Eva

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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Helen holte Eva und den Kleinen bei ihren Eltern in Basel ab. Endlos hatten Tochter und Enkel auf die Oma warten müssen. In der Nacht hatte der Kleine wach gelegen. Die Geräusche des Verkehrs hatten nie aufgehört.

Oma hatte ein grossartiges Auto, einen Amerikanerwagen, ein Cabrio mit aufklappbarem Verdeck mit langen Heckflossen, geschwungenen Radverkleidungen und sechs Rücklichtern. Zum Fahren trug Helen weisse Handschuhe und einen grossen Hut. Beide Frauen waren aufgeregt und nörgelten am Kleinen herum. Sie fuhren nach Strassburg.

Knapp ausserhalb der Stadt wohnte Jean Muller, der Mieder-Muller. Oma erklärte, dass Muller auf Französisch ohne Pünktchen geschrieben werde. Während der deutschen Besetzung habe Muller sich Müller, mit Pünktchen, geschrieben. Der Kleine wusste natürlich, dass ein Ü zwei Pünktchen hat; warum er aber Mieder-Muller und nicht einfach Müller oder Muller hiess, das verstand der Kleine nicht. Muller war ein grosser, alter Mann. So einer trug sicher kein Mieder. Der dicke Bauch quoll über den Bund der an elastischen Trägern befestigten Hosen. Auch während seiner häufigen Hustenattacken blieb die gelbe Gauloise glimmend im Mundwickel hängen. Nur selten fiel Tabak auf den edlen Stoff seiner Hosenbeine. Er lachte krächzend und laut. In seinem Mund blitzte ein Goldzahn. Der Kleine erkannte den Mann. Ein Foto hing in der Diele der Urgrosseltern. Sie zeigte drei Menschen. Hans Müller und seine Oma lachten unbeschwert, aber Eva, die Mutter des Kleinen, blickte den Betrachter ängstlich an.

Mieder-Muller lebte in einem einfachen, riesigen Landhaus. Er öffnete und begrüsste Oma und Eva: Hélène und Pünktchen, meine schönsten Frauen der Welt.

Er strich dem Kleinen über die Locken und rief entzückt aus: Na Pünktchen, also das ist Dein Söhnchen?

Nikotingelbe Finger packten das Kind und hoben es hoch. Man trat ins Haus, in die Wohnstube, die einem Schankraum glich. Muller nahm das Bübchen auf seinen Schoss. Die nackten Beinchen spürten den kratzigen Stoff der Männerhose. Alles war gespannt und hart. Der massige Körper auf dem Holzstuhl neben dem Tisch und seine gespreizten Beine schienen den Raum halb zu füllen. Die grossen Hände und Arme liessen dem Knaben kein Spiel. Er wurde gezwungen, die Geweihe an den Wänden und die gefährlichen Hauer des ausgestopften Eberkopfs anzufassen. Muller zeigte ihm seine Schnitzereien, und aus der Tischschublade zog er das Messer, mit dem er das bewerkstelligt hatte. Der Kleine wagte keinen Mucks. Der Tabakgestank verschlug ihm den Atem. Muller liess ihn auf seinen Knien nicht los, er sprach nun Französisch, der Kleine konnte das nicht verstehen.

In der offenen Wohnstube sah er einen grossen Schrank. Welches Kind hatte wohl das Bild der lebensgrossen nackten Frau auf dessen Türe malen dürfen? Rote Locken verdeckten eine ihrer Brüste. Die Frau blickte ihn mit gross aufgerissenen blauen Augen an. Sie stand zwischen einem geöffneten rosa Theatervorhang, hielt sich mit einer Hand an einem grünen Traubenstock, in der anderen ein blutrotes Glas Wein und um ein Bein wand sich eine züngelnde Schlange. Der Kleine wagte nicht zu fragen, vor was sich die Frau fürchtete. Teufelchen und Tiere spielten auf dem Fries des Schranks.

Gerne hätte er das alles genauer angesehen. Vielleicht hätte er es sogar gewagt, den Schrank zu öffnen. Aber, sie verliessen das Haus, um das Warenlager, eine umgebaute Scheune, zu besichtigen und Muller hielt die Hand des Kleinen gepackt. Als sie um die Ecke kamen, zerrte ein schwarzer Riesenhund an seiner Kette. Auf Befehl Herrn Mullers beendete er sein wildes Gebell unverzüglich und winselte. Der Kleine durfte keine Angst zeigen. Er musste den Hund streicheln. Er tat es sogar, aber das Ungetüm musste plötzlich Niessen. Seine Spucke tropfte auf die Hand des Jungen. Sowohl der Hund als auch der Junge schreckten zurück. Muller lachte sein Lachen.

Im Lagerraum roch es nach Frauensachen. Oder meinte der Kleine das bloss, beim Anblick all dieser Büstenhalter, Korsetten, Strumpfhalter, Strümpfen, Schmucktüchern, Perücken und der vielen Kartons und Pakete, welche nur mit hohen Leitern erreichbar waren?

Die Hälfte gehört immer noch Dir, liebe Hélène.

Auf der Rückreise nach Basel waren die beiden Frauen zunächst vergnügt und sangen französische Lieder, welche der Kleine nicht kannte. Als er aber fragte, warum der Mann seine Mami Pünktchen genannt hatte, verstummten sie. Oma schaute komisch weg, konzentrierte sich auf die Strasse und seine Mutter murmelte, dass der Mann eben Müller mit Pünktchen geheissen habe, Punkt.

Müller mit Pünktchen blieb eine dieser offenen Fragen. Warum hiess Mami nicht Eva, sondern Pünktchen? War sie Mullers Pünktchen, damit er ein Müller wurde?

Eva, war in Frankreich geboren worden. Helen wusste wohl, dass jedes in Frankreich geborene Kind die französische Staatsbürgerschaft erhält. Aber vielleicht hat Helen auf einer Geschäftsreise mit einsetzenden Wehen nur den Weg in die Schweiz nicht mehr geschafft. Als Tochter Helens, einer vormals Schweizer Jüdin und des staatenlosen, polnisch-belgischen Juden Jakob Margolers, wurde Eva fast aus Zufall Französin.

Jakob vergötterte Eva, sein Chawale. Sie sangen zusammen, tanzten und gingen jeden Tag in der Stadt spazieren. Er liess sie Geige spielen und Klavier. Auf einer Fotographie von damals sieht man Eva als schalkhaft lachenden, sechs- oder siebenjährigen Lockenkopf mit Geige. Sie trägt ein weisses feinbesticktes Kleidchen mit dezenten Rüschen und ist umgeben von bewundernden Schulkameraden. Auf einem späteren Bild sieht man Eva am Klavier und Jakob mit der Geige auf einer Bühne. Dahinter erkennt man eine Menora, den achtarmigen Leuchter des Lichterfestes Chanukka.

1942 versuchte sich Helen mit ihrer Tochter von Brüssel durch das deutsch besetzte Frankreich in die Schweiz durchzuschlagen. Eva hatte ihren französischen Pass und Helen benutzte ihren eigentlich abgelaufenen, auf ihren ledigen Namen ausgestellten Schweizer Pass, dessen Gültigkeit ein Freund eines Freundes in Rotterdam geschickt um fünf Jahre zu verlängern gewusst hatte. Bald würde aber auch dieses illegale Papier definitiv unbenutzbar werden. Eva war nicht als Tochter im Schweizer Pass von Helen aufgeführt; da sie aber zusammen mit ihrer Tochter reiste, waren ihre Papiere nicht unauffällig und sie gaben sich als Tante und Nichte aus.

Vorsichtig immer auf eine passende Legende achtend, fuhren sie auf Umwegen durch Belgien und den Norden Frankreichs mit der Eisenbahn und mit Fahrrädern Richtung Süden. Meist mimten sie einen fröhlichen Ausflug und blieben bei schlechtem Wetter im Hotel, um Probleme mit Strassenkontrollen zu vermeiden. Gepäck liessen sie sich etappenweise vorausschicken. Um ungestört und ohne Mithörer im eigenen Zimmer telefonieren zu können, stiegen sie in Belfort in einem vornehmen Hotel ab. Es wimmelte von schneidigen deutschen Offizieren, welche die beiden hübschen Damen charmant in Beschlag zu nehmen suchten.

Helen versuchte mit ihrem Anwalt in Zürich zu telefonieren, um Wege in die Schweiz zu finden. Sein Rückruf erreichte sie nicht mehr. Der Chef de Concièrge hatte den Braten und Geld gerochen. Mit ausgesuchten Worten formulierte er seine Bedingungen, welche bei der Entsorgung des jüdischen Abfalls aus seinem Haus, zu einer allseits annehmbaren Lösung führen könnten. Glücklicherweise liessen sich die Wünsche des bösen Hotelbediensteten zufriedenstellen. Aber Helen und Eva mussten sofort weiterreisen.

Am Jura-Nordfuss erreichten sie die Schweizer Grenze. Helen hatte das Recht auf Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz durch ihre Heirat verloren. Ihre Tochter war eine französische Jüdin. Damals nahm die Schweiz nur politische Flüchtlinge und keine aus rassischen Gründen verfolgten Menschen auf.

Die Schweizer Zöllner prüften die Papiere eingehend. Wegen der notwendigen, versichernden und rückversichernden Telefonate mit Amtsstellen in Basel und Bern vergingen mehrere Stunden. Helen wartete mit ihrer halbwüchsigen Tochter auf einer Holzbank im Gang des Zollhauses. Das Geradesitzen und Lächeln kostete Kraft, die sie kaum mehr hatten. Beamte zogen mit Akten hin und her an ihnen vorbei, zuerst neugierig, dann achtlos wichtig, oder war es verächtlich? Das gebohnerte, mit langen Holzbohlen ausgelegte Parkett knarrte und jeder Gang nahm ihnen ein Stück Mut. Als die Ungültigkeit der Dokumente Omas feststanden, übergab der Zöllner das eines Schweizer Passes unwürdige, jüdische Fälscherpack verfluchend die beiden Frauen einem Polizeibeamten. Der sperrte sie im Hinterzimmer des Gemeindeamtshauses ein; die Fenster waren vergittert.

Der Beamte organisierte ihnen Brot und je eine halbe Wurst. Die Wirtin eines nahen Gasthofes brachte später noch Gerstensuppe und warmen Tee. Der Polizist gab Eva ihren französischen Pass zurück und brachte die beiden Flüchtlinge nach Einbruch der Nacht zur Grenze. Als er sicher war, dass sie unbemerkt am französischen Zoll vorbeikämen, entschuldigte er sich. Er könne nicht anders und müsse sie eben fortschicken. Er entliess sie in die Dunkelheit aber blickte ihnen doch nach, um sicher zu gehen, dass sie wirklich über die Grenze gingen und nicht zurückkehrten.

Zuhause stellte der einsame Polizist eine kühle Bierflasche auf den Tisch und bereute es im selben Moment. Er nahm den feuchten Lappen aus dem Spülbecken, wringte ihn aus und wischte den Bierring weg. Feine feuchte Tröpfchen glänzten nun auf der Tischfläche. Er konnte die Zeitung nicht ablegen, ohne dass sie kleben würde. Er blätterte in der Luft. Er merkte erst, dass er nicht wahrnahm, was er las, als er zu den amtlichen Todesanzeigen vorgestossen war.

Eva war früh entwickelt und schon fast eine Frau, als sie während des Krieges zu Mieder-Muller kam. Helen fand ihren früheren Geschäftspartner und ironisch-vergeblich-glühenden Verehrer ohne Familie als Wittwer vor. Mullers Frau und ihre Tochter seien beim Einmarsch der Deutschen umgekommen. Er wollte davon nicht sprechen.

Mieder-Muller schwamm offensichtlich obenauf. Er belieferte die Deutschen und fluchte heimlich über die sales boches. Grossartig lud er die schöne Hélène und die fast noch hübschere Eva zum Essen in ein gediegenes Gartenrestaurant ein. Vorher gab er ihnen aus seinem exklusiven Lager etwas Elegantes zum Anziehen.

Bedient Euch, es gehört ja sowieso fast alles Euch, erklärte er grosszügig, als Eva sich überschwänglich bedanken wollte. So erfuhr Eva, dass der Grossteil des Warenlagers ihrer Mutter gehörte. Die Angst war nicht vergessen, als sie im Lokal ankamen. Musik spielte auf, das Publikum war gediegen. Dass es dieses Leben noch gab!

Helen war zunächst erschrocken, ihren guten Freund so blind gegenüber der Not der Zeit zu finden. Vergeblich wartete er auf amüsante Pointen, als sie ihre traurige Geschichte erzählte. Selbstverständlich war er aber bereit, sie beide bei sich aufzunehmen. Sie seien jetzt beide der Ersatz für seine so schrecklich verlorenen Lieben. Helen aber erklärte, dass sie sich in die Schweiz durchzuschlagen versuchen wollte. Ob sie ihre Tochter bei Muller zurücklassen dürfe, bis sie einen Weg in die Schweiz gefunden habe. Mais bien sûr begnüge er sich gerne, auf Eva allein aufzupassen, solange bis sie beide in die Schweiz könnten oder der so … pardon Krieg vorbei sei. Selbstverständlich sei die junge Dame sein charmanter Gast und ein Licht im trüben Wittwer-Dasein. Er war ehrlich entrüstet, als ihm Helen andeutungsweise eine Entlohnung für seine lebensrettenden Dienste anbot. Beim Kaffee erklärte er, die Gefahr sei gering und er und seine Freunde suchten sowieso Gelegenheiten, den verdammten Nazis eins auszuwischen. Spass mache ihm das, Spass. Er könne natürlich nicht darüber sprechen, was alles so geschehe, évidemment, bien sûr, aber er habe eigentlich nur tollen Spass.

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