Kaiserwetter

An einem wundervollen Herbsttag war es so weit. Der deutsche Kaiser besuchte unser Land, Staatsbesuch, grosser Bahnhof. Am frühen Abend fuhr er in seinem prächtigen Sonderzug in den städtischen Hauptbahnhof. Perserteppiche waren für die bestiefelten, edlen hohenzollerischen Füsse ausgelegt worden. Berge von Blumen lagen bereit. Die Fahnen des Kaisers, des Schweizer-Landes, des Staates und der Stadt Zürich schmückten den geplanten Weg. Sitzplätze an der Bahnhofstrasse wurden teuer bezahlt. Alles präsentierte sich in sonntäglichem Staat. Elegante Damen, aufgetakelt von den Fussspitzen bis zu den nervös zittrig wippenden Hutfedern, wurden von ihren galanten Herren in Zylinder und Frack begleitet. Auch viel proletarisches Volk war da, herausgeputzt wie es nur ging. Zehntausende wollten den Kaiser auf der Bahnhofstrasse sehen. «Hurrah, Hurrah, Hurrah!»

Schneidige Blaskapellen spielten «Rufst Du mein Vaterland» und «Heil Dir im Siegeskranz».

Im Osten hinter dem Zürichberg war von alldem nichts zu merken. Ruhe und Hitze hielten das Land in festem Griff. Auf einer vorgelagerten Nase des Stadtbergs, einer sonnenbeschienen Kuppe, thronte die herrschaftliche Villa des Konsuls.

Das Haus Netter war still, wie ausgestorben. Niemand hatte zuhause bleiben wollen. Fast alle waren zum Empfang des Kaisers in die Stadt gefahren oder marschiert.

Walter Netter, der alte Konsul, war in seiner vierspännigen Kutsche mit den Kindern vorausgefahren. Sein Sohn Alexander, der Hauptmann, fuhr einen nigelnagelneuen Brasier C10, Jahrgang 1912: tannengrünes Blech mit goldenen Lichtern, goldig gefassten Spiegeln und unverhüllt keck voranstürmender, weiblicher Kühlerfigur. Der Motor des eleganten Cabriolets war wieder einmal nicht sofort angesprungen. Die Handkurbel brachte den Beifahrer kräftig ins Schwitzen, bevor er auf seinen Sitz im Wagen jucken konnte. Lauthals aufgeregt war Abschied gewunken worden. Der Brasier mit der vergnügten Gesellschaft wirbelte Staub auf, als er vom Nettergut die gewundene, von Kastanien gesäumte Allee hinabbrauste. Im Hauseingang stand nur Anna, die Zofe. Sie winkte nicht.

Hustend schleppte eine alte Frau einen Leiterwagen zur Villa den Hügel hinauf. Eine junge Frau half hinten stossend. Die Hebamme und ihre Magd wurden sehnlichst erwartet.

Natalie stöhnte und dämmerte in ihrem Bett. Immer wieder und noch einmal weckten sie Krämpfe. Wie im Namen der Jungfrau und aller Heiligen hatte alles so geschehen können? Wer war sie?

Natalie, ja, sie war doch Natalja Alexandrowna, Tochter des russischen Fürsten Alexander Pawlowitsch Kutepow, General in zaristischen Diensten. Sie war Natalie. Konnte das denn niemand bestätigen?

Natalie träumte von ihrer Kindheit in Russland, im Palais in Moskau und vom Gut in Nikolajew. Sie sah sich am Hofe des Zaren in St. Petersburg und auf ihrer Hochzeitsreise nach Paris. Was war geschehen?

Ein fürchterlicher Krampf zerriss ihre Träume und schon versank sie erneut. Sie sah die bewundernden Blicke auf ihrer Reise durch Frankreich. Ihr Gemahl Alexander Netter der so blendend aussah in seiner Paradeuniform und seinem gezwirbelten Schnauz: imposant, sprachgewandt und mit aristokratischem Charme. Hatten sie nicht einige Monate in Strassburg residiert und ihre Aufwartungen im Elsass und weit im Schwabenland gemacht?

Warum nur war sie in diese Situation geraten? Was war da, das ihren Körper auseinanderreissen wollte? Sie dachte an ihre früheren Schwangerschaften, an die zwei Totgeburten. War sie nicht Mutter von zwei Töchtern und von Viktor? Wo war sie bloss? War sie nicht eben noch mit ihnen in Frankreich gewesen? Mit ihrem Gatten und mit ihren Kindern? Ja, sie waren doch die Stationen ihrer Hochzeitsreise noch einmal abgefahren. Natalie hatte erfolgreich um diese Reise gebettelt. Noch einmal la France, bevor sie in die Schweiz, das grässliche Land unter den hohen Bergen ziehen sollte. Der Schwiegervater hatte es befohlen, als hätte es der Zar höchstpersönlich angeordnet.

War sie auf dieser Reise schwanger geworden? Sie war so glücklich gewesen, endlich wieder einmal. Sie brauchte eine französisch sprechende Zofe, kein Problem. Aus dem Elsass hatte sie Anna mitgenommen, eine grosse, gutmütige Frau. Alexander hatte sich über Anna lustig gemacht und sie als plump bezeichnet; da stand ihr Entschluss fest. Ja, Anna war ein grosser Segen. Söhnchen Viktor war ihre grosse Liebe, aber Anna war bald der einzige Mensch, der sie zu verstehen schien. Ein endlos zunehmendes Ziehen wollte sie auseinanderreissen. Wo war sie bloss? War niemand mehr da? Musste sie ganz allein ohne Hilfe sterben?

Seit vielen Tagen hatte sie immer weniger die Tritte der Leibesfrucht, aber immer öfter Krämpfe und Wehen gespürt. Diese Schwangerschaft, dieses Kind war anders: nicht so wie bei ihren glücklicheren Geburten. Sie hatte nach dem besten Spezialisten verlangt. Aber der angeblich unabkömmliche Professor Wyder hatte einen Assistenten geschickt. Zu ihrer Erleichterung hatte der junge Arzt sie nur auf eine schickliche Weise untersucht. Er versicherte sogar, dass alles in bester Ordnung sei, aber Natalie spürte, dass es schlimmer kommen sollte als bei ihren früheren Geburten. Dabei hatte sie doch schon Zwillinge geboren, und schon da gedacht, das sei das Schlimmste, was Gott ihr auf dieser Welt bereiten könnte.

Anna war wieder da. Sie hörte sie leise durch das leere Haus. Die treue Anna hatte die Hebamme gebracht. Die alte Frau untersuchte wesentlich sorgfältiger als der junge Arzt vor ihr. Der Bauch von Natalja Alexandrowna war riesig. Die Kreisende atmete schwer. Sie war blass, verschwitzt und aufgequollen, im Gesicht und an den Beinen. Sie zitterte unter kalten Schauern. Wilde Wehen liessen sie stöhnen.

Anna musste heisses Wasser, Javel, Seife und mehrere frisch gewaschene Tücher bereithalten. Die Hebamme insistierte freundlich, die Gräfin musste sich zur Untersuchung nackt ausziehen lassen. Sie wollte schreien, aber es war nur ein fast stimmloses Krächzen: «Nein!»

Die Hebamme hörte mit dem Ohrtrichter den Bauch ab und tastete nicht nur von aussen, sondern auch vorsichtig mit einer Hand von innen nach der Gebärmutter und der Leibesfrucht. Die Hebamme verbarg ihre Sorge nicht. Sie drehte den auffälligen goldenen Ring am kleinen Finger der linken Hand. Anna musste übersetzen. Natalie verstand nicht alles.

Die Geburtshelferin verlangte, dass sich Madame unverzüglich ins Spital fahren lassen müsse: «Frau Gräfin, Frau Netter, ich bitte Sie inständig! Befehlen, kann ich Ihnen ja nicht, Madame.»

Zuhause könnte die Entbindung gefährlich werden, und nicht nur das Kind sei in grosser Gefahr. Madame versicherte, dass sie es sich überlegen würde, aber der Gatte sei ausser Haus. Der Schwiegervater werde jeden Moment erwartet; er sei doch auf sie angewiesen. Er habe schon gestern gesagt, er wollte wegen seinem erneuten schweren Gichtanfall, Kaiser hin oder her, sofort wieder nach Hause kommen.

Die Hebamme stand da, drehte ihren Ring am Finger und sagte nichts. Die Pendeluhr schien immer langsamer zu ticken. Jeder Atemzug schien die Luft stickiger zu machen. Feiner Staub trocknete in den wenigen Sonnenstrahlen, welche durch den Spalt der schweren Vorhänge in das dämmrige Schlafzimmer fielen. Was dann geschah, überstieg aber alle für Madame denkbaren Schrecken.

Die Hebamme verlangte, dass auch Anna sich sofort ausziehe. Jetzt bemerkte es auch die Gräfin: Anna stützte sich seit Minuten gekrümmt und leise stöhnend mit der einen Hand an die Wand und presste mit der anderen das Kreuz. Schon in den vergangenen Wochen hatte Natalie den Gedanken mehrmals abwehren müssen.

Es war unübersehbar: Anna war ebenso schwanger und unmittelbar vor der Geburt, wie sie selbst. Fruchtwasser tropfte auf den Teppich. Nachdem sie sich der Unterkleider entledigt hatte, kauerte sich Anna in der Hocke und presste. Weniger als eine Stunde später hatte Anna einen Zwergen geboren.

Der Kleine strampelte auf dem Bauch der Erstgebärenden und während sie auf dem Teppich liegend ihr Kind ein erstes Mal stillte, entwickelte sich leise die Nachgeburt unter stetigem Zug der Hebamme und plumpste zum Schluss blutig heraus.

Natalies Wehen hatten vielleicht etwas nachgelassen. Selbstvergessen half sie der Hebamme und ihrer eigenen Magd. Aber als die Hebamme in der Küche Tee, frisches Wasser und Tücher holte, setzten ihre eigenen Krämpfe in ungekannter Wucht wieder ein. Die Hebamme fand Natalie halb bewusstlos am Rand ihrer Bettstatt. Die bäuerische Magd hatte in der Küche gewartet aber war jetzt leise mitgekommen. Die Taglöhnerin stürzte auf Befehl der Hebamme aus dem Zimmer, um noch mehr Tücher und dann auch die zweite schwere Tasche und ein grosses Packet aus dem Handwagen der Hebamme zu holen. Heisses Wasser, Becken und Schüsseln mussten herbeigeschafft werden. Die Vorhänge und Fenster wurden aufgerissen, um frische Luft und vor allem Licht zu schaffen.

Die Kirchturmuhr läutete viermal fast im Gleichtakt mit der Pendüle. Auf einmal wetteiferte die Amsel auf dem Baum vor dem Fenster wütend mit einem entfernteren Konkurrenten.

Die Frauen hörten das alles nicht. Natalie schien bewusstlos, dem Tode nah oder in einem Delir. Anna war aufgestanden und hatte ihren Kleinen in die Wiege gelegt, sich Tücher um den blutenden Unterleib gebunden, Rock drüber und Schürze um. Die Bäuerin war eine tüchtige Hilfe; sie verstand etwas von Geburten aus eigener Erfahrung, am eigenen Leib, bei Mensch und Tier in fremden Häusern und Höfen. Die Hebamme hatte sie nicht zufällig mitgenommen. Die Hebamme untersuchte die Gebärende erneut. Sie sei sich sicher, dass das Kind tot sei. Natalie bäumte sich und schrie auf; man hätte es ihr nicht mehr zugetraut: «Non!»

«Das Kind ist tot, sie wissen es sicher seit Tagen, Madame. Wenn es nicht herauskommt, sterben Sie.» Für das Spital war es zu spät. Ohnehin waren kein Wagen und keine weitere Hilfe verfügbar. Natalie Netter jammerte, dass ihr kleiner liebster Viktor, ihre Töchter und auch der Mann sie doch bräuchten, sie dürfe einfach nicht sterben. Um Gottes Willen, und im Namen aller Heiligen, die Hebamme müsse doch alles nur Mögliche tun.

Die Hebamme erklärte, es gebe nur eine einzige Lösung und liess alle Frauen schwören, niemandem zu verraten, was sie nun zusammen wagen müssten. Es sei verboten, so das Leben einer totgebärenden Frau zu retten und nicht einmal Ärzte könnten dies tun, ohne ihren eigenen Kragen zu riskieren. Natalja Alexandrowna bekreuzigte sich und liess sich ergeben in ihre Kissen fallen. Alle schworen, so feierlich es die Umstände erlaubten.

Die Hebamme nahm nun ein daumendickes Rohr aus ihrer Tasche und verband es mit einem langen Gummischlauch und einem Trichter. Sie tastete in der Scheide der Gebärenden nach dem Schädel des toten Kindes. Durch ihre Hand führte sie nun einen Spiess zum Nacken und stiess diesen Trokar durch das Hinterhauptsloch des Ungeborenen. Dann führte sie das Stahlrohr auf demselben Weg ins tote Gehirn und mit groben Bewegungen fuhr sie nun hin und her. Sie zerstörte das Hirn des Wasserkopfs bis zum verlängerten Rückenmark hinab: Perforation, Trepanation, Kranioklasie, Kranioklastie: umgerührt und abgesaugt. Nichts ist peinlicher für den Arzt und die Angehörigen, als wenn ein Kind mit einem grossen Loch im Schädel und zerstörten Hemisphären geboren, noch atmet und schreit. Ein totes Kind mit einem Loch im Schädel aber war ein Kapitalverbrechen.

Anna stützte die stöhnend dämmernde Frau. Die Magd der Hebamme stand auf einem Stuhl, goss heisses Javel-Wasser in den Trichter und hielt den Schlauch in die Höhe. Auf Geheiss der Hebamme kletterte sie vom Stuhl und liess die Spülflüssigkeit in ein Becken auslaufen. Diese Prozedur wiederholten die Frauen viele Male, bis die Hebamme es endlich genügend fand. Mit einer groben Zange und dann sogar mit einer zweiten entwickelte sie mit aller Kraft den zusammengefallenen Schädel und dann die ganze schwammig aufgedunsene, übergrosse, tote Frucht aus dem Leib der völlig erschöpften Frau.

Anna hörte als Erste das verzweifelte Rufen vor dem Haus. Sie schickte die Taglöhnerin nachschauen. Als diese laut um Hilfe schrie, hastete auch die eben erst entbundene Anna, so gut es ging, watschelnd nach unten.

Der alte Konsul lag auf der Haustreppe in den Armen des Kutschers und der Taglöhnerin. Er griff sich im Krampf ans Herz und rang nach Luft aber wollte nur noch wissen, ob es ein Junge geworden sei. Anna zögerte und bestätigte dann, ja ein Junge. Der Konsul starb mit einem Lächeln.

In der Zofenkammer lag der neugeborene Zwerg und atmete friedlich. Er wurde ein legitimer Netter, der Enkel des Konsuls.

Mitten in der Nacht näherten sich vom Stadtberg herab die Lichter eines Automobils. Die telefonische Nachricht hatte den Hauptmann in den jubelnden Kaiserfeiern irgendwann doch noch erreicht. Vor dem Dorf bog der Wagen des Hauptmanns ab und brauste den Hügel zum Gutshof hinauf. Dem Fonds entstieg Professor Theodor Wyder, Chefarzt der kantonalen Frauenklinik. Sofort liess er sich zur Dame des Hauses führen. Der auch wegen dem toten Konsul gerufene Dorfarzt und die Hebamme mussten beiseitetreten. Das professorale Kommando erreichte nach wenigen Minuten, dass die kaum noch bewusstseinsklare Natalja Alexandrowna im Cabriolet gebettet lag und zur Frauenklinik in die Stadt gefahren wurde. Der professorale Tadel blieb unausgesprochen aber erreichte doch jede verfluchte Seele des Hauses.

Zwerg lag kaum beachtet in der Wiege des jüngsten Sprosses des Hauses. Das Personal war erst in der einbrechenden Dunkelheit mit den erschöpften, übrigen Kindern nach Hause gekommen. Anna stillte ihr Söhnchen im Halbdunkel als Viktor ins Schlafzimmer seiner Mutter schlich. Er drückte sich an Anna und zupfte am Fuss des Babys herum. Sie legte den Kleinen in die grosse Wiege zurück und holte für den grossen Knaben Zuckerwasser und Apfelschnitze aus der Küche.

Als sie zurück kam schrie Viktor wie am Spiess. Er krallte sich an der Wiege fest und rüttelte und schüttelte diese mit seiner ganzen wütenden Kraft. Im Schwall erbrach er das Magenbrot, die Cervelat-Wurst, die gebrannten Mandeln und was immer er an diesem denkwürdigen Tag sonst noch in sich hineingestopft haben mochte. Das saure Zeug entleerte er über seinen kleinen Bruder und Viktor polterte mit seinen Fäusten in die Wiege hinein. Anna hielt das kleine tobende Kind fest zurück und als sie den Griff langsam lockern konnte, fasste Viktor mit bösem Blick unter der Schürze an ihre Brust und sie öffnete ihren Busen und liess ihn nuckeln, bis Milch tropfte.

Erst fast in den frühen Morgenstunden fand man sich im Zimmer des Konsuls zum stillen Gebet und zur Totenwache wieder. In der Küche wurde Punsch gereicht.

Am nächsten Abend hörte man durch die offenen Fenster des Trauerhauses grauenhafte Schreie und dann anhaltend lautes Schluchzen. War das ein Mensch oder ein sterbendes Tier? Niemand hatte den jungen Hausherrn mehr gesehen. Alexander Walterowitsch Netter war wieder im Haus, verdreckt und erbärmlich in seiner völlig derangierten Paradeuniform.

Der Leichnam seines Vaters konnte erst nach über einer Woche bestattet werden. Vor dem Ende der kaiserlichen Paraden, Manövern und Feierlichkeiten verbat sich der Gedanke an eine Trauerfeier. Alexander sass die ganze Zeit nur in der Bibliothek an der Seite seines aufgebahrten toten Vaters. Seinen jüngsten Sohn sah er nur ein einziges Mal. Hatte er vergessen, dass er noch einmal Vater geworden war? Hatte er gar nicht mitbekommen, dass Natalie im Spital war und war er deswegen ins Schlafzimmer seiner Frau getreten? Er beachtete das ihm von Anna gezeigte Kind noch weniger als dessen Mutter. An eine Taufe dachte niemand.

Nach der Beerdigung seines Vaters konnte Alexander Walterowitsch die dringlichen Telegramme aus dem St. Petersburger Hof nicht mehr ignorieren. Nur er persönlich konnte doch den geheimen Bericht an den Zaren liefern. Und so reiste der Hauptmann bei schrecklichem Herbstwetter fast ohne Abschied ab.

→ zum Weiterlesen

→ zum Weiterlesen