Eva

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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Eva war in Frankreich geboren worden. Helen wusste wohl, dass jedes in Frankreich geborene Kind die französische Staatsbürgerschaft erhält. Aber vielleicht hat Helen auf einer Geschäftsreise mit einsetzenden Wehen nur den Weg in die Schweiz nicht mehr geschafft. Eva wurde also, als Tochter Helens, einer vormals Schweizer Jüdin und des staatenlosen, polnisch-belgischen Juden Jakob Margolers, fast aus Zufall Französin.

Jakob vergötterte Eva, sein Chawale. Sie sangen zusammen, tanzten und gingen jeden Tag in der Stadt spazieren. Er liess sie Geige spielen und Klavier. Auf einer Fotographie von damals sieht man Eva als schalkhaft lachenden, sechs- oder siebenjährigen Lockenkopf mit Geige. Sie trägt ein weisses feinbesticktes Kleidchen mit dezenten Rüschen und ist umgeben von bewundernden Schulkameraden. Auf einem späteren Bild sieht man Eva am Klavier und Jakob mit der Geige auf einer Bühne. Dahinter erkennt man eine Menora, den achtarmigen Leuchter des Lichterfestes Chanuka.

Eva war früh entwickelt und schon fast eine Frau, als sie während des Krieges zu Mieder-Muller kam. Wie sich Helen und Eva ohne Pass mit dem Fahrrad von Brüssel bis nach Strassburg durchgeschlagen hatte, durfte man nicht wissen. Helen fand ihren früheren Geschäftspartner und ironisch-vergeblich-glühenden Verehrer ohne Familie als Wittwer vor. Mullers Frau und die kleine Tochter seien beim Einmarsch der Deutschen umgekommen. Das war merkwürdig, denn die Stadt war neun Monate lang evakuiert und menschenleer bevor die Deutschen kamen.

Mieder-Muller schwamm offensichtlich obenauf. Er belieferte die Deutschen und fluchte heimlich über die sales boches. Grossartig lud er die schöne Hélène und die fast noch hübschere Eva zum Essen in ein gediegenes Gartenrestaurant ein. Vorher gab er ihnen aus seinem exklusiven Lager etwas Elegantes zum Anziehen.

Bedient Euch, es gehört ja sowieso fast alles Euch, erklärte er grosszügig, als Eva sich überschwänglich bedanken wollte. So erfuhr Eva, dass der Grossteil des Warenlagers ihrer Mutter gehörte. Die Angst war nicht vergessen, als sie im Lokal ankamen. Musik spielte auf, das Publikum war gediegen. Dass es dieses Leben noch gab!

Helen war zunächst erschrocken, ihren guten Freund so blind gegenüber der Not der Zeit zu finden. Vergeblich wartete er auf amüsante Pointen, als sie ihre traurige Geschichte erzählte. Bien sûr, selbstverständlich war er aber bereit, sie beide bei sich aufzunehmen. Helen erklärte, dass sie sich in die Schweiz durchzuschlagen versuchen wollte. Ob sie ihre Tochter bei Muller zurücklassen dürfe, bis sie einen Weg in die Schweiz gefunden habe. Dann begnüge er sich gerne, auf Eva allein aufzupassen, solange bis sie beide in die Schweiz könnten oder der so … pardon Krieg vorbei sei. Bien sûr, selbstverständlich sei die junge Dame sein charmanter Gast und ein Licht im trüben Wittwer-Dasein. Er war ehrlich entrüstet, als ihm Helen andeutungsweise eine Entlohnung für seine lebensrettenden Dienste anbot. Beim Kaffee erklärte er, die Gefahr sei gering und er und seine Freunde suchten sowieso Gelegenheiten, den verdammten Nazis eins auszuwischen. Spass mache ihm das, Spass. Er könne natürlich nicht darüber sprechen, was alles so geschehe, évidemment, bien sûr, aber er habe eigentlich nur tollen Spass.

Seit dem Frühjahr hatte Helen mit ihrer Tochter versucht, sich durch das ebenfalls deutsch besetzte Frankreich in die Schweiz durchzuschlagen. Eva hatte ihren französischen Pass und Helen benutzte ihren eigentlich abgelaufenen, auf ihren ledigen Namen ausgestellten Schweizer Pass, dessen Gültigkeit ein Freund eines Freundes in Rotterdam geschickt um fünf Jahre zu verlängern gewusst hatte. Bald würde aber auch dieses illegale Papier definitiv unbenutzbar werden. Eva war nicht als Tochter im Schweizer Pass von Helen aufgeführt; da sie aber zusammen mit ihrer Tochter reiste, waren ihre Papiere nicht ganz unauffällig und sie gaben sich als Tante und Nichte aus.

Vorsichtig immer auf eine passende Legende achtend, fuhren sie auf Umwegen durch Belgien und den Norden Frankreichs mit der Eisenbahn und mit Fahrrädern. Meist mimten sie einen fröhlichen Ausflug und blieben bei schlechtem Wetter im Hotel, um Probleme mit Strassenkontrollen zu vermeiden. Gepäck liessen sie sich etappenweise vorausschicken. Um ungestört und ohne Mithörer im eigenen Zimmer telefonieren zu können, stiegen sie in Belfort in einem vornehmen Hotel ab. Es wimmelte von schneidigen deutschen Offizieren, welche die beiden hübschen Damen charmant in Beschlag zu nehmen suchten.

Helen versuchte mit ihrem Anwalt in Zürich zu telefonieren, um Wege in die Schweiz zu finden. Sein Rückruf erreichte sie nicht mehr. Der Chef de Concièrge roch den Braten und Geld. Mit ausgesuchten Worten formulierte er seine Bedingungen, welche bei der Entsorgung des jüdischen Abfalls aus seinem Haus, zu einer allseits annehmbaren Lösung führen könnten. Glücklicherweise liessen sich die Wünsche des bösen Hotelbediensteten zufriedenstellen. Aber Helen und Eva mussten sofort weiterreisen.

Am Jura-Nordfuss erreichten sie die Schweizer Grenze. Helen hatte das Recht auf Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz durch ihre Heirat verloren. Ihre Tochter war eine französische Jüdin. Damals nahm die Schweiz nur politische Flüchtlinge und keine aus rassischen Gründen verfolgten Menschen auf.

Die Schweizer Zöllner prüften die Papiere eingehend. Wegen der notwendigen, versichernden und rückversichernden Telefonate mit Amtsstellen in Basel und Bern vergingen mehrere Stunden. Helen wartete mit ihrer halbwüchsigen Tochter auf einer Holzbank im Gang des Zollhauses. Das Geradesitzen und Lächeln kostete Kraft, die sie kaum mehr hatten. Beamte zogen mit Akten hin und her an ihnen vorbei, zuerst neugierig, dann achtlos wichtig, oder war es verächtlich? Das gebohnerte, mit langen Holzbohlen ausgelegte Parkett knarrte und jeder Gang nahm ihnen ein Stück Mut. Als die Ungültigkeit der Dokumente Omas feststanden, übergab der Zöllner das eines Schweizer Passes unwürdige, jüdische Fälscherpack verfluchend die beiden Frauen einem Polizeibeamten. Der sperrte sie im Hinterzimmer des Gemeindeamtshauses ein; die Fenster waren vergittert.

Der Beamte organisierte ihnen Brot und sogar eine kleine Wurst. Die Wirtin eines nahen Gasthofes brachte später noch eine Suppe und warmen Tee. Der Mann gab Eva ihren französischen Pass zurück und brachte die beiden Flüchtlinge nach Einbruch der Nacht zur Grenze. Als er sicher war, dass sie unbemerkt am französischen Zoll vorbeikämen, entschuldigte er sich. Er könne nicht anders und müsse sie eben fortschicken. Er entliess sie in die Dunkelheit aber blickte ihnen doch nach, um sicher zu gehen, dass sie wirklich über die Grenze gingen und nicht zurückkehrten.

Zuhause stellte der einsame Polizist eine kühle Bierflasche auf den Tisch und bereute es im selben Moment. Er nahm den feuchten Lappen aus dem Spülbecken, wringte ihn aus und wischte den Bierring weg. Feine feuchte Tröpfchen glänzten nun auf der Tischfläche. Er konnte die Zeitung nicht ablegen, ohne dass sie kleben würde. Er blätterte in der Luft. Er merkte erst, dass er nicht wahrnahm, was er las, als er zu den amtlichen Todesanzeigen vorgestossen war.

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