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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025
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Helen Goldstein war die Jüngste von vierzehn Kindern. Viele jüdische Familien wohnten im grossen Haus an der Strasse zur Grenze. Der Hof im Schatten des Hauses fiel gegen das Ufer ab. Zum Spielen fand sich dort nicht viel. Spielen war immer besser als das Abfüllen von Creme und Essenzen. Die Kinder turnten auf den Holzfässern, auch wenn der Vater das verboten hatte. Aus einem kaputten Fass war Säure ausgelaufen. Die Holzstücke waren teilweise verrottet, aber mit den zwei Metallbändern des kaputten Fasses konnte Helenchen einer Schnecke den Weg versperren.
Helens Vater Aron Goldstein war vorwiegend in der Betstube mit Dawenen, Benschen, Beten, Heiligen und Lernen aus Tora, Talmud, Mischna, Gemara und Midrasch beschäftigt. Gottes Lob zu erforschen und dazu seine Familie mit oder ohne Gottes Hilfe zu ernähren, war schwer. Als junger Vater brachte Aron seine Familie aus dem polnischen Lodz nach Basel, in das freie, schöne Land Schweiz. Die Hälfte der vierzehn Kinder starb schon als Kind, drei schon in Polen, eines auf der Reise und die anderen in der Schweiz. Mordechai fiel in den Fluss und ertrank im Jahr als Helen Goldstein geboren wurde. Religion und Armut wollte in der Familie Goldstein niemand mehr, aber Juden blieben sie alle. Nur Leo heiratete irgendwann eine katholische Schikse.
Aron Goldstein war nicht nur ein frommer Mann. Er hatte auch einen schlauen und klugen Kopf und war ein grosser chemischer Tüftler. In der Schweiz konnte er seine Ideen als Patente an die chemische Industrie verkaufen und eine Zeit lang liessen sie ihn sogar mit regelmässiger Bezahlung tüfteln. Aber es reichte weder für die grosse Familie noch um sich ausschliesslich in seine religiösen Studien vertiefen zu können. Als die Zahl der Kinder immer grösser wurde, holte die polnisch-jüdische Armut ihn und seine Familie wieder ein.
Aron liess durch seine Kinderschar Essenzen, Salben und Öle abfüllen. Er schickte seine Kinder Goldsteins Scheenheits-Kröm an den Haustüren zu verkaufen. Aber erst die jüngste Tochter verkaufte tüchtig. Als Helenchen noch ein kleines Mädchen, aber alt genug war, um an die Haustüren zu klopfen, soll endlich Butter auf das tägliche Brot gekommen sein. Schon als Erstklässlerin machte sie Arons Gesichtscrème zum Verkaufsschlager. Sie wurde in flachen Blechdosen verkauft. Der dichtverschliessende Dosendeckel konnte durch ein drehbares Flügelchen aufgehebelt und geöffnet werden. Die Dosen enthielten ursprünglich Schuhwichse, deren Reste von den Kindern sorgfältig weggeputzt werden mussten. Es gibt ein Bild: Gekonnt scheu und verlegen streckt das lachende Helenchen die Blechdose dem Betrachter entgegen. Von Hand bemalt und beschriftet liest er darauf: Scheenheits-Cröm.
Helenchens Lied von der Scheenheits-Cröm tönte durch alle Gassen der Stadt Basel. Helen war zeitlebens eine begnadete Verkäuferin. Sie handelte mit allerlei: Mit Stoffen aus England, Tüchern aus dem Glarnerland, Schuhen aus Italien, Uhren, Pflegemitteln. Sie wusste immer, wo was günstig und gut zu haben war und lieferte dorthin, wo es verkauft werden konnte: Nur nie verderbliche Ware.
Zuerst verkaufte sie von Tür zu Tür bei den Bauern und Dorfbewohnern; später vermittelte und lieferte sie in die grossen Häuser und exklusiven Geschäfte der europäischen Städte. Als Baslerin fuhr sie im eigenen Wagen vor allem entlang des Rheins ins Elsass, Rheinland, Saarland, Burgund, nach Stuttgart, Karlsruhe, Köln, Frankfurt, Strassburg, Nancy, Paris, Luxemburg, Belgien und die Niederlande. Das Foto zeigt eine schöne Frau, elegant und strahlend am Steuer ihres Cabrios. Helens nächst ältere Schwester Lea, räkelt sich in einem knapp knielangen Fransenkleid am stromlinienförmig geschwungenen Kotflügel, während der Bruder Leo, ein Bein auf dem Trittbrett, obwohl etwas älter, in seinen kurzen Knickerbockerhosen noch fast wie ein Junge ausschaut. Helen hebt ab in einem hellen, Kleid mit V-förmigem Ausschnitt, grosser Brosche und kurzem, gewelltem Haar. Ihr Lachen entblösst grosse Schneidezähne, die lustvoll am Leben knabbern wollen. Die linke Hand liegt offen in der Öffnung des Seitenfensters, als wolle sie den Betrachter einladen, einzusteigen.
Energisch, meist offenherzig fröhlich, aber vor allem unbeirrt setzte sich Helen in ihrem Leben durch. Als sie heiratete, war sie schon schwanger. Jakob war Zahnarzt, stammte aus Lodz und lebte in Belgien. Als Jude wurde ihm der polnische Pass nicht mehr erneurt und er wurde staatenlos. Weil sein polnisches Diplom nicht anerkannt wurde, studierte er für einen anerkannten Abschluss noch einmal an den Universitäten Brüssel und Amsterdam.
Jakob Margoler spielte Cello. Beide waren sie zur Hochzeit einer gemeinsamen Cousine nach Strassburg eingeladen, als sie sich das erste Mal trafen. Helen sang und Jakob liess seine Kniegeige klingen. Dann wechselte er zum Klavier. Ihre Lieder von Schubert und deutschen Romantikern tönten, als hätten sie schon ein Leben lang zusammen geübt. Er hätte ein berühmter Musiker sein können, hiess es immer. Summ’ ihm drei Töne einer Melodie und er sagt Dir welches Stück.
Jakob konnte nicht nur Cello und Klavier, sondern fast ebenso gut Akkordeon spielen. Er brachte die jiddischen Couplets, Lieder und Gesänge aus Polen und New York. Er kannte die Schlager aus Paris, Berlin und der ganzen Welt, alles, was er irgendwo wenigstens einmal gehört hatte. Er konnte mit Witzen und Sprüchen und harmlos-frechen Nettigkeiten ganze Abende unterhalten. Alle liebten Jakob. Die Fotos zeigen den zierlichen Mann im Zigarettenrauch des freundschaftlichen Getümmels zusammen mit befreundeten Musikern, mit Gastgebern und Verehrerinnen, mit einem freundlich-ernsten Gesicht, schon lange vor dem Krieg mit einer frühen Glatze, noch mit Lockenkranz und einer grosser Hackennase. Sein jüdisches Profil hätte jedem Karikaturisten der Nazis das Modell für Jid Jankel abgegeben.
Jakobli, Jakobli, Jakobli. Helen und ihr Jakobli konnten mehr als nur miteinander musizieren. Sie waren ein bewundertes Paar. Überall wurden Sie eingeladen. Die Liebe liess sie ihre Geschäftsreisen vermehrt nach Belgien und Holland ausdehnen, und eine Schwangerschaft führte zur raschen Hochzeit in Brüssel.
Der traditionelle jüdische Hochzeitsritus war beiden peinlich. Helens Eltern reisten aber aus Basel an. Aron hatte als väterliche Rede einen gelehrten Diskurs über die Bedeutung aller Teile der Zeremonie vorbereitet. Jakobs Freund, der die Hochzeit unter dem Baldachin durchführte, sprach zwei Segenssprüche, liess Wein trinken und kürzte das Verfahren drastisch. Das Brautpaar zertrat Glas und wurde schon mit Masel tow Rufen auf Stühlen sitzend hochgehoben, die Musik und der allgemeine Tanz begann. Wutentbrannt zog Aron seine Frau, die sich ausnahmsweise nicht widersetzte, aus dem Saal. Sie verliessen die Hochzeit ihrer jüngsten Tochter und fuhren mit dem nächsten Zug noch in der Nacht zurück nach Basel. Arons aufgeregte Gebete im Gang des Waggons übertönten die lauten Geräusche der Eisenbahn immer wieder. Die Prüfungen des Ewigen sind manchmal auch für einen frommen Juden zu viel.
Evas Geburt hätte Helen beinahe umgebracht. Jakob stand hilflos nur im Weg. Fast wäre Helen verblutet. Sie musste operiert werden und blieb noch lange bettlägerig. Zu schwach zum Reisen, konnte sie wenigstens einen Teil der Geschäfte auf dem Korrespondenzweg abwickeln, aber ihr Verdienst schmälerte sich. Das Hausmädchen musste entlassen werden. Helens Jakobli war so oft wie möglich zuhause und kümmerte sich rührend um seine zwei geliebten Weibchen. Er besorgte den Haushalt, so gut er das verstand. Helen wies ihn an. Er wechselte Evas Windeln, las aus Kinderbüchern und spielte mit ihr und auf seinem Cello. Eva klimperte auf dem Klavier, kaum dass sie an die Tasten reichen konnte. Sie erhielt eine kleine Geige und Musik wurde zum ebenso beliebten Spiel wie Rollenspiele mit Zündholz- und Pfeifenputzer-Puppen oder Hausbauten mit Kisten und Tüchern.
Jakobs Studium konnte nicht mehr finanziert werden. Er arbeitete als Zahntechniker in der Zahnklinik im neuen Eastman-Gebäude in Brüssel. Er betrachtete dies als vorübergehend. Immer noch wollte er einen belgischen Abschluss in Zahnmedizin und seinen Doktor machen. Vor und nach seiner Arbeit umrundete er den Teich im Leopold-Park. Er duckte sich unter den tiefhängenden Ästen, verweilte bei den Enten und Schwänen und suchte den Blick auf Fische im grün spiegelnden Wasser zu erhaschen. Auch in strömendem Regen stand er da, breitete die Arme aus, atmete tief, und manchmal hätte er die ganze Stadt und sogar ihren Lärm und Gestank umarmen mögen.
Da wurde ein Knoten an seinem Hals immer grösser. Nachts wachte Jakob schweissgebadet auf; er verheimlichte seine Albträume und seine Krankheit. Als sie die Knoten ihres Jakobli bemerkt hatte, musste ihn Helen monatelang zum Arztbesuch drängen. Der erste Doktor sah einen mittlerweile bedrohlich grossen Tumor, vermutete eine Tuberkulose und zögerte zu operieren. Das gibt eine Fistel, die nie mehr verschlossen werden kann.
Weniger Bedenken hatte der nächste, ein Chirurge, der das Geschwür umgehend entfernte. Er fand auch keine Tuberkulose-Bakterien. Aber Jakob ignorierte die dringende ärztliche Empfehlung, sich röntgen zu lassen. Das kostet doch nur unnötig.
Jakob tat so, als sei er gesund. Er stürzte und musste das Bett hüten. Helens überschwängliche Fürsorge für ihren Jakobli war unerträglich. Er verlor seine Arbeit im Eastman und wurde entlassen. Aber er rappelte sich wieder auf. Er arbeitete zuhause in einer Ecke des Wohnzimmers. Befreundete nichtjüdische Zahnärzte gaben ihm heimlich Aufträge für zahntechnische Arbeiten. Ja, es gab wirkliche Menschen, welche die judenfeindliche Politik der königlichen Regierung verabscheuten.
Manchmal nahm Jakob auch Angebote für Auftritte als Musiker an. Bezahlte Auftritte waren ihm aber peinlich und meist war er schlicht zu schwach. Zwischen Krankheit und Rekonvaleszenz beschränkte sich sein Leben auf das Hüten seiner kleinen Tochter, auf Cellospielen und zahntechnische Feinarbeit.
Helen ging wieder auf Reisen, als das kleine Töchterchen Eva, fähig wurde, im Notfall eine Nachbarin zu rufen. Eva mach das, Eva mach dies. Bei allem, was den Vater betraf, Evchen half gerne. Sie tupfte ihm den Schweiss von der Stirn, wenn er mit Fieber im Bett lag. Sie brachte ihm zu Trinken. Sie las ihm Geschichten aus ihren Kinderbüchern vor, wenn er zu müde war, dies für sie zu tun.
Kind und Religion sind das Schlimmste auf dieser Welt, sagte Helen nun bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit. Im Übrigen hatte sie ihren Lebensmut wieder zurückgewonnen. Helen geschäftete in der Schweiz, Frankreich, Belgien und Holland: Medizinalartikel, Drogeriewaren, Parfüms, Galanteriewaren und Dessous. Sie hatte ihre Agenten und musste nicht immer selbst reisen; tat es aber dennoch oft und mit Lust. Sie blieb Tage und bald Wochen weg. Ihr Jakobli blieb mit Eva zuhause. Auf und ab ging das Leben.
Goldene Zähne: Jakob Margolers geheime Praxis florierte, obwohl jüdischen Ärzten und Zahnärzten die Behandlung von Nichtjuden verboten war. Ein Motto bekam er von Seinesgleichen oft zu hören: Das Gold in deinem Mund kann dir auch der Hitler nicht stehlen.
Als Hitlers deutsche Soldaten Belgien besetzten, beschäftigte Jakob schon ein halbes Dutzend Angestellte. Er lehrte diese Frauen geduldig an und zeigte ihnen alle Kniffs und Tricks des zahntechnischen Handwerks. Sie arbeiteten in Margolers Wohnung. Als der Platz in der Wohnung nicht mehr reichte, wurde der Dachstock und ein versteckter Hinterkeller als Lager zugemietet. Die Hausbesitzer wohnten im Erdgeschoss. Die Familie Margoler und ihre Angestellten wohnten, arbeiteten und lebten im ganzen Rest des Hauses.
Eva hatte ihre Eltern nie streiten gehört. Helen liebte, bewunderte und verehrte ihren Jakobli über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Andauernd bekleckerte sie Evas Vater mit Küssen und mit Worten. Sie betatschte ihn vor allen Angestellten und verdrängte das Töchterchen von den väterlichen Knien und aus seinen zärtlichen Armen.
Als Helen nicht mehr frei reisen konnte, wurde das Haus zu eng. Helen ohrfeigte eine junge Angestellte und warf sie aus dem Haus. Aber das Leben in Brüssel war obdachlos und alleinstehend für eine Jüdin zu gefährlich geworden. Jakob versteckte die Frau im Hinterzimmer des Kellers. Als Helen die Untat ihres Jakoblis entdeckte, kam es zum Eklat.