Auch der zweite Weltkrieg hatte unser Land verschont. Die jahrzehntelange bestimmende Angst, die krebsig wuchernde Verzweiflung und die unterdrückte Wut verflüchtigten sich, fast absurd und surreal, sich noch zu erinnern. Die Totalvernichtung verschonte die Juden hierzulande.
Philipp Zawidow, der kleine Schweizer Jude reiste durch das zerstörte Europa, um Bücher zu kaufen. Er fuhr mit seiner Lambretta von Zürich nach Freiburg, Frankfurt, Erfurt und Leipzig. Die gekauften Bücher schickte er in Frachtkisten nach Hause. In den Ruinen von Dresden roch er die Reste des Gestanks der schon vor Monaten abgebrannten Stadt. Das kilometerweite Trümmerfeld löste nicht die Gefühle aus, die er erwartet hatte, Schadenfreude kam keine auf. Je weiter er nach Osten fuhr, desto günstiger konnte er kaufen. In Polen und in Böhmen könne ein Schweizer deutsche Bücher noch viel billiger erstehen, erfuhr er. Fips fuhr immer weiter: Cottbus, Warschau, Krakau und endlich Prag. Von dort schickte er eine Ansichtskarte mit dem Schwarzweiss-Foto der Karlsbrücke.
Prag war vom Krieg nur wenig zerstört. Fips streifte durch die Altstadt, die Josefstadt und stieg auf die Burg. Er sah alles, was er aus Büchern schon kannte, die Altneu-Synagoge, den alten jüdischen Friedhof mit dem Grab Rabbi Löws, die goldene Gasse, und er sah viel Elend. Er hockte in Spelunken aber blieb allein. Er fragte sich herum. Wo lagerten die riesigen Posten von deutschen Büchern, die hier niemand mehr wollte? Im Prager Kreisbüro der kommunistischen Partei wies man den Genossen aus der Schweiz an Vertrauensleute. Die verantwortlichen Kommissäre waren zwei schmierige Funktionäre, deren Nadelstreifenanzüge und amerikanische Zigaretten von zweifelhaft erworbenem Reichtum zeugten. Nein, das war nicht der Schwarzmarkt, sondern die korrumpierte offizielle Wirtschaft des Landes. Ganze Eisenbahnladungen von Wandschmuck, Radios, edlen Lampen oder Leuchtern hätte er dort kaufen können, zuerst den Juden und dann den Deutschen gestohlenes oder erpresstes Raubgut. Fips interessierten nur Bücher.
Die Kommunisten standen vor der Schwelle der Machtübernahme. Die staatlich autorisierten Tschechen nahmen ihn mit in ein vornehmes Haus. Aufgerollte edle Teppiche lagen vor dem geschwungenen Treppenaufgang im Entrée. Ausgebleichte Rechtecke an den Wänden zeugten von neulich abgehängten Bildern. Das Bild Adolf Hitlers lag unter Glasscherben zerfetzt am Boden. Reste abgebrannter Hackenkreuzfahnen bildeten ein zusammengekehrtes Häufchen auf den Steinplatten.
In der Küche sass ein Mann am Tisch. Eine Frau in elegantem Morgenmantel lag hinter ihm am Boden. Beide waren tot, durch Kopfschuss. Vor ausgedehnter Zerstörung war das Haus bewahrt worden. Schon im Entrée und in fast allen Zimmern bedeckten massgeschreinerte Büchergestelle und prall gefüllte Glaskästen einen Grossteil der Wände. Die Bibliothek der erschossenen Besitzer war ein Gemisch aus deutschem und anderem Schrifttum: Klassiker der Literatur, Romane, Lyrik, Theaterstücke, gesammelte Werke, Enzyklopädien in Deutsch, Tschechisch, Englisch und Französisch. Niemand hatte die Bücher angefasst. Fips wurde mit den roten Funktionären rasch handelseinig. Man stieg hinab in den Weinkeller. Abgesehen von einer einzigen zerbrochenen Flasche, war auch die ausgedehnte Weinsammlung unversehrt. Sie boten dem kleinen Schweizer Genossen den Kräuterschnaps Becherovka an, der scheusslich schmeckte. Er bevorzugte Slivovice, den Pflaumenschnaps: «Na zdraví!»
Als sie aus dem Keller heraufkamen, waren die beiden Leichen in der Küche weggeräumt. Als wäre nur ein Traumspuk vorbei und als wäre nichts gewesen, bereitete eine hübsche, dralle Köchin eine Suppe mit Kohl und fettigem Fleisch zu. Die Küchenuhr tickte. Zwei Slivovice-Flaschen waren aus dem Keller mit nach oben gekommen und machten die Runde. Verteilte Zigaretten qualmten. Die Köchin lachte müde, als der eine Funktionär sie in den Hintern kniff und ihr einen Schluck anbot. Auf Deutsch bot er seinem Gast nicht nur Slivovice und einen Teller Suppe an, sondern gleich auch die Köchin, für einen guten Preis, fast geschenkt, als Zugabe. Der andere Apparatschik zog eine Mundharmonika aus seiner Jacke und spielte eine slawische Melodie. Auch eine gute Flasche Wein hatte ihren Weg in die Küche gefunden.
Nach der Suppe war Fips müde. Hatte er die ermordeten Nazis schon vergessen? Da er die gekauften Bücher nicht unbewacht lassen wollte, sein Hotel auf der anderen Seite der Stadt lag und die füllige Köchin interessiert schien, übernachtete er, wo er war. In ihrer Kammer am Hintereingang des Hauses, neben der Küche war es warm und gemütlich. Die junge Frau war richtig nett und wies Fips’ Geld zunächst zurück. Später nahm sie es dann aber doch. Sie verständigten sich mit Gesten, Brocken von Russisch, Tschechisch und Deutsch.
Bald hielt er ihre Backen und liess
seine Nase ging wie in einem weichen Schnappschloss
hin und her,
auf und ab;
ein und aus
atmete er
den Duft ihrer Lust
zwischen ihren Schenkeln,
blickte auf und erschrak.
Zwischen Ihren Brüsten
baumelte ein gefolterter Jude
tot am Kreuz.
«Jesus»,
sagte sie und sank ins Kissen.
Die Frau schien froh, dass er da war in dieser Nacht. Ob er denn die Leute nicht kenne, mit denen er geschäfte. Fips müsse sich vorsehen. Die beiden Kommunisten seien die übelsten Banditen der Stadt, Gangster, Räuber, Lupič, Wor, Vrah, Diebe, Mörder, Satan. Ihre lebhaften Augen spiegelten im Kerzenlicht den Schrecken, ihre Zweifel und Angst. Und sie drückte sich an ihren kleinen Švýcarský, bis endlich beide schliefen.
Am nächsten Morgen sass wieder ein regloser Mann auf dem Stuhl am Küchentisch des ermordeten tschechischen Nazibonzen, mit derselben Statur, demselben Anzug und in derselben Pose. Dieser Mann war nicht tot. Plötzlich streckte er nämlich seine steifen Glieder. Fips erkannte in der ausgezehrten Gestalt und im Blick von Augen aus tiefen Höhlen, die eben erst überstandene Lagerhaft. Ohne Vorrede krempelte der Mann den Ärmel hoch. Wie einen Identitätsausweis zeigte er seine Häftlingsnummer aus dem Konzentrationslager am Unterarm und fragte: «Sie sind doch der kleine Jude aus der Schweiz?»
«Ja, ich bin aus Zürich. Ich kaufe antiquarische Bücher Deutscher Sprache. Ich bin schon durch ganz Deutschland gefahren und hier gelandet. Ich glaube, jetzt habe ich alles, was ich suchte. So bald ich einen Lastwagen habe, fahre ich zurück.»
«Von wo kommen denn Sie?» Der Mann blickte regungslos. Dann richtete er sich etwas auf, ohne seinen Blick zu wenden.
«Sie müssen mir helfen.» Sein Deutsch war akzentfrei.
«Wie bitte?»
«Nehmen Sie mich mit!»
«Wohin?»
«Deutschland.»
«Nach Deutschland? Ist in Ordnung, da muss ich sowieso hindurch in die Schweiz. Ich nehme Sie gerne mit.»
Als Fips aus dem Bad wieder in die Küche zurückkam, war der befreite Häftling verschwunden.
Fips blieb weitere zwei Tage und Nächte in Prag. Er sichtete und sortierte die Bibliothek für den Transport. Unglaublich, welchen Schatz er da in Händen hielt. Der vormalige Besitzer war offensichtlich ein hoch gebildeter, weltläufig interessierter Mann. War er wirklich ein Nazi gewesen? Fips fand Reiseberichte, Kunstbände, wissenschaftliche Bildbände aus dem 19. Jahrhundert, Erstausgaben, gesammelte Werke von Goethe, Schiller, Lessing, Fichte, Kant, Sigmund Freud, C.G. Jung, Husserl, Heidegger, Wittgenstein und sogar Bücher aus dem Wiener Kreis. Karl Marx’ Kapital stand neben Hitlers Mein Kampf, Gedichte von Heinrich Heine neben Ernst Jünger. Ein Pentateuch zeigte die fünf Bücher Moses parallel in der Originalsprache und in Wort für Wort Übersetzung, auch ein Hebräisch-Deutsches Wörterbuch fehlte nicht. Fips vergass die Umstände und die Zeit. Zwei wunderbare Tage und Nächte lang vertiefte er sich in die Bücher, seine üppige tschechische Liebe und ihre wunderbare Küche. Als der bestellte Lastwagen endlich kam, bugsierte er sein Motorrad hinter die Fahrerkabine, zurrte die Lambretta fest, stapelte seine Bücher sorgfältig auf die Ladefläche, befestigte und deckte alles mit einer dichten Plane und festen Seilen. Die Köchin herzte und drückte ihn beim Abschied überschwänglich und versprach, ihren kleinen Schweizer in Zürich zu besuchen.
Als er losfahren wollte, sass der KZ-Überlebende neben ihm in der Fahrerkabine. Von der Köchin abgelenkt, hatte Fips sein Einsteigen nicht bemerkt. Mit Gesten und kurzem Brummen wies der Mann den Weg. Auf der Kante sitzend stierte er stundenlang in die Landschaft. Dann zog er wortlos seine Kappe ins Gesicht und drückte sich in seinen Sitz und den langen Mantel, den er wohl aus dem herrschaftlichen Haus mitgenommen hatte. Über Nebenstrassen gelangten sie nach Polen. Sie übernachteten in Breslau, das wieder Wroclaw hiess. Kaum hielten sie, sprang der Mann aus dem Wagen. Fips war froh, dass er in der engen Fahrerkabine allein nächtigen konnte. Aber vor Tagesanbruch der Mann war wieder da. Kein Wort darüber, wo er zwischenzeitlich gewesen war oder gar warum. Wieder sass er reglos gespannt oder schien zu schlafen.
Kurz vor der Grenze zu Deutschland, liess er Fips den Lastwagen den Hügel hinauf zur Dorfkirche fahren. Der rote Backsteinbau blickte über die sanft gewellte Landschaft. Überraschend verschmitzt lächelnd forderte der Mann seinen Fahrer auf, auszusteigen.
«Wieso?»
«Zawidow?»
«Ja?»
«Du kommst von hier! Der Ort heisst Zawidow: Du und Deine Vorfahren, Ihr seid von hier, wusstest Du das nicht?» So viel Worte hatte der Mann noch nie gebraucht.
Der frühe Sonntagmorgen war kalt und der Himmel strahlend blau. Das Dorf schien wie ausgestorben. Ein Hund bellte, Gänse schnatterten bei einem zugefrorenen Teich. Der Blick ging weit nach allen Seiten über bewaldete Rücken und verschneite Felder. Wenige weisse Wolken zogen schnell mit dem Biswind. In die Stille donnerte weit entfernt von Görlitz eine Explosion und nach einiger Zeit eine zweite.
Der Mann kannte einen Gasthof in der Nähe. Gasthof war eigentlich übertrieben, aber in der engen Stube erhielten sie eine warme Gemüsesuppe, je eine halbe Wurst und ein Stück Brot. Anschliessend dösten sie zu zweit in der Lastwagenkabine. Erst kurz vor dem Eindunkeln wollte er weiter. Sie fuhren über die Grenze nach Görlitz. Im tiefen Osten Deutschlands war die Stadt vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Nur beim Bahnhof sahen sie zwei zerstörte Fabrikgebäude und die Ruinen einer Brücke.
Der Mann hiess Fips im Wagen warten. Stunden nach Mitternacht erschien er zurück, atemlos. Er drückte sich in seine Ecke der Kabine, schlug den Kragen hoch und schien sofort eingeschlafen. Zwei Stunden später klopfte ein deutscher Polizist an die Scheibe auf der Fahrerseite und verlangte Papiere. Zwei Sowjetsoldaten sassen im Dienstwagen, aber sie bemühten sich nicht auszusteigen. Der Schupo beäugte den Lastwagen von allen Seiten und sogar von unten. Er leuchtete mit seiner Laterne unter die Verdeckplane aber war freundlich, als er den Schweizer Pass sah.
Gesprächig und wichtig erklärte er, dass sie einen Mörder suchten. «Das war regelrecht eine Hinrichtung, gar nicht weit weg, an der Goethestrasse. Aber vielleicht hat es ja den Richtigen erwischt.»
Beiläufig kontrollierte er den Ausweis des Mitfahrers und leuchte ihm ins bartstoppelige Gesicht. «Der Ermordete soll bei der SS ein hohes Tier gewesen sein. Dass der noch hier war und nicht in Westen?!»
Lange schliefen die beiden Lastwagenfahrer nicht mehr in dieser Nacht. Schon früh musste Fips wieder losfahren. Im Tageslicht musterte er seinen Kumpanen mit kurzen, vom Fahren abgelenkten Blicken. «Wie heisst Du eigentlich? Bist Du von hier?»
Der Mann antwortete nicht. Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen die Kabinenwand. Irgendwo beugte er sich plötzlich vor, blickte starr durch die Windschutzscheibe oder dann schnellten seine Augen hin und her und überall hin, bis er fast mit einem Seufzer den angehaltenen Atem ausstiess. Der Wind peitschte spärlichen Schneestaub über die wellige Lausitzer Landschaft. Über Hoyerswerda gelangten sie nach Cottbus.
Im Dörfchen Kolkwitz, am östlichen Rande des Spreewalds blieb der Mann zwei Nächte lang weg, bevor sie weiterfahren konnten. Fips wartete mit dem Wagen. Skeptisch vergewisserte er sich, dass er auf dem Sandboden nicht feststeckte. Der Boden war festgefroren; er würde jederzeit losfahren können. Und er wollte auch schon allein weiterfahren, als der KZ-ler doch wieder dastand, noch wortkarger, nicht einmal Wegkommandos waren nötig.
Am Abend hielten sie am Rande von Berlin. Fips hatte Proviant besorgt. Sie teilten eine Flasche Rotwein, Käse und Brot. «Lechaim, Schabat Schalom!»
Der Mann musterte Fips mit seinem unsäglichen Blick, lange und stumm. «Die beiden tauchen nicht mehr auf», sagte er unvermittelt.
«Welche beiden?»
«Na, die zwei von Kolkwitz, liegen jetzt unter dem Eis der Spree. Lechaim!»
In Berlin hatte der Namenlose erneut zwei «Aufträge» zu erledigen. Fips wartete in der Lastwagenkabine. Er sah den Wald hinter der Hauptstrasse, die Sicht war trübe, draussen war es nass geworden. Stündlich wurde es kälter und die Nässe gefror an den Dachtraufen und Ästen der Tannen. Ein Tankwart besorgte dem Schweizer Proviant, seine Frau brachte zweimal einen warmen Punsch. Der kleine Jude begann langsam zu zittern fragte sich, warum er sich vom KZ-ler benutzen liess. Da öffnete dieser plötzlich die Wagentüre und schon wieder waren sie unterwegs.
«Nach Frankfurt», bellte er beim Einsteigen. Fips wollte protestieren. Nein, also er müsse wieder nach Hause mit seiner Bücherfuhre, er wolle zurück in die Schweiz. Aber sie fuhren nicht nach Osten, nicht an die Oder, sondern Richtung Westen, nach Frankfurt am Main.
Die Fahrt über Magdeburg, Halberstadt schien endlos, und sie verirrten sich fast in den waldigen Höhen des Harzes. Das Spiel des Lichts im spärlichen Schnee am Boden, im Wind und in der Weite der gefrorenen Landschaft war von berückender Schönheit. Göttingen, Kassel, die zerstörten Städte und Dörfer, hungernde Menschen, Kinder in dreckigen, feuchten Lumpen, viele Frauen, das ganze verzweifelte Elend entlang der notdürftig geflickten Strassen, beeindruckte es die beiden Männer im Lastwagen?
Weiter und weiter ging die winterliche Reise durch Deutschland. Für Bücher leiden? Wer litt in Deutschland? Kreuze am Strassenrand und auf den Kuppen bezeugten das Leiden des armen jüdischen Vetters.
«Überall stellen sie die Kreuze auf, überall, immer noch. Das uralte Zeichen der Warnung: Jude der Du hier kommst, wir holen Dich! Ja Dich kleiner Jude, auch Dein Opfer brauchen wir!»
Fips merkte, dass auch er schon seit Berlin kaum noch gesprochen hatte: «Ein Kreuz ist ein Kreuz, mit oder ohne Haken spielt keine Rolle, meinst Du nicht?»
«Ein Kreuz ist ein Kreuz und jeder Jude weiss, was das Kreuz bedeutet: Folterung und Tod des Juden.» Fips redete jetzt auch ohne Antwort.
«Kennst Du den Witz des Mäuschens, der Mausefalle und der Rasierklinge?
Nein?
Das Mäuschen beugt seinen Hals über die aufgestellte Klinge und schlitzt sich die Kehle auf, als es sagt: ’Nein, nein, das ist keine Mausefalle’»
Als Fips schon lange keine Reaktion mehr erwartete, sagte der KZ-ler unvermittelt: «Du musst mir helfen.»
«Noch mehr helfen! Was weiss ich wieso und wofür?»
«Wirklich nicht?» Der Mann hatte nur kurz den Kopf gedreht und stierte schon wieder durch die Windschutzscheibe. Dann steckte er zwei Zigaretten in seinen Mund, zündete beide an und reichte eine an Fips weiter.
Vor Fulda gerieten sie in einen Schneesturm. Sie sahen die Strasse auch zu Fuss nicht mehr und warteten in der langsam auskühlenden Fahrerkabine. Auch als der Sturm fast plötzlich endete, war an ein Fortkommen nicht zu denken. Der Wagen sprang nicht mehr an. Sie stapften einen halben Tag durch den mehr als kniehohen Neuschnee. Erst bei einbrechender Dunkelheit erreichten sie das nächste Dorf. Als es finster wurde brannte kein Licht.
Sie klopften und polterten bald an ein grosses Holztor. Der dick eingepackte Mechaniker trug eine verschlissene Uniformjacke und unter dem Soldatenkäppi einen um den Kopf gewickelten Schal. Ja, er traue sich zu, auch einen Lastwagen wieder flott zu kriegen. Er nannte einen unglaublich günstigen Preis. Hinter ihm drängten sich vier grosse Kinder. Mehr neugierig als ängstlich guckten sie durch einen nur kurz geöffneten Spalt im grossen Tor der Werkstatt. Ein eisiger Wind wirbelte glitzernde Kristalle zwischen die Häusern und in den Atem der winterlichen Gestalten. Nein, eine Herberge, gäbe es hier nicht, sie könnten bei ihm übernachten, auch Suppe und Kartoffeln hätten sie genug. Der Mechaniker lud sie ein, einzutreten. Der KZ-ler raunte etwas wie, «was der wohl im Krieg getan hat!»
«Hast Du nicht bemerkt? Das ist doch eine Frau!»
Sie wohnte mit ihren Kindern in einem finsteren Loch, offenbar eine alte Schmiede. Ein grosser Kessel Suppe stand auf dem Amboss und im Dunkeln glomm Feuer in der Esse. Als der kleine Schweizer eine grosse Wurst auspackte und eine Flasche Wein, strahlten nicht nur die Kinder. Das flackernde Licht des Feuers beleuchtete im groben Gesicht der Frau eine verloren geglaubte Erinnerung.
In Frankfurt fand er sich unversehens fast in der gleichen Szene wieder, die er schon in Prag erlebt hatte.
Sie hatten den Lastwagen auf dem bewachten Parkplatz ihres Hotels abgestellt. Fips begleitete den KZ-Überlebenden auf seine Erkundungen. Sie gelangten in ein nobles Viertel. Fips wurde angewiesen, an der Haustüre zu läuten und sich frühestens nach einer Minute abweisen zu lassen. Dann solle er eine Viertelstunde spazieren gehen und möglichst ungesehen zum Haus zurückzukommen. Die Türe werde offenstehen. Fips hatte verstanden, dass der stille Kompagnon sein Ablenkungsmanöver brauchte, um unbemerkt durch den Hintereingang ins Haus zu gelangen.
Eine grossgewachsene, Dame in seidenrotem Morgenmantel öffnete. Fips gab vor, Bücher kaufen zu wollen. Die Frau war an Bücherverkäufen interessiert. Der Hausherr im blau satinierten Morgenanzug mit weinrotem Einstecktuch war dazu getreten. Fips wurde nicht abgewiesen. Im Gegenteil musste er versprechen, in einer halben Stunde wieder zu kommen. Fips wollte nur noch weg.
Aber als Fips nach seinem Spaziergang doch zurück in die herrschaftliche Villa kam, war im Haus kein Mucks zu hören. Da, in der Küche war etwas. Der Hausherr hatte seinen Kopfschuss schon gefasst und sass reglos auf einem Stuhl: dieselbe Art Haus, fast dieselbe Küche. Am Boden hinter dem Mann lag wieder eine leblose Frau. Der halbe Kopf war weg, eine schrecklich klaffende Wundhöhle, Blut tropfte auf Haar und Hausmantel. Als Fips zu ihr trat, drehte sie sich stöhnend um und er blickte in ein halbes Gesicht.
«Juden», rief sie aus, mit Ekel und mit dem Schrecken des Erkennens, des plötzlichen Verstehens. Sie richtete sich auf, ihre Finger krallten sich in seinen Arm. Überrascht stürzte Fips mit ihr hart auf die Steinplatten des Bodens. Irritiert bemerkte er, dass seine Hand einen Moment ihren Busen umfasste. Da kam schon sein Weggefährte um den Küchentisch. Er drückte ein Kissen auf den blutigen Kopf der Frau und schoss noch einmal. Nur wenige Federn quollen aus dem neuen Loch. Die Frau rührte sich nicht mehr.
Das nackte Küken erhob sich und flog mit steif gerecktem Hals vor der Glasfassade auf. Für einen kurzen Augenblick verdeckte das blutig spritzende Gefieder die Strahlen der Sonne in der spiegelnden Wand des Gebäudes. Das fiepend bettelnde Schnäblein wurde geköpft und als goldenes Ringlein auf den Fehdehandschuh gesteckt. Die Kassenfrau kam schreiend aus dem Gebäude gerannt: «Das Vöglein, das Vöglein!»
«Doch der Rächer hat ein Messer, und das Messer sieht man nicht.»
Fips wachte im Elsass auf. Am Stadtrand von Strassburg, welches wieder einmal Strasbourg hiess, sollte die nächste Aktion stattfinden. Der gesuchte Vogel aber war ausgeflogen. In dem abgelegenen Gebäude fanden sie nur einen verschreckten, einsamen Miederwarenhändler und ein riesiges Lager von Damenwäsche. Sie drohten dem massigen Mann. Sein Haus sei eine bekannte Station der Nazis auf ihrem Fluchtweg in den katholischen Süden und Westen Europas. Sie wüssten Bescheid über ihn und das Gesindel, dem er helfe.
Sie setzten den Elsässer an seinen Küchentisch, fesselten ihn, knebelten ihn, stellten Fragen, entfernten den Knebel, stopften ihm das Maul später erneut und begannen das Spiel viele Male von Neuem. Sie legten sich auf die Lauer. Irgendwann müssten sie kommen, die untergetauchten SS-Leute. Aber niemand kam. Sie taten sich an den üppigen Vorräten gütlich. Der Wein schmeckte vorzüglich und die Schallplattensammlung Mieder-Müllers war exzellent. Jazz aus Amerika, französische und deutsche Operetten, die ganze deutsche Produktion der Kriegs- und Vorkriegsjahre, da war sogar Kurt Gerron mit Kurt Weills Musik. Bald zechten sie gemeinsam mit ihrem Gefangenen und diskutierten über Gott und die Welt und vor allem über Gerechtigkeit und Rache. Sie prosteten sich zu und einigten sich auf den schrecklichen Spruch: «Jedem das Seine!»
Dann fesselten sie den schweren Mann erneut an Händen und Füssen an den schmalen Stuhl auf dem er sass. Sie teilten sich die nächtliche Wache.
Am Morgen aber war der Mann aus dem KZ schon wieder einfach verschwunden. In Fips’ Hose lag eine Waffe. Fips hatte für einmal wieder in einem Bett geschlafen. Er war erst spät wach geworden, machte sich Kaffee und brachte dem auf den Stuhl gefesselten Mann eine Tasse. Alleine wagte er es nur zögernd, die Fesseln an den Händen zu lösen. «Mach’ mir etwas Schnaps rein, immer noch mein Schnaps!»
Der Miederwarenhändler schnupperte den Duft mit schmunzelnder Geste: «Na, kleiner Schweizer Jude, auch mal gerne gross und stark?»
Da hatte er bei Fips den falschen Schalter gedrückt. Fips spannte den elastischen Hosenträger des gefesselten dicken Korsagenhändlers, fragte mehrfach «wie bitte?» Immer bei «bitte» liess er das elastische Band schnellen.
Später goss er ihm aber doch wieder Schnaps in die Tasse. Fips trank nicht mehr.
Als der Namenslose mit der tätowierten Nummer auch nach Stunden nicht erschien, fragte der Elsässer: «He, Schweizer, wofür bist Du eigentlich auf Rachefeldzug?»
Hatte niemand die Wanduhr bemerkt, die ständig tickte? Jetzt schlug sie laut die volle Stunde.
Nach einer weiteren Stunde holte der kleine Schweizer eine Flasche Wein, entkorkte sie, füllte zwei Gläser, und machte erneut eine Hand des Gefangenen frei.
«Unsere Familie hat niemanden durch Hitler, Nazis oder Kollaborateure, wie Dich verloren. Wir sind Schweizer Juden!»
«Ein freies Geschlecht, so so», höhnte der Elsässer.
Fips holte tief Luft, musterte ihn und atmete langsam aus, atmete ein und noch einmal langsam aus. «Du hast recht. Zwölf Jahre lang waren wir gefangen.»
Er schenkte dem Elsässer nochmals nach. «Gefangen in unserer Angst.»
Der Schweizer Jude leerte die Flasche im Glas des Elsässers: «Du hast recht, unsere Angst ist schon älter. Sicher ist unser Platz unter den Eidgenossen, dem einzig Volk von Brüdern, noch nie gewesen.»
Der Elsässer prostete ihm mit der einzigen freien Hand zu und deutete auf eine Flasche, die auf dem Tisch stand.
«Wir haben schon so lange Angst, dass wir nicht mehr wissen, wohin damit. Jetzt wo wir ein bisschen weniger Angst haben, sind wir gefährlich. Wir werden nie mehr zulassen, dass wir Angst haben müssen, verstehst Du das?»
«Was willst Du jetzt tun?» entgegnete der Elsässer.
«Keine Angst, Du wirst uns schon noch weiterhelfen!», versicherte der kleine Buchhändler nach einer Weile und fesselte den grossen Miederwarenhändler wieder ganz.
Der KZ-ler war plötzlich wieder da. «Wir bleiben noch.»
Aber niemand kam. Fips wollte nur noch nach Hause. Den elsässer Korsagenhändler würdigte er mit keinem Blick oder Wort mehr. Inbrünstig verabschiedete er sich vom befreiten jüdischen Häftling. Dieser liess sich Fips’ Adresse in der Schweiz auf den Unterarm schreiben. Er werde sich melden, «mein Name ist Malach Hamawet». Fips, dessen Kenntnisse der hebräischen Sprache sehr beschränkt waren, fand den Begriff erst Jahre später in einem traurigen Text und im Diktionär den er in Prag erworben hatte: «Malach Hamawet, Todesbote, der Überbringer, Botschafter und Engel des Todes.»