nützlichen Reste zu dulden, unterdrückte verschüchterte Menschen, die sich um ihr gemeinsame Überlieferungenscharten, und sich an deren widersprüchlichen Fragen als Hoffnung und Offenbarung klammerten.

Ein halbes Jahrtausend nach dem Propheten Mohamed, rettete der Arzt und Philosoph Maimonides sein jüdisches Leben und Wissen. Der RamBam genannte Jude zog vom andalusischen Cordoba nach Frankreich, von dort nach Fès in Marokko, nach Alexandria und endlich nach Kairo. Auf einer lebenslangen Flucht versuchte er, Gott und seine Welt mit dem Verstand zu verstehen. Und sein Wissen mehrte sich, wo immer er hinkam. Ohne Hokuspokus, aber so gut er es eben konnte, linderte er das Leid der Menschen.

Mal da und mal dort brannten jüdische Häuser. Manchmal breiteten sich die Pogrome wie ein Flächenbrand aus, manchmal mottete das Übel nur lokal. In Spanien schwelten und loderten die Flammen über fünf Jahrhunderte, bis sie in Cordoba in Andalusien die ganze iberische Halbinsel erreicht hatten. In Massenveranstaltungen wurden die Juden durch hohe Gerichte verurteilt und zeremoniell verbrannt. Die Angst trieb Blüten und giftige Knospen. Die Menschen suchten Zuflucht und Trost in haltlosen Versprechungen. Die Fragen um die Einzigkeit der offenbarten Wahrheit und die Ewigkeit der Seele wurden auch mittels Blut nicht geklärt. Das war schon früher so und blieb auch nach dieser Zeit üblich.

Im Staate Israel träumten gewalttätige Führer vom totalen Sieg. In der Schweiz aber genoss ein alter kleiner Mann in einem Wagen der öffentlichen Verkehrsbetriebe das Schaukeln der Geschichte und der Geschichten. Wohlig döste er vor sich hin. Bald würde auf dem Sechseläutenplatz der Böögg explodieren, aber sein Gefährt machte einen grossen Bogen um die erregten Massen.

Es ischt emal xi xi xi, es war einmal. Aber sofort hatte er alles vergessen. Ein fürchterliches Poltern und hartes Knirschen weckten ihn. Deutlich spürte er die Bewegung auf der Höhe seiner Knie. Aussen zerquetschten Blumengebinde am Fenster. Seine Schläfe hatte eben noch an der feucht beschlagenen Scheibe gelegen. Da kam der Schlag. Weiter vor ihm barst die Wand. Ein schwerer Holzbalken drang splitternd in den Waggon und drückte den dritten Sitz vor ihm mit einem Knall in den Waggon der Trambahn.

Niemand war verletzt. Durch den klaffenden Spalt drang Kälte in die Kabine. Für einen Moment war alles still. Draussen hörte man Stimmen und in der Ferne eine Marschmusikkapelle. Die Türen öffneten sich. Aufgeregte Männer fragten, ob sie helfen könnten. Der Schaffner forderte die Fahrgäste auf, sich ruhig zu verhalten und zu evakuieren. Jemand half ihm. Der Schnee mischte sich mit feinen Regentropfen. Die Passagiere standen in kleinen Gruppen auf der Strasse und dem benachbarten Trottoir. Aufgeregt, fast freudig erzählten sie einander, was sie erlebt und gesehen hatten. Der Alte stand allein. Ein stattlicher Metzger mit Blumen geschmücktem Schlachtbeil und blanker Lederschürze stiess ihn beinahe um. Als er sah, dass nichts Schlimmes geschehen war, entschuldigte er sich wortreich und eilte davon. Ein Reisläufer in flammendem Faltengewand brachte ihn mit dem Schaft seiner Hellebarde doch noch zu Fall. Der junge Mann, der ihm aus dem havarierten Wagen geholfen hatte, war kurz um den Tramzug gegangen und hatte den Schaden von aussen besichtigt. Eben kam er wieder zurück und reichte ihm die Hand, fasste den Ellbogen des Alten und zog ihn zur Seite. Eine weitere Gruppe von festlich gekleideten Zunftleuten drückte sich durch die Menge. Sie hatten das Unglück gar nicht bemerkt und waren ob der Störung ihres Zuges ungehalten.

Glück im Unglück, sagte der junge Mann.

Was für ein Glück, war es eine Feststellung oder Frage? Der Alte sah auf seine nassen Schuhe. Tropfen und kleine Wellen veranstalteten in den Pfützen ein Lichtspiel. Schuhe traten in die Lachen. Unbewusst zerstörten und erzeugten sie neue Effekte. Vornehme Herren in Frack und Zylinder und alten Handwerkertrachten hasteten vorbei. Frauen in blauweissen und bunten Trachten trugen ein halbes Dutzend Blumensträusse in ihren Armen. Der Umzug der Zünfte sollte bald beginnen. Reiter zogen hinter dem Wagen vorbei. Das Licht im Innern des Tramwagens wurde ausgeschaltet. Die Passagiere und die gaffende Menge mussten sich dicht an die Häuserfassaden drücken. Der Rammbock mit Isengrind wurde auf dem Fuhrwerk der Metzgerzunft vorbeigezogen. Die ledernen Schürzen der Metzger waren hellbraun, unbeschmutzt von jeglichen Blutspuren, ihre Hemden schneeweiss. Zivil waren sie keine Handwerker, sondern Bankleute oder andere hochbezahlte Bürolisten im Kader von internationalen Firmen.

Sowas! Schnee am Sechseläuten! Das ist ein Fest! Ja, da erlebt man noch Sachen!

Wo wohnen Sie?

In Zürich.

In der Stadt?

Ja.

Finden Sie nach hause?

Ja. Glück im Unglück! Ja ja, da erlebt man noch Sachen!

Alles Gute! Der junge liess den alten Mann in der Kälte stehen.

In grauem Frack und Zylinderhut eilte ein zünftiger Schneider mit mannsgrosser Pappschere durch die Menge. Im Ersatzbus wurde dem Alten rasch wieder warm. Erneut lag sein Kopf am feucht-kühlen Fensterglas. Er wusste nicht mehr, was ihn so erschreckt hatte. Tä pfnn tä pfnn tä pfnn. Täräp täp täriäräptät täriäräptät, tärum tärum tä didäräp, täräp täp täriäräptät täriäräptät, tärum tärum tee. Die Marschkappele zog draussen vorbei. Das Sturmgeläut der Kirchen hörte er nur noch mit halbem Ohr.

Vor Ostern, am Ende des Winters, erinnern spektakuläre Volksfeste in vielen Städten Europas und Amerikas an die blutrünstige Vertreibung von bösen Geistern, Juden und Hexen. Riesige Pappmaschee Puppen werden durch die Strassen gekarrt und feierlich verbrannt. Die tätliche Bestrafung der Juden in der Figur Judas Iskariot wird in furchterregenden Zeremonien vorgeführt. An vielen Orten Puppen werden geschlagen und in die Luft gesprengt.

Kann man unbewusst erinnern? In aller Unschuld haben romantische Zünfter im 19. Jahrhundert in Zürich das Sechseläuten wieder aufleben lassen. Da war der Jude noch Inbegriff des Bösen. Die Stadt feiert ihre Rettung vor allen bösen Mächten noch heute. In Unschuld? Weiss sie nicht, was sie tut? Wann hatte er so etwas geschrieben? Warum sollte es wichtig sein, zu beweisen, dass der Böögg einen Judennasen-Popel darstellt?

War es das Gehabe der Leute von Seldwyla, das Märchen vom König ohne Kleider, die aufgeblasenen Zünfter, die Bonzen am Sechseläuten, das Verbergen und Verleugnen der eigenen Geschichte? War es der kleine Nasenpopel, der jüdische Sündenbock für alles Ungemach im Lauf der Welt? War es die kollektive Verblendung, die in überkommener Herrschaft oder in blutigen Revolutionen zu üppigster Blüte kommt? In der wohligen Wärme der Busfahrt tauchten die uralten Geschichten wieder auf. Alles wollte er erzählen, aber wer würde es verstehen? Es war ihm bang und sturm. Die alten bösen Geister könnten entfesselt werden. Wird der eine auf den andern erst recht mit Argumenten wie Knüppeln des Kaspertheaters schlagen? Können Geschichten schwarze Löcher füllen, oder füttern sie sie bloss?

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