Fips

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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Fips’ Rückkehr aus Israel war angekündigt. Philipp Zawidows Eltern, Moische und Selma, wohnten in einer Dreizimmerwohnung an der Mühlebachstrasse in Zürich. Eva zog mit ihrem Kleinen zu den Eltern ihres Gatten. In Basel, bei den Eltern der eigenen Mutter, war es nicht mehr zum Aushalten gewesen. Der Kleine liebte die Ausdrücke der Erwachsenen. Nicht zum Aushalten war so ein Beispiel. Er konnte diese Wortfolge immer wieder brauchen. Auch den Ausdruck zum Beispiel konnte er beispielsweise in viele seiner Sätze einbauen, oder etwas verstehen, wenn es verständlich war, oder er konnte überhaupt nicht verstehen, warum jemand etwas nicht verstand, was der Kleine sagte.

Grossvater Moische verstand kein Hebräisch. Er sprach ein merkwürdiges Deutsch und sein Kauderwelsch war auch nicht Jiddisch. Der Kleine verstand ihn zu Beginn schlecht. Aber dass Grossvater Moische mit Selma, der Mutter seines Vaters Fips verheiratet war, das war nun wirklich unverständlich. Diese Grossmutter lag immer nur im Bett. Selma war ein keuchender und prustender Riesenkoloss mit Augen, die bei jedem Husten herauszukullern schienen. Selma hustete dauernd und so fürchterlich, dass auch hier die Nächte schrecklich waren. Der Kleine musste deswegen in das Spital für Kinder, er war so gelb und krank geworden wie sein Vater Fips. Nach seiner Entlassung aus dem Kinderspital, war auch der Vater endlich wieder da.

Zum Glück musste Selma bald in ein Heim, denn die Wohnung war sehr eng und so gab es mehr Platz. Aber im Heim war es mit Selma noch schlimmer als zuhause. Das Zimmer war schön, sonnig und mit intensiv riechenden Blumen geschmückt. Aber Grossvaters Frau sah und roch die Blumen nicht mehr, denn sie war tot und Tote sehen gar nichts mehr. Wieso auf dem Foto vor der Fassade des jüdischen Altersheims die übrige Familie in die Kamera strahlt, kann man nicht verstehen.

Selma hätte gar nicht ins Heim gehen und sterben müssen. Die ganze Familie zog nämlich bald an die Stüssihofstadt im Zürcher Niederdorf. Dort gab es mehr Platz. Grossvater und der Kleine hatten nun je eine eigene Kammer.

Jeden Mittag kam Fips nach Hause. Leere Gassen, keinen Mucks beim Mittagessen. Nach dem Zeitzeichen um Zwölfuhrdreissig herrschte andächtiges Schweigen in Schweizer Stuben. Die Mittagsnachrichten von Radio Beromünster wurden im Sommer bei offenem Fenster gemeinsam während des Essens gehört. Nicht so bei Zawidows. Die Nachrichten wurden sofort diskutiert. Wer ist Chruschtschow, Eisenhower, Dö Gool? Meist kommentierten Fips und Moische lautstark. Vor allem wenn Grossvater erwähnte, dass nur durch Stalin alles erst zum Guten gekommen sei. Eva versuchte dann über Sartre oder Simon dö Bowoar zu sprechen.

Wenn Fips nach Hause kam, hörte der Kleine seinen Vater schon von weitem durch die Gassen der Altstadt pfeifen. Die Laune seines Vaters war immer gut zu hören. Meist pfiff Fips eine kunstvoll improvisierte Melodie und manchmal sang er lauthals: Ich bin ein Schweizer Juhude und hab’ die Heimat lieb. Alle hörten ihn und viele liebten ihn darum. Das Niederdorf, die Alstadt war ein Dorf. Fips sang das Lied oft auch in Moll oder ergänzte eine Strophe durch eigene Texte. Es war nicht koscher, zu singen, ich bin ein Schweizer Jude anstatt ich bin ein Schweizer Knabe, es war eine Frechheit aber die Wahrheit.

Ja, endlich war der Vater aus Israel wieder nach Hause gekommen. Fips war gesund und wollte nicht mehr sterben. Der Kleine fragte, ob Fips wieder das Oberhaupt der Familie sei. Der hielt ihn an der Hand, blieb stehen, sah ihn an, aber sagte nichts. Hatte er es vergessen? Sie gingen weiter, durch die engen Gassen über das Kopfsteinpflaster nach Hause.

Er sei noch klein, erklärte der Kleine seinem Vater, aber er hätte keine Angst vor grossen Männern, denn er würde ja selbst wachsen und ein Mann sein. Und diese Männer wüssten, dass er einmal gross und stark sein werde. Darum hätte er keine Angst. Vor allem wäre er als Mann mindestens so schlau, wie diese Männer. Und wenn diese Männer dies nicht wüssten, dann wäre er einst ja noch viel schlauer als diese Männer, denn es sei doch jetzt schon klar, dass diese Männer dumm wären, wenn sie das nicht wüssten.

Fips hielt ihn fest. Der Kleine spürte den Atem und die Wärme des Körpers seines Vaters. Sie schauten zusammen aus dem Fenster in den tiefen Hof vor dem Haus. Sie wohnten im obersten Stock. Über ihrer Wohnung war nur noch der Dachboden, von welchem Holztritte auf die Dachzinne führten. Wenn Fips ihn auf die Schultern hievte, sah er dort oben die weissen Wolken unter dem blauen Himmel bis zu den schneebedeckten Bergen ziehen. Wenn sich sein Vaterpferdchen auf Kommando drehte, sahen sie über alle Dächer, sahen die Türme an der Spiegelgasse, die Türme der Predigerkirche und die Kuppeln der Hochschulen. Das war nicht Israel, nicht Jerusalem, und nur beinahe noch schöner.

Fips erzählte, sie seien vielleicht seit langer, langer Zeit wieder die ersten Juden, welche in diesem Häusergeviert wohnten. Er zeigte mit der ausgestreckten Hand: da in den Hinterhäusern hätten die Juden gewohnt. Fünfhundert Jahre und länger durften keine Juden mehr in unserem Land leben. Wieso? Ja, das sei eine böse Geschichte.

Rudolf Brun hiess der braune Übeltäter, dieser Haman, dieser Hitler. Der habe alle Juden der Stadt ausgeraubt, ermordet oder vertrieben. Die Brungasse heisse so, weil der Brun dort gewohnt habe, in einem Haus, welches er einer reichen jüdischen Familie gestohlen hatte. Im Treppenhaus könne man noch hebräische Buchstaben sehen. Fünfhundert ist die Hälfte von Tausend. Fünfhundert Jahre sind also eine lange, lange Zeit. Dann machte sein Pferdchen Galopp Galopp und sie sangen ganz laut über alle Dächer: Ich bin ein Schweizer Juhude und hab’ die Heimat lieb!

Philipp Zawidow, Fips, war auch immer der Kleinste gewesen. Das jüngste von vier Geschwistern, der kleinste in der Klasse, ein kleiner Jude den niemand vermissen würde. Endlos war seine Kindheit. Hat ihn nur das Dienstmädchen Emma geliebt? Der kleine Fips durfte manchmal in ihrer Kammer schlafen. Ein Leben lang träumte er in schweren Zeiten von ihr. Sie nahm den kleinen Fips an der Hand und ging unerlaubterweise zum Tanz. Im Tanzlokal musste er und durfte er den ganzen Abend sitzen und schauen. Die galanten Männer umschwärmten die schöne Emma. Was machst Du mit dem Knie, lieber Hans, mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz?

Die Kosten für Selmas Behandlungen erlaubten wohl nicht auch noch den Unterhalt einer Magd. Emma wurde entlassen, als Fips in die Schule kam. Der kleine Philipp wurde immer übersehen, und wenn er doch einmal drankam, wusste er nicht was zu sagen. Die Lehrer waren gewalttätig, aber er war schlau und im Verborgenen aufsässig. Mutlos war Fips nicht, aber sicher auch nicht übermütig. Nur mit kleinen Streichen und Parodien machte er sich über alle grossen mächtigen Menschen lustig. Er kam in die Spez und blieb ohne Schulabschluss. Niemand wollte den kleinen, dummen Juden. Er fand lange Zeit keine Lehrstelle. Moische zweifelte am Verstand seines Jüngsten. Selma sah ihn als ein Leiden mehr, welches das Leben für sie bereit hielt. Fips verkroch sich in jedes Buch, welches er in die Finger bekam.  Irgendwie kam er doch noch bei einem Frisör unter und lernte Haare schneiden. Der hübsche kleine Fips gefiel durch seine Schüchternheit, die sich unvermittelt mit geheimer Dreistigkeit paaren konnte. Er lernte den Damen zu charmieren. Die erste eröffnete ihm eine duftende Welt; die zweite eine zweite. Bei einer Operndiva lebte er über ein halbes Jahr. Er lebte nur für Ihre Bücher.

Als Hitler in Polen einmarschierte warf die Soubrette den kleinen, lästig gewordenen Juden raus. Fips musste zum Militärdienst an die Schweizer Grenze. Auf der anderen Seite des Rheins war die Deutsche Wehrmacht, das Deutsche Reich, die Nazis und Hitler war ihr Führer. Hitler wollte alle Juden töten. Um sich Mut zu machen, sang Fips, der kleine jüdische Schweizersoldat lauthals über den noch dunklen, frühmorgendlichen Rhein, Ich bin ein Schweizer Knahabe und hab die Heimat lieb, in allen Variationen.

Es war eine aufgeregte Zeit damals. Alle wussten, dass die Wacht am Rhein im Falle eines Überraschungsangriffs, von der Naziarmee überrannt werden würde. Der taktische Plan war ein zähes Nachgeben im eigenen Land, um dann endlich den Rückzug in eine beinahe uneinnehmbare Alpenfestung anzutreten: Reduit am Gotthard. Die Städte, Zürich, Bern, Genf, das ganze Mittelland, fast alles, nur nicht die hohen Berge, wären den bösen Besetzern preisgegeben worden. Unglaublich, aber das leuchtete damals allen ein.

Fips war an der vordersten Linie postiert und wusste, dass er den ersten, erbitterten Widerstand hätte leisten müssen und doch unweigerlich überrannt worden wäre. Fips bereitete diesen Fall umsichtig vor. Als der Angriff Nazi-Deutschlands viele Wochen lang unmittelbar erwartet wurde, legte sich Fips auf Wache immer eine Astgabel zurecht. Ohne diese Hilfe konnte man sich mit dem Gewehr der Schweizer Armee nicht erschiessen, es war zu lang. Fips war auf das Schlimmste gefasst und es war ihm todernst.

Die ganze Kompagnie wusste, dass er ein kleiner Jude war und ein Kommunist. Die Kommunisten waren verboten. Aber Fips sagte sogar dem Kommandanten: Jude sein, ist ja auch an vielen Orten per Todesstrafe verboten. Ich bin nun mal ein Schweizer Jude und ich stehe zu meinen Überzeugungen, auch wenn man von mir das Leben abverlangt.

Fips konnte den Kompagnie-Clown spielen. Gut verpackte Melancholie und notdürftig kaschierte Wut wirkte in dieser Zeit besonders lustig. Wie sie kämpfen würden, wenn die Deutschen kämen, war das allgemeine Thema. Die Schweizer Armee bewachte die Grenzen. Angst ging um aber blieb uneingestanden.

Dass Fips auch einen selbstmörderischen Auftrag mit geringster Chance ausführen würde, sollte niemand bezweifeln. Die ganze Kompagnie wusste, dass der kleine Zawidow mit den Faschisten liebäugelnde Offiziere gehörig einschüchtern konnte, wenn diese die nächtlichen Wachen an der Grenze kontrollieren mussten. Er sei nur ein kleiner Jude, aber notfalls würde er die eigenen Offiziere töten, wenn diese vor dem Feind kneifen wollten: Dieses faschistische Gesindel muss wissen, was Heimat bedeutet, giftete er durch zusammengebissene Zähne.

Es gab Gerüchte von Spionen und Infiltranten. Man war auf der Hut und hatte insgeheim gehörig Schiss. Sie sollten nur kommen. Schweizer Armee! Keine Bewegung! Wer da? Losungswort?

Dass Fips auf der Wache im unwegsamen Gelände über den Rhein hinweg Drohungen und Verwünschungen rief, war bekannt. Drüben patrouillierten die Deutschen zu zweit. In der ersten Dämmerung, wenn sie ihn nicht sehen konnten, rief er ihnen zu, dass er sie alle beide hinterrücks und lautlos abmurksen würde. Er schüchterte die Wachen auf der anderen Seite ein, wann immer er konnte. Er drohte, dass er über den Fluss schwimmen würde. Aber dies war noch nicht die Nacht, in der er es tatsächlich machen wollte, und auch auf der nächsten und übernächsten einsamen Wache am Rhein blieb er am hiesigen Ufer und verschonte die Soldaten des grossdeutschen Reiches.

In einer Nacht allerdings hatte Fips geschossen. Der Schuss wurde gehört, die Munition war abgezählt, es gab einen Rapport. Der kleine Jude musste zum Kommandanten. Strammstehend gestand er, dass er erschrocken sei. Ein Fuchs sei aus einem Gebüsch gekrochen. Der Fuchs sei durch einen Menschen aufgescheucht worden, der sich in demselben Gebüsch verstecken wollte. Fips erkundete lautlos das Gelände. Der kleine Soldat war dem Fuchs an diesem Abend schon vorher begegnet. Er merkte, dass sich der Fuchs anders verhielt als sonst. Da war jemand. Er sah ihn in ein Gebüsch kriechen. Aber als plötzlich der Fuchs losrannte, schoss er leider den Fuchs tot und der Mann entkam. Der Kommandant war skeptisch.

Wenige Tage später wurde der Spion allerdings im benachbarten Abschnitt der Grenzbesetzung gefasst. Jetzt wollte der Kommandant erneut wahrheitsgetreu wissen, was vorgefallen sei. Wer war dieser kleine Kerl, den er da am exponiertesten Punkt postiert hatte? So so, Schweizer Jude. Ja es könnte sein, dass man froh sein werde, ihn dort zu haben. Dafür hätte Fips sein Leben gegeben. Er musste es nicht.

Im Mai 1945 waren alle jahrelangen Ängste sinnlos und überflüssig geworden. Die Schweiz und nicht zuletzt alle Juden der Schweiz hatten überlebt.

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[1] Siehe wenn nötig im Glossar