Abischai

Abischai aus Zawidow war ein wilder Mensch. Alles, meinte er, habe er sich selbst beigebracht. Als ob irgendeiner nur schon das kleinste Bisschen ohne Mitmenschen wissen könnte.

Abischai sah sich als freien Menschen, der nicht darauf wartete, dass ihm jemand eine Freiheit schenkte. Wenn er von einer Reise auf seinem Pferd nach Hause geritten kam, blies er schon vor dem Städtchen unverkennbar in sein Horn, und alle wussten, er war wieder da. Die Kinder liefen ihm entgegen und er warf ihnen Bonbons aus der Satteltasche zu.

Woher Abischai kam, aus welchem Dreck er sich gezogen hatte, und wie er dies geschafft hatte, wusste niemand. Er war einfach Abischai, den alle als den Stärksten und Klügsten achteten, bewunderten und ja, sogar etwas liebten. Abischai war für alle in seinem Städtchen unentbehrlich geworden. Vor allem die Notabeln brauchten ihn. Er sponserte die Schule, das Gebetshaus und er organisierte den Handel. Die Beziehungen der jüdischen Gemeinde zur Obrigkeit des Städtchens und Herrschaft Zawidow, waren bald nur von der Güte, die Abischai nach seinem Vermögen herstellen konnte.

Einmal aber war Abischai von einer Reise durch Sachsen, Preussen, Württemberg, noch mehr deutsche Länder und durch Frankreich zu spät nach hause zurückgekehrt. Viele jüdische Häuser in Zawidow waren abgebrannt, die Synagoge geplündert, die Torarolle und einige Frauen geschändet und der Vorsteher und der Kantor abgestochen worden.

Abischai hatte von all dem nichts gewusst, war in der Fremde gewesen, zum Heiraten. Ein besonderes Mädchen sei diese Eva, hatte Cerf Beer gesagt. Beer war der Vormund vieler junger Frauen; er liebe sie alle wie eigene Kinder. Aber diese würde er nicht jedem zur Frau geben, denn nur ein starker Mann, könne ihr das geben, was sie braucht. Ein Mann, der geben könne, damit sie geben kann. Er glaube und hoffe, dass Abischai dieser Mann für Chawa sei.

Abischai gingen die Augen über, als er Chawa im Hause Cerf Beers sah. Keine Frage, dass er dieses Weib zu seiner Frau machen wollte. Den Zweifel im Blick seiner Zukünftigen sah er nicht. Er sah nur noch die Hand Cerf Beers, die er freudig ergriff, und mit dem auf Deutsch zu «Hals- und Beinbruch» verballhornten Segensspruch, «Hazlacha u Bracha», schlug er zustimmend ein: «Ja, Glück und Segen».

Am Abend dieses Tages schlich Chawa klammen Herzens in Beers Kontor. Eigentlich hatte eine Frau dort nichts zu suchen. Herz sah Evas Verzweiflung sofort. Sie weinte und warf sich vor seine Füsse. Sie küsste seine Hose und die Schuhe, und ihr leises schluchzendes Betteln drang wie gellende Schreie in sein Herz. Nur seine Frau wollte Ève werden.

Herz Cerf Beers erste Frau war vor fast einem Jahr gestorben; die Trauerzeit war bald um. Er hatte sich aber einer anderen versprochen, einer Witfrau, die und deren Söhne ihn sicher dringender brauchten als Ève. Tatsächlich hatte er zuerst mit dem Gedanken gespielt, seine Ève zu heiraten. Aber das ging nicht; Ève war doch eine seiner Töchter.

Ève umschlang seine Beine, so dass Beer schon um sein Gleichgewicht fürchtete. Knieend drückte sie ihren Kopf an seinen Leib und spürte seine sich regende Schlange. Er zog Chawa, seine Chawa schnell hoch auf die Beine, küsste ihre Locken, ihre Tränen und streichelte sie. Sie aber hatte die Schlange schon gepackt, sanft, liebkosend und fordernd, und ihr Schluchzen und die Tränen wichen einer Erregung, der er nicht widerstehen konnte. So erkannte Herz die Frau in Ève, drei Tage bevor sie Abischai heiratete.

Herz Cerf Beer zahlte Chawas Mitgift in die Hand Abischais. Nach der Vermählung war Abischais Ehe noch in Beers Haus vollzogen worden. Und wenn Eva auf einem Teil der langen Strecke nach Zawidow wieder einmal allein in der Postkutsche sass, die Abischai sonst auf seinem Ross reitend begleitete, hüpfte er in die Kutsche und sie taten es viele Male. Aber die Frucht in Chawas Leib würde das geheime Kind von Hirsch werden; sie wusste das schon von Anbeginn. Abischai drang in sie ein, wie ein wildes, vor Hunger blindes Tier. Eva war zufrieden.

Abischai kam später als geplant nach Zawidow zurück, zu spät. Er hatte unterwegs Gerüchte gehört. Die letzten drei Tage war er der Postkutsche mit seiner Frau und dem Gepäck vorausgeritten so schnell er nur konnte. Als er zuhause ankam, sah er die Häuser seines Städtchens noch brennen. Sofort ritt er weiter zum Reichsgrafen. Fast den ganzen, ihm von Cerf Beer in die Hand ausbezahlten Teil von Chawas Mitgift musste er dem Grafen als neues Schutzgeld zahlen. Der Reichsgraf entliess Abischai mit huldvoll zufriedenem Lächeln. Als handfestes Zeichen der gräflichen Gunst, wurde Abischai von einem Duzend berittener Mitrailleure in das Städtchen begleitet. Wütend blies er in sein Horn, als sie sich näherten. Niemand würde es in der nächsten Zeit wagen, den Juden von Zawidow noch einmal etwas anzutun.

Im Städtchen sass Chawa auf ihren Koffern im Dreck zwischen rauchenden Trümmern, beäugt von den verschüchterten Resten der jüdischen Gemeinde. Chawa kam zur richtigen Zeit. Sie half nach Kräften, die Gemeinde wiederaufzubauen. Abischai war nicht bankrott, aber blank. Ohne Evas Mitgift wäre er für das Schutzgeld nicht liquid gewesen. Die Ausstände waren verteilt und nicht sofort einzutreiben. Eva vertraute Abischai, und er vertraute ihr. Er sah, wie gut sie rechnen konnte.

Eva gebar einen Knaben und ein Mädchen, Beer und Chaia. Das «täire Beerele» war Abischais Ein und Alles, Chawa liebte beide. Dass sie die Geburt von Zwillingen überlebte, war ein Wunder, aber Chawa dachte an ihre Mutter, die ihrer Tochter alles zugetraut hatte.

Eva verstand viele Dinge. Sie wusste, wie Kleider gemacht wurden, Schuhe und sogar Werkzeuge aus Eisen oder Schmuck, oder wie Gemüse im Garten gepflanzt und gekocht werden musste. Sie verstand sich mit den Menschen und den Tieren. Bald sprach sie auch die Sprachen des Landes und der Bauern, als hätte sie schon immer hier in Zawidow gelebt, zwischen Deutschen, Sorben, Polen, Tschechen und Juden. Sobald sie dem Wochenbett entstiegen war, nahm sie jede freie Zeit, welche ihr die Säuglinge liessen, für die Geschäfte. Abischai konnte seine Reisen mit ruhigem und sicherem Gewissen unternehmen. Jeder und sogar die Notabeln wussten, dass Eva die Geschäfte in Abischais Haus genauso führte, wie der Hausherr es selbst konnte.

Wer Arbeit wollte, fand sie bei Eva. Sie zeigte den Frauen, wie ein gutes Kleid genäht wurde, und für gute Arbeit zahlte sie gut. Sobald es ihr möglich war, liess sie ein prächtiges Kleid nähen. Eva selbst nähte die echten edlen Steine und Gold in den Saum. Mit dem schmuckvollen Kleid als Geschenk besuchte sie des Reichsgrafen Frau. Die Dame war hocherfreut, als sie Französisch parlieren konnte. Mit echter Neugier fragte sie Eva nach allem möglichen aus. Das vierhändige Spiel auf dem Cembalo brachte sie einander noch näher. Beim nächsten Besuch nahm sie ihr Cello mit.

Eva hatte mit Abischai einen Brief an den Grafen geschrieben aber noch keine Antwort erhalten. Die hohe Frau versprach, in aller gebotenen Vorsicht, ihren Gatten auf das Angebot aus Zawidow anzusprechen. Abischai versprach darin, die Geschäfte durch Finanzierung der lokalen Produktion erheblich auszuweiten, wenn er des Schutzes des Reichsgrafen sicher sein könne. Er bat über die Schutzzölle um ein Gespräch.

Ein berittener Bote brachte die Einladung zur privaten Audienz. Unerhörtes geschah: Der Reichsgraf lud den Juden Abischai und seine verehrte Gattin mit dem Bürgermeister des Städtchens Zawidow und dessen Gemahlin zum gemeinsamen Mahl ein. Sie wurden mit üppigem Fleisch, Wein und erlesenen Früchten bewirtet. Man wurde sich einig. Eva und Abischai bekamen freie Hand. Zum Andenken an dieses Ereignis beschenkte Abischai den Fürsten und den Bürgermeister mit je einem gediegenen Becher. Ungemach drohte trotzdem. Denn die erfolgreichen Geschäfte der Frauen weckten Neid.

Eines Tages stand ein armer fremder Schuhmacher mit seiner Familie vor dem Hause Abischais, sie waren hungrig und halb erfroren. Eva liess warmes Wasser in der Waschküche bereiten, hiess sie am gemeinsamen Tisch essen und im Stall schlafen. Sie waren getaufte Juden aus Ungarn. Mit strahlenden Gesichtern sprachen und sangen sie die Gebete mit. Es war so besonders, denn wieder einmal war Pessach, das Fest der Befreiung und Auszugs aus Ägypten:
«Ma nischtana ha Laila hase, was ist so besonders an dieser Nacht?»

«Die heimliche Freiheit, die wirklich eigene, geheime Freiheit ist wohl die schönste.» Eva dachte an die Feste im Hause Cerf Beers. Sie hielt sich zurück in den Diskussionen aber hätte doch so viel mehr zu sagen gehabt. Die Familie des ungarischen Schumachers war gross und einige Kinder waren wirklich aufgeweckt.

Eva liess sich die Arbeit des Schuhmachers zeigen. Sie war über die Qualität erfreut und fragte nach seinen Preisvorstellungen. Das Geschäft war klar. Der Schutzzoll des Schumachers wurde von Abischai als Darlehen bezahlt. Der Anschein sollte vermieden werden, der Getaufte wäre ein Teil der jüdischen Gemeinde. Nachdem die Ansprüche des Grafen und des Bürgermeisteramtes befriedigt waren, durfte sich der Ungar im eigenen Haus niederlassen. Als getaufter Christ mussten er, seine Familie und sein Gewerbe als Schuhmacher geduldet werden. Die Kinder des Schuhmachers gingen in die christliche Schule und die Familie ging in die Kirche zur Messe, wann immer es sich gehörte.

Aber niemand wollte dort neben dieser Familie sitzen. Die Kinder wurden auf dem Schulweg gehänselt und geplagt. Die zweitjüngste Tochter verlor ein Auge. Nach wenigen Wochen fand der Schuhmacher seinen Hahn, den er aus dem Darlehen Abischais gekauft hatte, nicht mehr im Garten, sondern blutend an die Hoftüre genagelt. «Judas, falscher Jude, falscher Christ» stand mit Kreide auf der Mauer seines Hauses und auch am Hause Abischais waren Drohungen in krakeliger Schrift und unbeholfener Orthographie zu lesen. Klagen waren laut geworden, dass Evas Auftragsarbeiten der Frauen die Geschäfte der Handwerker konkurrenzieren könnten. Da drohte ein getaufter jüdischer Schuhmacher den brodelnden Topf zum Überlaufen zu bringen.

Abischai ging sofort zum Bürgermeister. Fast ein duzend Tuchmacher, Schneider und Schuhmacher waren sogleich hinterhergerannt und lautstark polternd ins Bürgermeisteramt gedrungen. Der Weibel musste sein Schwert zücken, um die Ruhe notdürftig herzustellen. Die Handwerker forderten Ersatz für ihren angeblich entgangenen Verdienst und ein Verbot der Verlagsarbeit durch Abischai und sein Weib. Abischai bot sofort an, Ersatz zu zahlen. Das Verbot könne er aber nicht akzeptieren. Er bezahle sogar die eineinhalbfache Summe als Ersatz und zudem verspreche er, für Verlagsarbeit guter Qualität allein bis Ende des Jahres ein Vielfaches der Summe als Verdienst zu zahlen. Dann wolle er aber nie mehr etwas von Ersatzzahlungen hören. Zudem verlangte er, dass dem Töchterchen des Schuhmachers Entgelt für das Auge bezahlt würde, und er oder seine Frau wollten dabei sein, wenn der Vater der schuldigen Familie das Schmerzensgeld zahle. Der Vorschlag Abischais wurde akzeptiert, nachdem er das Ersatzgeld von eineinhalb auf den vollen doppelten Betrag erhöht hatte.

Eva tröstete den offensichtlich verprügelten Jungen, der zusammen mit seinem Vater wenige Tage später vor ihrer Haustüre stand. Auch dieser Vater war Schuhmacher. Er zog die Mütze vom Kopf, verbeugte sich hastig vor Eva, stiess sein Söhnchen vor sich, damit es sich ebenfalls gehörig verbeuge, und dann gingen sie gemeinsam zum getauften Schuhmacher. Dort entschuldigte er sich beim Kollegen und dessen Tochter für das Auge. Darauf versprach ihm Eva Arbeit, damit er die Schuld begleichen könne. Die Arbeit müsse aber von guter Qualität sein und bei guter Qualität werde es noch mehr Arbeit geben und Frieden: «Schalom, so Gott will, und wir Menschen etwas dafür tun.»

Eva kontrollierte nicht nur die fertige Ware. Sie liess sich die Arbeitsweise jedes Lieferanten zeigen. Manchmal liess sie sich bei solchen Visitationen vom getauften Schuhmacher begleiten. Sie machte Vorschläge, wie die Arbeit verbessert werden konnte. Das Wissen wurde nun ausgetauscht und nicht mehr in jeder Familie geheim bewahrt. Einheitliche Grössen, Damenschuhe nach französischer Mode, Marschschuhe, Uniformen und Stiefel für das Militär. Abischai lieferte nach Breslau, Dresden, Berlin, Prag und bis nach Lemberg. Abischai liess ein neues Haus bauen. Sein Beerele setzte er oft vor sich auf den bequemen Sattel, wenn seine Reise nicht weit wegführte. Später hatte der kleine Bär auch ein eigenes Pferd. Er lernte das Horn zu blasen und bald kündeten zwei Hörner die Rückkehr Abischais und seines erstgeborenen Sohnes. Der kleine Beer, war gross und stark für sein Alter, ganz der Vater.

Chaia aber blieb bei ihrer Mutter. Selbstverständlich lernte sie Cello zu spielen. Sie lernte auch das Cembalospiel und eigentlich jedes Instrument, welches sie genug lange in die Finger bekam. Aufgeregt probierte sie aus, wie und was für Töne und Geräusche sich auf diesem Teil erzeugen liessen. Grosser Streit entspannte sich, als Chaia das Horn ihres Vaters entdeckte. Beer wollte nicht, dass seine Schwester auf dem Horn mit ihm konkurrieren könnte. Abischai fand es gerecht, dass Beer dieses Instrument für sich allein haben wollte.

Eva zelebrierte und feierte den Schabat und die jüdischen Festtage. Sie kochte die entsprechenden Gerichte und wenn Abischai die Gebete nicht mehr wusste oder sprechen wollte, sprach sie. An ihrem grossen Familientisch sassen nicht nur ihr Mann und die Kinder, sondern alle Menschen im Haus. An Chanukka entzündete sie die Lichter des achtarmigen Leuchters, an jedem Tag eines mehr, und erklärte den Sinn des Festes. Wunder seien Symbole der Anwesenheit Gottes, aber Wunderglaube sei die Abwesenheit aller guten Geister, erklärte sie. Das wollte Chaia genauer verstehen: «Könnten auch in unserer Zeit noch Wunder geschehen?»

Da ergriff überraschend Abischai das Wort und aus seinem dichten Bart tönte es einfach: «Wir warten nicht auf göttliche Wunder, wir tun das Notwendige, jeden Tag!»

Dem konnte Eva nur zustimmen.

Abischai wagte sich seit vielen Jahren nicht mehr, seiner Frau zu nähern. Einmal hatte er sich betrunken und gewaltsam genommen, was einem Mann in der Ehe doch zusteht. Aber als dies ein zweites Mal so geschehen sollte, wehrte sich Eva erfolgreich mit einem Messer. Narben und sein leichtes Hinken zeichneten Abischai für den Rest seines Lebens und er musste seine Begierden gelegentlich anderswo stillen. Eva schlief fortan in der Bibliothek. Im Erker der Bibliothek richtete sie sich eine Bettstatt, einen Alkoven.

Nach dem Essen sass sie dort mit ihren Zwillingen und unterrichtete sie. Dann hatte sie bis spät in die Nacht Musse zu lesen. Das Licht im Erkerfenster schien immer zu leuchten. Die Cembalotöne und der Gesang von Mutter und Kindern wurden auch auf der Gasse vor dem Hause Abischai gehört. Evas Bibliothek war bald umfänglich und ihre grösste Lust war es, mit aller Welt zu korrespondieren. Freiheit und Gleichheit schien für alle Menschen erreichbar, ja, auch für Frauen.

Eines Tages klopfte ein wandernder Philosoph an die Tür. Er wolle ins schlesische Freystadt, welches die Polen heute Kozuchow nennen. Der dortige Graf habe ihm eine Lebensstelle angeboten. Das Haus Abischais war für die Rechtschaffenheit der Frau Eva Abischaia weitherum bekannt. Allerlei Menschen auf der Durchreise wurden grosszügig verköstigt. So mancher Schnorrer und Wanderrabbi wollte die jüdische Frau mit Wunderglaubens Sprüchen aus gelehrten Schriften und kabbalistischem Zauber beeindrucken oder gar ausnehmen. Wer Eva Abischaia für dumm verkaufen wollte, wurde mit einem Stück Brot und einem Schluck Wasser abgespeist und vor die Tür gesetzt.

Wie staunte Eva, dass die abgerissene Gestalt vor ihr, nach einem tüchtigen Schluck Wein verlangte und über Kants Kritik der reinen Vernunft diskutieren wollte. Er habe von Evas intellektuellen Interessen, ihrer grossartigen Bibliothek und ihrer Herkunft aus dem Hause Cerf Beers gehört. Noch zwischen Tür und Angel erklärte er ihr, dass er ihr zeigen könne, wie sich die kritische Philosophie Immanuel Kants mit Baruch de Spinozas, David Humes und Leibnitzens Systemen vereinigen lassen. Er sei weit herumgekommen in der Welt, er verstehe sich nicht darauf, Frauen zu scharmieren, aber Eva sei gewiss die gescheiteste Frau zwischen Berlin und St. Petersburg, die er angetroffen hätte. Er schenke ihr seine Schrift Versuch einer Transzendentalphilosophie, wenn er einige Tage verköstigt, seine Nase in ihrer Bibliothek schmökern lassen, und gelegentlich mit Frau Chawa Abischaia disputieren dürfe. Ihn gelüste nicht übermässig schnell nach Kozuchow zu gelangen, noch lange genug müsse er dort beim Grafen bleiben.

Durch ein offenes Fenster war ein junger Rabe in das Zimmer der Zwillinge geflattert. Er setzte sich auf das goldig glänzende Horn. Beer wollte ihn erschlagen, aber Chaia nahm das verschüchterte Federvieh, beschützte und pflegte es. Stolz zeigte sie den Raben dem mittlerweile verehrten Besuch. Der Philosoph beglückwünschte Chaia und fragte sie nach dem Namen des Vogels. Es seien schwere Zeiten, aber Malach Hamawet dürfe der kleine Schwarze wohl doch nicht heissen. «Glaubst Du an solche Märchen von Todesengeln, an gute und schlechte Vorzeichen?»

«Nein, nein, er heisst David», sagte Chaia schnell. Der Vogel David spazierte bald auf der Schulter der kleinen Cellospielerin und lauschte den Melodien wie ein grosser Kenner. Bald flog er einige Tage ums Haus herum, zurück aufs Fenstersims und bat eingelassen zu werden. David stahl das Essen von jedem unbewachten Teller. Im Stechflug zielte er auf seine Beute oder stolzierte gespreizt über den gedeckten Tisch. Chaia fühlte eine Enge in der Brust und zugleich fast ein weites Atmen, wenn sie den tollkühnen Flügen ihres Vogels nachschaute. Noch hockte er sich auf den Nussbaum im Garten, aber dann schwang sich David hoch und davon, über die Häuser und den Kirchturm auf dem Hügel über Zawidow, von dem aus die Sicht weit über das Land reicht.

Napoleon war für viele Juden der neue Befreier, kein Gott, kein Prophet, aber immerhin ein Mensch, der den Juden in Europa Freiheit versprach. Viele Juden waren begeistert von der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit aller Menschen.

Die Zeiten ändern sich und wieder einmal waren die Juden schuld an allen Übeln der Zeit. Wieder einmal war Abischai zu spät zurück in Zawidow. Zum zweiten Mal konnte auch er das Schlimmste nicht verhindern. Das Gemeindehaus mit der Schule und Betstube war abgebrannt. Eva selbst hatte dort einst die jüdischen und nichtjüdischen Kinder unterrichtet. Später wurde die einäugige Tochter des Schumachers aus Ungarn als Lehrerin angestellt. Die religiösen Feindschaften schienen überwunden.

Und doch brannten wieder jüdische Häuser und Menschen starben. Napoleon war noch nicht da, aber die Grafen und sogar Fürsten ringsum hatten keine Macht und keinen Willen mehr, dies zu verhindern. Der ungarische Schuhmacher und seine Frau verbrannten in ihrem Haus. Eva rannte durch das Dorf. Vergeblich klopfte sie an die Türen. Hilfe wurde ihr verweigert. Abischai fand sein Haus, Frau und Kinder belagert von einem Mob. Beer blies aus dem Fenster auf seiner Trompete den Vater um Hilfe herbei. Chaia beschützte ihr Cello. Abischai feuerte aus seiner Pistole einen Schuss in die Luft und Eva zielte mit einem Gewehr auf die Meute. Sie liessen die Abischais ziehen. Als Beer seinen Wagen anspannte, wussten sie nicht, dass sie nie mehr nach Zawidow zurückkehren würden.

Napoleon zog gegen Russland in den Krieg. Abischai, seine Familie und die einzigen zwei überlebenden Söhne des Schuhmachers begleiteten die grosse Armee der Franzosen. Abischai und seine Leute organisierten und verkauften Schuhe und andere Lederwaren. Ihre Hörner tönten fröhlich von ihrem Wagen. Auch Chaia hatte jetzt ein eigenes Horn. Die Zwillinge spielten im Lager der Tross-Fuhrwerke mit den Kindern der Gaukler und Huren. Beer lernte sich mit einem Messer zu verteidigen und bei einer Prügelei zu siegen. Chaia lernte die Tricks der Taschenspieler, Geschichten, Witze und die Musik der Fahrenden. Die grösste Sorge der beiden war es, ihre Instrumente könnten gestohlen werden.

Wie schon Joseph beim ägyptischen Pharao, organisierten Juden seit alters her die Versorgung grosser Heere, sie taten es für Könige und Kaiser, für die kleinen und die grossen Herrscher Europas, Asiens und Afrikas, sie taten es für Napoleon und sie taten es auch später wieder für die sowjetische Revolution. Ein Heer so zu versorgen, dass es das Land nicht aussaugt, auf dem es Krieg führt, misslingt immer. Die Juden wussten das. Sich an einen weltlichen Herrn zu binden war unumgänglich, aber riskant. Die Niederlage eines Kriegsherrn war für seine Juden meist Ruin, Verderben und sogar Tod. Für die Verwüstungen des Krieges zahlten Juden auch im Friedensfall oft einen schrecklichen Preis. Aber letztlich profitierten und überlebten immer einige von ihnen; das Judentum starb nicht aus.

Ève hatte die Ankunft der Franzosen herbeigesehnt und Napoleon begeistert begrüsst. Nach ihrer Vertreibung aus Zawidow lag sie aber meist nur im Wagen, wurde krank und schwindsüchtig. Ihre Tochter sass bei ihr und spielte auf ihrem uralten Cello. Chaia spielte die Niguns, wortlosen Klagelieder welche Chawa einst von ihrer Mutter gelernt hatte, und sie lernte Musik ab Noten, welche Abischai aus dem Raubgut eines Fouriers erstehen konnte. Nur für den täglichen Unterricht der Kinder reichte Ève noch die Kraft.

Eines Tages sass eine venezische Wahrsagerin stumm auf dem Rand des holpernd fahrenden Wagens. Sie blickte auf die nass in ihre Kissen gebetet liegende, erschöpfte Frau Abischaia. Hatte sie das schon seit Tagen getan? Chawa wachte aus einem tiefen Traum auf und erst nach einigen Minuten auch die Augen öffnete, weil sie wohl spürte, dass jemand da war. Sie kannte die Frau aus Zawidow. Sie hatte sie mehr als einmal verköstigt und einen Schlafplatz gegeben, als sie an die Türe des Hauses geklopft hatte. Jedes Mal wollte sie Chawa etwas wichtiges mitteilen, in einem Kauderwelsch aus Jiddisch und Ladino. Chawa hielt nichts von Hokuspokus und entzog sich der Botschaft jedes Mal. Jetzt blickten sie sich gegenseitig in die Augen, die Venetierin hellwach, die Zawidowa schwach, beide mit milder Neugier. Als Chawa wieder zu sich kam, war die Frau weg. Sie oder sie, wer hatte im Fieber ihr ganzes früheres und noch kommendes Leben erzählt?

Beer spielte mit den Kindern im Dreck neben den Wagen. Mit seiner Trompete führte er die Kinder gegen den Feind. Peinlich achtete er darauf seine prachtvollen Uniformkleider nicht zu beschmutzen. Aber wenn es die imaginären Schlachten der Kinder erforderten, konnte er keine Rücksichten mehr nehmen. Bald steckten seine Stiefel im tiefen Schlamm fest. Beers napoleonische Würde drohte unterzugehen. Sie Kumpanen beachteten ihn nicht, als er barfuss die Stiefel aus dem matschigen Boden befreite.

Auf dem Trittbrett ihres Wagens hockte Tinchen, das Töchterchen der benachbarten Marketenderin. Ihre Mutter hatte ihr den blonden Zopf zu einem einem mit Gänseblümchen geschmückten Kranz um den Kopf gewunden. Die kleine Christina steckte in einem sackleinenen, abgetragenen Rock und ihre Füsse stampften schmatzend im Morast. Rhythmisch sang sie Melodien, die Chaia gespielt hatte.

«Der General Bumbum,
haut unser Häuschen krumm,
sein Pferdchen ist ein Schimmel,
er reitetet d’rauf in’n Himmel,
der General Bumbum.»

Da öffnete Chaia den Wagen und blinzelte in die Sonne. Sie nahm die Tinchen an der Hand und sie erkundeten das Lager der französischen Armee.

Die Marketenderin oder ihre Magd kam jeden Morgen und versorgten Eva für den Tag. Vor dem Wagen der Marketenderin standen Tische und Bänke unter Zeltplanen. Tagsüber konnte dort kaufen wer wollte und konnte. Am Abend bewirtete sie Offiziere aller Chargen. Sie war unbestrittene Herrin der Wirtschaft. Es war nicht bekannt, dass ein Mann lebendig in ihren Wagen hinein und wieder heraus gekommen sei. Prügeleien ihrer Gäste beendete sie notfalls mit einer oder zwei doppelläufigen Pistolen. Die Gesänge der betrunkenen Soldaten tönten die halbe Nacht lauthals über das Lager.

Abischai war tagsüber meist unterwegs, aber er verbrachte oft mehr als die halbe Nacht am Tisch der schönen Marketenderin. In ihren Wagen durfte auch er nie. Ihr Töchterlein Tina aber, kuschelte sich manchmal im Bett der Zwillinge bis zum nächsten Morgen an Chaia.

Abischai Zawidow war höchst erfolgreich. Für die Grand-Armee konnte er grosse Mengen von Waren organisieren und zusammenkaufen; durch gewaltsames Requirieren wäre das niemals möglich gewesen. Abischai befand sich nicht zum ersten Mal im Tross eines Kriegszuges. Aber mit Familie ist dies ein anderes Unterfangen als ohne. Im Gefolge einer siegreichen Armee ist das Geschäftsrisiko klein und der Gewinn aus Warenlieferung gross. Abischai hatte Lizenzen und Pässe von höchsten Stellen. Begleitschutz wurde ihm von der Armee gestellt. Des Schuhmachers Söhne wurden seine persönliche Leibgarde, welche die Familie und die wachsende Zahl seiner Wagen bewachten. Solange Napoleon siegte, war es am sichersten im Tross. Aber Napoleon würde nicht mehr lange siegen. Der Nachschub war nicht mehr zu gewährleisten, er zerbröckelte und Abischai sah den Untergang kommen. Schon vor der Schlacht bei Borodino suchte Abischai vergeblich nach Wegen sich abzusetzen.

Nach der Schlacht bei Borodino fand Abischai nur noch seinen Erstgeborenen. Der kleine Beer irrte zwischen Sterbenden und Verwundeten und blies verzweifelt ihre Erkennungsmelodie auf seinem Horn. Wie durch ein Wunder war er unverletzt. Der Tross war unter überraschenden Beschuss geraten. Beers Pferd wurde von einer Kugel getroffen. Der ältere Sohn der in Zawidow gemeuchelten Schuhmacherfamilie hatte den kleinen Beer auf sein Pferd genommen. Da schlug eine Granate in unmittelbarer Nähe ein. Als Beer erwachte, lag er in einem Krater unter dem toten Ross und Reiter deren Körper ihn beschützt hatten. Beer lebte noch, aber um ihn herum waren alle tot, im weiten Umkreis nur zerfetzte und verstümmelte Menschenteile. Immer noch klammerte er sich an seine Trompete, stand auf und stolperte über die Toten bis Abischai ihn fand.

Eva und Chaia blieben verschollen.

Napoleon und seine Juden lebten auf dem Land der Polen, der Belarus, der Ukraine und in Russland. Für die Ansässigen war Napoleon nicht der Befreier, und schuld an allem Elend waren natürlich die Juden. Napoleon war kein Versprechen, sondern nur eine Plage. «Liberté, égalité, fraternité»: Der Befreiung trauten die Leibeigenen und Bauern nicht, und die Idee der Gleichheit war eine sündige Verführung gottloser Geister im Diesseits.

Die Juden waren sowieso anders, Christusmörder, sicher keine Brüder.

«Ihnen fehlt der rechte Glaube.»

«Die Freiheit mag für Juden genügen, ein echter Christ aber strebt nach dem Höchsten.»

«Christliche Logik will Erlösung, nicht die Befreiung.»

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