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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025
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Die Köpfe der ganzen Mischpoche sind auf den zwei Fotographien der Brit Mila sichtbar. Wie auf einem Mandala führen sie den Blick des Betrachters in die Mitte, zum breit und freudig strahlenden Kindlein.
Auf dem ersten Bild des Beschneidungsfestes bilden haarige weibliche oder mit kleinen Käppchen bedeckte männliche Hinterköpfe einen dichten unruhigen Kranz. Alle Gesichter sind für den Betrachter unsichtbar, dem Zentrum zugewandt, wo mit einem Zwergenhütchen auf seinem Zipfelchen bekleidet, das Knäblein auf dem Rücken in seinem Bettchen liegt. Der nur sieben Tage alte Kleine lacht. Er lacht, unglaublich!
Auf dem zweiten Foto lachen alle Gesichter um die Wette ins Gesicht des Betrachters. Verdreht und merkwürdig verrenkt, halb kopfstehend und sich gegenseitig schiebend, postiert sich die ganze Familie und Freunde im Kreis um das freudige, in ihrer Mitte liegende Ereignis und blicken hinauf in die Kamera.
Die schöne, junge Mutter und der Vater, Wange an Wange, gleichen sich fast wie Geschwister. Helen und ihr überraschend gesund scheinender Jakob tun dasselbe. Tante Lea zeigt schon alle ihre Fältchen und Falten und ihr Onkel Kurt das einzige Lachen, welches je eine Kamera von ihm eingefangen hat. Grossvater Moische hat sein Gebiss vergessen und droht vor Lachen daran zu ersticken. Von Urgrossvater Aron ist nur ein buschiges Auge zu sehen, von Urgrossmutter Malka nur ein Teil ihrer Perücke. Tante Regina macht eine komische Grimasse. Die Cousine Käthi, Onkel Leo, Onkel Max, Nemo und die weiteren Freunde, Onkel und Tanten drücken sich um die Wette von den Rändern gegen die Mitte.
Ein Kindlein ist geboren. Das Leben geht weiter. Wir werden viel zu erzählen haben. Freude herrscht, und das Getuschel der Geschichten kann erneut beginnen.
In der Lücke zwischen dem Kranz von Köpfen wurde es Licht. Die Silhouetten der Köpfe verwandelten sich in Umrisse von Wolken, welche eine himmlische Tunnelfahrt öffnete. Die psalmodierenden Melodien Tausender ineinander komponierter Stimmen erhoben sich zum gewalttätigen Chor, der den kleinen hilflosen Säuglingskörper durchdrang, jede Muskelfaser stimulierte und zum Fibrillieren brachte. Die Töne wurden zu Liedern und die Stimmen zu Geschichten.
Der Kleine kämpfte gegen die Mächte, die ihn immobilisierten und in seinem Reflexkäfig gefangen hielten. Er lachte, um nicht zu weinen. Er spürte den süssesten Tönen nach, die in diesem gleissend leuchtenden Chaos vorbeihuschten. Er konnte sie nicht erhaschen, noch nicht.
Eine Stimme war besonders nahe, aber auch sie entglitt ihm, immer wieder. Da umspielte sie ihn, wand sich um seine strampelnden Arme und Beine, kitzelte ihn an den Wimpern und feinen Härchen.
Jakob hatte sich mit seinem Cello neben den Kreis der Familie gesetzt und spielte einen Nigun. Das wortlose Lied seiner Kniegeige beklagte alles Leid und bejubelte das Unsagbare.
Der Kleine konnte noch keine Fragen stellen, aber alle Fragen stellten sich auf einmal. Wie stellt man die Frage, wohin der Mohel mit dem Opfer verschwunden ist? Was macht der Beschneider mit der abgeschnittenen Vorhaut? Sein Ringlein, sein kleines Stücklein, wo bleibt es bis zum Jüngsten Tag? Wo verbleiben die Teile aller menschlichen Leiber, die wieder zusammengesetzt werden sollen? Das aus seinem lebendigen Fleisch geschnittene Donut, der Heiligenschein oder Verlobungsring mit der Ewigkeit, in welchem Depot wird es zum Pfand aufbewahrt und wofür? Dient es seinem Schutz? Schutz wovor?
Was haben die mit ihm vor? Ja was haben die mit ihm vor?
Die Männer tanzen mit erhobenen Armen im Ring; schon wieder ein männlicher Ring aus Fleisch, Haut und Blut. Die Frauen tanzen noch nicht. Weitere Musiker haben sich zum Cellisten Jakob gesellt. Seine Frau Helen, die Oma, lässt ihre Tochter Plätzchen servieren. Die junge Mutter Eva versichert jedem Gast, dass das Fleisch und das Gebäck koscher seien, wo doch normalerweise niemand hier koscher isst, ausser dem Mohel, dem nach der zeremoniellen Operation, rasch verschwundenen Beschneider. Der Schwiegersohn Philipp schenkt Slivovic aus Literflaschen, für jeden einen tüchtigen Bromfen.
Artig bietet Eva das Tablett herum. In ihrem Elternhaus ist Eva immer noch das kleine herzige Mädchen. Vor ihrem Schwiegervater Moische macht sie sogar einen Knicks, und als er sie in die Wange kneift, giggelt sie kindisch. Die Musik ist schon lange von den gemessen tragenden Melodien des Niguns zu schnellen Tänzen übergegangen. Im Kreis der Tanzenden versuchen sich jetzt beide Moisches, der Vater des Kindsvaters und der Grossvater der jungen Mutter mit den russischen Tänzen ihrer Jugend. Nach wenigen Hopsern fallen sie aufs Gesäss. Philipps Schwester Regina tanzt mit beschwörenden Gesten und schwarzem Umhängetuch über den beiden lachend auf dem Boden sitzenden Alten. Theatralisch holt sie die Frauen einzeln in den Tanzkreis. Scheppernd fliegt ein Tischchen um, es gibt Scherben und alle rufen beglückt Masel tow, Towarischtschi, Brider, LeChaijm, na Sdarowje, auf das Leben und die Gesundheit.
Trotz allem, ja, das Leben geht weiter. Man klagt über dies und das und lässt es sich gutgehen. Der dicke Onkel Isi lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und stellt sich ein volles Tellerchen auf den Bauch. Tante Niewes plaudert mit Tante Rosel über Kochrezepte. Nemo, der mausarme Schriftsteller, ist mit Jakob und Max ins Debattieren geraten. Mehr Männer gesellen sich dazu. Sie zünden sich neue Zigaretten an und Tabakstumpen.
Die amerikanische Kommunistenjagd droht, sich auch hierzulande breitzumachen.
Ach was, bald ist doch jeder ein Kommunist oder könnte es sein.
Doch, doch, warte nur, Du wirst schon sehen, das kommt noch.
Ach, bleib mir weg mit Deinen Kommunisten.
Vor allem sind wir doch alle Juden.
Ach, bleib mir weg mit den Juden.
Ach, bleib mir weg mit Deinem Stalin, der ist keinen Deut besser, auch er nur ein Judenhasser.
Faschisten, Sozialisten, Kapitalisten Zionisten, Bundisten: Bleib mir weg mit all Deinen Isten. Ich kann sie alle nicht leiden.
Gandhi, Tito, Ben Gurion, Chaim Weizmann, das ist alles dieselbe Mischpoche.
In der Küche hören die Frauen nur mit halbem Ohr auf die Debatte der Männer. Die frischgebackene Oma Helen ruft aus: Kind und Religion sind das Schlimmste!
Ihre Mutter Malka, die fromme Frau, die 14 Kinder geboren hat, verwirft die Hände und ruft nur oj oj oj! Stimmt sie zu oder entsetzt sie sich, oder beides gleichzeitig?
Ja, die Männer streiten wie die Frommen in der Schul. Tante Rosas und Tante Niewes Glubschaugen blinken unschuldig wissend um die Wette. Der Dessert nimmt Formen an.
Wie der Zigarettenrauch hängen die Geschichten im Wohnzimmer, die Geschichten der schönen jungen Eltern, Eva und Philipp, der Grosseltern und ihrer Familien: Helen und Jakob, Moische und Selma, Tante Lea, der andere Moische, der schon Wittwer ist, der dicke Onkel Isi, Sigi, Tante Regina, Rosa, Niewes, Onkel Leo, Onkel Max, Kurt, Nemo und die weiteren Freunde. Der Kleine liegt unbeachtet in seinem Stubenwagen. Er hustet leise. Reizt ihn die Kälte oder der Rauch?
Die Oma lässt lüften. Kalte Luft verdrängt den Qualm in der guten Stube nur langsam. Kaum sind die Fenster geschlossen schwitzt es sich bald erneut.
Ja, das Leben geht weiter. Ewig dauert es, bis du kein Kind mehr bist.
Der Kleine lag auf dem Rücken in seinem Stubenwagen, mit weit offenen Augen. Seine ungelenken Bewegungen wiegten ihn hin und her. Er hörte die Welt um sich herum. Die Leute krabbelten irgendwo zwischen der Zimmerdecke und seinem Gesicht. Augen und Münder machten die immer gleichen Faxen, Geräusche und Kindereien. Manchmal kitzelten sie ihn und hatten ihre Freude an seinem Lachen. Manchmal sollte er schlafen, was ihm nie gelang. Es gelang ihm aber auch nicht, wach zu bleiben, wenn er wollte. Er sabberte sich voll, und er griff ins Leere, wenn er etwas greifen wollte. Er wehrte sich gegen die drückenden Windelpakete um sein Gesäss, und er verabscheute die graue gestrickte Strampelhose, welche das alles zusammenhalten sollte. Er strampelte vor Juckreiz, der nie endete.
Er musste dem monotonen Lärm des auf und abfahrenden Rasenmähers zuhören, der seine Lieder im Rauschen der Blätter zudröhnte. Hin und her, rauf und runter: Endlos das Warten, dass der Motor endlich abstellte. Als doch wieder Ruhe war, hörte er seine Musik nicht. Er weinte, bis doch wieder Töne um die Ecken lugten, Melodien einstimmten, sich Akkorde und Klänge bildeten, die auf seinen Muskeln tanzten, auf der Haut, in den Ohren und Nasenlöchern, und durch seine Därme fuhren, bis sich diese im Schlaf und einzelnen Tränen entleerten.
Es war einmal, beginnen die Geschichten, und ihre gewesten Wesen xi xi xi wirken über die Kindheit hinaus, und noch die Enkel hören diese Geschichten, gerne, willig und doch im Zwang. Erinnere Dich, sagt die Geschichte. Befiehlt, verführt oder droht sie? Und der Faden der Geschichte spinnt Dich ein: Es war einmal ein Mann, der hatte ‘nen hohlen Zahn, und im hohlen Zahn fand sich ein Trücklein, und im Trücklein fand sich ein Brieflein und im Brieflein stand geschrieben: Es war einmal ein Mann, der hatte ‘nen hohlen Zahn. Du kannst nicht wählen, welche Geschichte Du hören willst, die Geschichte der Mutter, des Vaters, des Grossvaters, der Tanten oder der Onkel. Auch ungefragt erzählen sie Dir alles.
Seit seiner Geburt ist er verwickelt in ihre Geschichten. Fest eingebunden in ihre Erzählungen beginnt er sein Leben. Ist er Ihr Opferlamm?
Die Brit Mila ist die Beschneidung, und der Bund Brit des Wortes Mila, ist das Versprechen einer Ewigkeit.
Das Ringlein seiner Vorhaut ist das Pfand, das Depot und Zeichen seines Bundes mit der Ewigkeit. Soll es ihn daran erinnern, dass er jederzeit ihr Opfer werden könnte? Wer sind sie?
Das Ringlein fopt ihn aus seinem Versteck. Ist es das Osterei, die Laus in seinem Pelz, der Afikoman, das verborgene Brot des Heils, das unbedingt gefunden werden muss? Das Brot des Heils oder des Verderbens?
Der Bund der Männer hatte sein Ringlein gestohlen. Er fühlte sich im Intimsten verletzt. Sein Leid war unaussprechlich, und doch tat er es aller Öffentlichkeit kund: Mein Ringlein, mein Ringlein, warum hast Du mich verlassen?
Mein Ringlein, sanft hattest Du Dich nur wenige Tage an das Köpfchen meines besten Teils geschmiegt. Warum nur hast Du mich im Stich gelassen? Schutzlos, ohne Vorhaut nackt, hast Du mich dem allmächtigen Begehren preisgegeben.
Vorhautlos bin ich Ziel des Spotts von Frauen und Männern.
Er hatte einst einen getroffen, der sein Ringlein verloren glaubte. Der Bund der Männer habe es ihm gestohlen. Das vorhäutige Ringlein, es wurde ihm blutig gestohlen, dabei hätte es doch noch manche Geschichte mit ihm erleben und dann erzählen können.
So unbehütet wie der Kopf seines wertvollsten Stücks seit zartestem Knabenalter geblieben ist, kann nur ein beschnittener Mann auf die Idee kommen, er müsse sein Haupt immer bedeckt halten. Muss er gar eine Zobelfellmütze tragen, da ihm sein Ringlein fehlt? Ist ein Heiligenschein auch eine gemäss Halacha gültige Kopfbedeckung?
Wer kommt schon unlädiert aus der Kindheit?