Chaia

Soldaten aus ganz Europa zogen mit der französischen Grand Armee Napoleons durch Russland. Italiener, Österreicher, Deutsche aus allen Landen, Polen, Russen und Juden aus Afrika, Juden aus Istanbul und aus Venetien, die sich Portugiesen nannten, weil ihre Vorfahren vor 150 Jahren von dort vertrieben worden waren. Mit den anderen Sepharden sprachen diese Juden Ladino, ein Gemisch aus Spanisch Hebräisch und Arabisch. Die anderen Juden sprachen Jiddisch. Verkehrssprache in der Armee und im Tross war natürlich Französisch oder was immer man für eine gemeinsame Sprache fand.

Im Tross zog auch eine stattlich Zahl Kinder mit. Chaia und ihr Bruder Beer durften manchmal irgendwo auf einem Wagen mitfahren. Aber die Wagen waren alle meist so überladen, dass auch die Zwillinge laufen mussten. Als Kinder eines Schuhfabrikanten hatten sie selbstverständlich passende Schuhe, aber auch Chaia und Beer liefen oft baarfuss mit den anderen Kindern. Sie sangen auch im strömenden Regen. Und sie liebten Geschichten und Sprachspiele.

«Ich packe meinen Koffer mit einer Pistole.» «Ich packe meinen Koffer mit einer Pistole und einer Trikolore.» «Ich packe meinen Koffer mit einer Pistole, einer Trikolore und einer Kanone».

«Es war einmal.»
«Es war einmal, dawno dawno buil.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil, haia haia paam.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil, haia haia paam, äs isch ämal xi xi xi.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil, haia haia paam, äs isch ämal xi xi xi, amol is gewejin.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil, haia haia paam, äs isch ämal xi xi xi, amol is gewejin, c’era una volta.»
«Es war einmal, dawno dawno buil, schil buil – schil buil, haia haia paam, äs isch ämal xi xi xi, amol is gewejin, c’era una volta, il etait une fois une fille qui s’appelait Chaiaiaia.»

Chaia erfand Spiele, Geschichten, Lieder und Spottverse. Chaia tanzte, sie ballancierte auf einem grossen Ball und bald auf einem niedrigen Seil. Oft war sie bei den morgendlichen Proben der Gaukler dabei. Sie spielte auf einer Trommel, auf ihrem alten Cello, auf einer Trompete und einem verbogenen Rohr: auf allen verfügbaren Instrumenten. Sie begleitete ihren Gesang auf einer kleinen transportablen Orgel, welche sie aus einem Kästchen herausklappen konnte. Sie ahmte den psalmodierenden Klang der jüdischen oder russischen Bethäuser nach, sie improvisierte Text und die Melodie, sie schrieb es auf und verbesserte sich laufend. Sie sang Balladen und Moritaten und mancher Soldat vergoss Tränen der Rührung. Sie sei doch noch ein Kind, aber wenn sie fehlte, warteten fast ein Dutzend Verehrer vergeblich. So wurde Chaia bald ein regulärer Teil der Künstlertruppe.

Chaia war ein wildes Kind und liess sich auch von den Künstlern nicht befehlen. Sie hatte ein strahlendes und ein stolzes Lachen. Sie wusste die ganze Palette der Mimik und der Stimme einzusetzen. Sie stach aus dem Dreck, Elend und Gestank heraus. Ihre schwarzen Locken und ihre grosse Nase betonten die Statur ihrer aufblühenden Schönheit, ihr Blick fing jeden Menschen ein.

Chawa aber sah im Gesicht ihrer Tochter Herz Beers Gestalt. Sie sorgte sich und wollte ihrer Tochter schlechten Umgang verbieten. Dann merkte sie, wie dumm sie doch war. Wo war sie denn abgeblieben? Hier war ihr Leben, das Leben ihrer und Herz Beers geheimer gemeinsamer Tochter. Zuerst weinte sie noch mehr, aber dann konnte sie über sich lachen. So stieg sie eines Tages doch wieder aus dem Wagen. Sie suchte und bewunderte ihre Tochter auf dem Podest der Gaukler.

Chawa Zawidowa beteiligte sich wieder am Leben und am Kampf gegen die besondere Unbill im Gefolge der kaiserlichen Kriegsmaschine. Die Frau Abischais lernte sogar Schiessen. Der blonde, der jüngere ungarische Schuhmacherssohn zeigte ihr, wie das ging, mit Pistole und Langgewehr.

Christian, war gross, blond und blauäugig. Alles was er sich von seinem versteckten Judentum bewahren wollte, sah er in Eva verkörpert. Er bewachte seine Chefin auf Schritt und Tritt und auf ihren Ausritten zu Pferd. Die immer noch schöne Ève war eine bald im ganzen Heer bekannte Gestalt. Sie sprach mit allen und kannte die meisten Sprachen. Ihr Französisch war von höchster Souplesse und viele hielten sie für eine der adligen oder halbadligen Frauen im Umfeld der herzöglichen und fürstlichen Generäle der Grand Armee. Chawas Beziehungen und Geschäfte halfen Abischai wie früher in Zawidow.

Nur Chaias Bruder Beer hatte ein eigenes Pferd erhalten. Aber Chaia war ein Hund zugelaufen. Susi war eine grosse Hirtenhündin. Bald wurde ihre Trächtigkeit sichtbar und Susi warf sechs Welpen. Hatte ein Wolf sie gedeckt? Sogar Beer fand Gefallen an den herzigen kleinen Wilden und berichtete seinem Vater aufgeregt, dass sie sechs kleine Wölfe hätten. Abischai wollte die Welpen ertränken aber Eva und Chaia konnten sich durchsetzen und sie beschützen.

Chaia rannte mit ihrem bald gefährlich wirkenden Rudel zwischen den Zelten, Kanonen, Stangen, Blachen, Kisten und Wagen, von einem Teil des grossen Lagers zum andern. Manchmal rannten andere Kinder hinterher und die Horde der Kinder und Hunde beeindruckte sogar einige Soldaten. Ein betrunkener Infanterist erschoss einen von Chaias Wolfshunden, weil er sich bedroht fühlte. Susi verbiss sich in sein Bein. Der Kompaniechef wurde gerufen. Er wollte schon den disziplinlosen Soldaten und die Hündin erschiessen. Aber Ève erreichte die Intervention des kommandierenden Marschalls, sowohl den disziplinlosen Soldaten als auch die Hunde mit drei Peitschenhieben zu strafen und dann unverzüglich freizulassen.

Das war in den letzten Tagen vor der Schlacht von Borodino. Dann wütete der Malach Hamawet und die anderen Boten des Höchsten liessen sich nur selten blicken und viele Menschen glaubten sich von Gott verlassen oder waren sie es?

Es war einmal
Schil buil – schil buil
Äs isch ämal xi xi xi
Amol is gewejin.

Viele Juden waren in den Tehom gefallen, weil sie einem falschen Moses, einem falschen Messias, einem falschen König der Welt nachgelaufen waren. Und der Kadurha’arez drehte und drehte sich weiter über dem Abgrund. Und die übrig gebliebenen Juden hatten viele Meinungen, was zu tun sei, um nicht herunterzufallen in die Vernichtung. Und heftigst stritten sie darüber. Einig war man sich nur, am Festhalten an der gemeinsamen Erinnerung, an den Schriften, die die einen so und die anderen ganz anders interpretierten. Über die Verschiedenheiten stritten die Söhne Israels besonders, über den einen Gott aber, in dem dies alles Platz hatte, stritten sie nicht.

Aber es kamen die Söhne anderer Menschen, und auch sie wollten teilhaben an diesen Geschichten, und auch sie und ihre Kinder wollten Hoffnung schöpfen aus diesen Geschichten, gerade so als sei die Hoffnung ein beliebig verteilbares Gut. Und sie mästeten und weideten sich an den jüdischen Geschichten und wuchsen wie faulige Blasen, die wie Blutegel abfallen und sich wie Parasiten vermehren. Und die Parasiten fielen über die Juden und wollten sie vernichten, weil die sich ihnen nicht anschliessen, sich nicht bekehren lassen wollten, und sie verschluckten sich an den Juden, die nie bekömmlich waren, da sie sich von Dreck, Abfall und durch Kannibalismus ernährten.

Die Geschichten die der alt gewordene Abischai seinen Kindern in den Wochen vor Borodino erzählt hatte, waren voll Bitternis und unverhülltem Hass. Chaia hatte sich schon viel zu alt dafür empfunden, und doch erschienen die Geschichten ihres Vaters in Chaias Fieberträumen.  

Ihr Husten zerriss die träge Hitze, das Hintergrundrauschen der Menschen und Maschinen, Schreie und Kreischen, Schnaufen und Stöhnen, von Jungen und Alten, von Lust und Last. Sie hustete eine Kugel auf den Tisch. Die Kugel glänzte violett goldig braun grün und purpur schillernd und der Thorax der Schmeissfliege schien zu pumpen, als sie sich aufrichtete, wie ein gehörnter Teufel auf den Hinterbeinchen stand und mit einem riesigen Satz in ihre Nase fuhr, sich rasend mit ihren sechs Beinchen durch den Schleim auf den Häuten ihres Rachens pflügte und an der Bifurkation der Bronchien steckenblieb. Jetzt musste auch sie husten.

Die Schmeissfliege hatte Tausend Eier in den Scheissfladen abgelegt, für Tausend Jahre reicht es allemal. Und jedes Jahr sang eines ihrer Kinder:

«Ich bin Lucia
ich lauf mir ist kalt,
darf nirgendwo wohnen,
in Haus oder Wald

Ich laufe und lauf’,
darf nirgendwo bleiben
hab’ nur meinen Gott
mir die Zeit zu vertreiben.»

Sie war Maria und wurde vergewaltigt um einen Messias namens Jesus zu gebären. Das Kind wurde gefoltert und getötet.

Mohammed kam und prahlte, dass er alles vernichte, was sich ihm in den Weg stelle. Er habe in Medina die Juden getötet und habe sie in Mekka, in Chaibar, in allen Städten und im ganzen Lande Arabien besiegt. In der ganzen Welt sei nun Er der einzige Gesandte Gottes.

Getötet wurden alle Männer um sie herum und viele Kinder und Frauen. Aber sie wurde seine Sklavin. Er nannte sie Safiya, und sie bettelte um ihr Leben, indem sie vor ihm kniete und Ihn als Seinen Gesandten begrüsste. Huldvoll schenkte Er ihr die Freiheit, damit sie sogleich heiraten konnten, denn er wollte nicht nur ihren Mund, sondern ihren ganzen Körper, und sie musste es geschehen lassen.

Und die Venezische Wahrsagerin tupfte den Schweiss aus Chaias Gesicht und legte eine kühle Kompresse in ihren Nacken. Sie erzählte die Geschichte der jüdischen Priesterin und Wahrsagerin Kahina. Denn Kahina regierte einst über die Juden von Agypten und Marokko und war Königin aller Berber in Nordafrika. Als die Erben Mohammeds kamen, stellte sie sich den Arabern in den Bergen des Atlas in den Weg. Die Araber, vergewaltigten, raubten und vernichteten, was sie konnten. Sie versuchten jedes Andenken an Kahina zu tilgen, aber ihre Geschichte lebt fort und fort bis zum heutigen Tag.

Und auch die Chasaren wollten Juden sein und lebten zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Die chasarischen Könige nahmen sich jüdische Frauen und einige ihrer Kinder lernten die jüdischen Schriften, Geschichten und Gesetze sehr eifrig. Da kamen die Christen mit dem Schwert, sie zu bekehren und die meisten Chasaren wurden Christen. Und dann kamen die Araber und die meisten Chasaren wurden Muslime, auch wenn die Araber sie Chasaren nannten, wo doch der Chasir ein Schwein ist.

Aber einige Kinder der Chasaren wollten nicht von ihrem Judentum lassen, als die Christen kamen, und auch nicht als die Mohammedaner sie mit dem Schwert daran hindern und bekehren wollten. Nur wenige Chasaren blieben dem Judentum treu. Sie nannten sich Karäer, denn kara bedeutet auf Hebräisch, die Schrift lesen zu können. Im Verborgenen lebten sie ihr Judentum über viele Jahrhunderte fort.

Chawa war tot und Chaia blieb verschollen. Ihre Wolfshunde hatten sie nicht mehr beschützen können, sie wurden einer nach dem anderen von Bauern tot geschlagen. Nur selten hörten die Menschen noch himmlische Klänge. Aber wie Chaias uraltes Cello irgendwie zur Familie Zawidow zurückfand, weiss niemand.

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