Moische

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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Schil-büil schil-büil, xi xi xi, es war war war einmal begannen alle seine Geschichten. In Grossvater Moisches verrauchter Kammer sorgte die knackende Glut im gusseisernen Brikett-Ofen für stickige Wärme. Die Doppelfenster waren mit Eissternen dick beschlagen. Das schwach eindringende Tageslicht und das Flämmchen über dem auf einer Schicht Öl im Zahnputzglas schwimmenden Docht beleuchteten das Gesicht des Grossvaters, die roten Backen seines Enkels und die Fotos an der Wand. Im Flackern schienen sich Geschichten zu bewegen. Schil-büil: Es war einmal, es ist gewesen, xi xi xi.

Grossvater stellte das Waschbecken auf den Schemel in seiner Kammer. Gründlich wusch er Gesicht, Arme, Beine, Oberkörper, seine Haare unter den Armen und die Scham. Er nahm das Becken vom Schemel, stellte es auf den Boden und wusch seine Füsse darin, nachdem er zuerst die Zehennägel mit einer kluppenden Schere gestutzt hatte. Er zog den Ledergurt aus den Schlaufen seiner Hose und hängte ihn mit der Schnalle an der Türfalle ein. Dann klappte er sein Rasiermesser auf und schliff es sorgfältig mit über den Gurt streichenden Bewegungen. In einem Schälchen aus dickem Porzellan erzeugte er mit seinem Rasierpinsel Schaum aus Wasser und Seife. Er seifte sein Kinn, Wangen und die äusseren Enden der Oberlippe ein. Mit exakten Strichen entfernte er die Seife und seine Bartstoppeln. Dass der alte Mann sich trotz seinen tiefen Falten nur selten schnitt, konnte der Kleine fast nicht verstehen, denn der Grossvater hatte ihm gezeigt, wie scharf die Klinge war, und gelacht, als der sich in die Fingerbeere schnitt. Mit verschmitztem Mund und mit den Augenbrauen grimmig zuckend erklärte er, in Russland, beim Militär, wir hatten kein Rasiermesser nicht, nur unsere Säbel.

Der Grossvater schwärmte von den kindskopfgrossen ukrainischen Tomaten, von den noch viel riesigeren Melonen in seiner alten Heimat Russland, von den lieben Frauen und den schönsten Mädchen. Er erzählte vom schweren Matsch und Dreck im Frühjahr und Herbst, vom Staub im Hochsommer, und vor allem strahlte er, wenn er von seiner Zeit als Soldat berichtete. Sie seien eine stolze Musikertruppe gewesen. Ein wunderbares Leben, Paraden auf grossen Plätzen und Strassen, von einer Stadt zur andern. Der Kleine durfte mit seinen Fingerchen die Delle spüren, die dem Grossvater von einem Streifschuss von der Stirne bis zur Spitze des Schädels geblieben war. Gemacht Wfft, und Mütze war weg, aber da war viel Blut.

Der Grossvater war ein Held. Im russisch-japanischen Krieg war er als berittener Trompeter mit der zaristischen Armee in Sibirien gewesen. In Sibirien war kalt, Brrr. Und wenn Du musst abschlagen Wasser, dann gemacht klirr. Alles war Eis. Am grossen, grossen Fluss Amur gefroren. Wir vier Towarischtschi gestanden vor die Truppe. Auf die unsichere Kantone wir gezielt mit Gewehr und Pistole. Wer kommt nicht mit? Wir gehen nach China.

Du hast umgeschaut Dich links, da ist einer gefallen und nicht mehr aufgestanden. Du hast umgeschaut Dich rechts, da ein anderer gefallen. Sie haben nicht auf Dir gewartet, und Du nicht gewartet auf Sie!

China war schlimm. Wurzeln haben wir gegessen, Korm, Wurzeln. Von unsere Finfzig, die mitgekommen von Amur, wir waren noch unsere Dreizehn, die in Schanghai ins Schiff nach Hamburg in Deutschland gestiegen.

Moische ben Beer, offiziell Moisej Beerowitsch Zawidow, war trotz seines Judentums, dank Fürsprache seiner Mutter und einem alten erblichen Privileg seines verstorbenen Vaters Beer, als niederer Offizier in die Armee des russischen Zaren eingezogen worden. Er wurde Unteroffizier bei den Hornisten. Ein Horn tönt über weite Strecken. Die Signalkette von berittenen Trompetern konnte Meldungen über Duzende von Kilometern transportieren, mobiler, zuverlässiger und flexibler als Morsesignale über den Draht des Telegraphen, ein militärischer Vorteil im russisch-japanischen Krieg. Aber der Krieg war für Russland trotzdem schon verloren.

Moisches Truppe wurde mitsamt den Pferden für die Fahrt von Odessa nach Moskau, und dann quer durch Sibirien in einen Eisenbahnzug verladen. Ein erster Wintereinbruch hatte Schnee und trügerisches Eis gebracht. Im Stroh bei den Pferden war es in den Eisenbahnwagen wenigstens nicht gar so kalt. Am Baikalsee konnten sie nicht weiter mit der Bahn. Der Hauptmann befahl seiner Truppe beim Verladen auf ein Fährschiff einen gefährlichen Weg durch den gefrorenen Sumpf und ritt hochgemut voran. Er brach als erster ein. Ein Offizier, der zu Hilfe eilte, brach ebenfalls ein. Langsam versank der Truppenführer mit seinem Ross, alle Teufel fluchend, und dann Maria und alle Heiligen um Vergebung für seine Sünden schreiend, der verunglückte Helfer kämpfte stumm und vergeblich noch einige Minuten länger. Die Hornisten aber ritten um den grossen langen See und weiter, tief in den Osten.

Über flache Hügelzüge und weite Ebenen mit Steppengras. Tagelang zogen sie durch weglose Wälder. Sie steckten im Morast von unbefestigten Strassen. Sie führten darum ihre Pferde am Zügel und marschierten in der Nacht, wenn die Böden gefroren waren. Auf langen Nachtmärschen erinnerst Du Dich an vieles. Moische dachte an die Geschichten seines alten Vaters, Beer ben Abischai. Mein Tate war sichärr schoin iber hundert Johren.

So alt war Beer Abischajewitsch Zawidow wohl nicht wirklich. Aber er erzählte seinem jüngsten Sohn Moische, dass er selbst als kleiner Junge mit Napoleons Armee bis nach Moskau gezogen sei. Mit seinem Vater Abischai habe der kleine Beer in der brennenden Stadt Moskau den Kaiser Napoleon gesehen, lautete die Legende, die Moische im flackernden Licht einer Kerze oder eines Öllämpchens zuhause von seinem uralten Vater gehört hat. Er erzählte sie noch seinen Enkeln weiter.

Die grossen sibirischen Weiten schienen still und stumm. Hier war keine Stadt, sie sahen kaum einen Menschen, kaum Häuser, nur wenige Hütten, nur weites, fast ungenutztes Land. Sie liessen ihre Pferde weiden, schonten die Tiere und marschierten den grössten Teil der Strecke. Manchmal hörten Sie die Pfiffe eines grossen Raubvogels und blickten seinen hohen Kreisen nach.

Zuerst einzelne und dann immer mehr verwundete, verwirrte und desertierte Soldaten kamen ihnen entgegen. Russland verlor seine vor Zeiten eroberten Gebiete im Nordosten von China. Bevor der Winter mit aller Härte zuschlug, erreichten die Reiter ein notdürftiges Quartier am Oberlauf des Flusses Amur.

Im stickigen und überheizten Kantonnement hatten desertierte Soldaten und vor allem entlaufene Sträflinge die Macht an sich gerissen. Ihr Anführer hiess Wor. Er trug eine Hauptmannsmütze. Aber ein Hauptmann des Zaren war dieser Mann mit Bestimmtheit nicht. Das auf seiner Stirn eingebrannte, schreckliche Mal bezeichnete ihn als Dieb WOR. Der Mann sass am Kopfende des langen Tisches und liess sich Wurst, Brot und den Wein schmecken, welchen er wer weiss wo gestohlen hatte. Die beiden verbliebenen Offiziere des berittenen Regimentes stellten den Mann zur Rede. Mit seinem Fleischermesser in der Hand, stand der Mann langsam auf, wischte sich den Mund am Ärmel ab, drehte sich halb um und stiess das Messer in den Bauch des Offiziers zur Linken, drehte sich fast gleichzeitig weiter, packte den zweiten Getreuen des Zaren an der Gurgel und tötete auch ihn.

So wurde Moische zum Pjatdisjatnik und führte fortab das berittene Signalbläser-Regiment. Sie hielten sich von den Deserteuren und Sträflingen fern; vertreiben vermochten sie sie nicht. Seit Wochen hatten sie weder Nachschub noch Nachrichten aus der Kommandantur erhalten. Die Männer hungerten, die Pferde hatten zu wenig Futter. Zwei Tiere hatten sie schon notgeschlachtet.

Moische war früh aufgestanden. Er entfernte sich etwas weiter von der zugeschneiten langen niedrigen Hütte. Der Himmel war sternenklar. Der Wind aus der endlosen Weite hinter dem Horizont pfiff schneidend durch seine dickgepackten Kleider. Der Schnee war fortgeblasen und geblieben war blankes Eis. Nein, in den verlorenen Krieg des Zaren wollte er nicht. Sie würden kein Schlachtfeld suchen gehen.

Moische sah den Polarstern. Süden war in seinem Rücken. Dort war die Mandschurei, eine eisige Wüste. Er musste Wasser lösen. Es klirrte, als die sofort gefrorenen Tröpfchen auf den Boden fielen. Mit klammen Fingern und knapper Not versorgte er sein Glied. Würde er das seinen Kindern erzählen? Ja, er würde Kinder haben und in einem sicheren Land leben. Deutschland oder sogar die Schweiz war sein Ziel.

Moisej Beerowitsch hatte sich mit drei Vertrauten aus seiner Truppe abgesprochen. Die Pistole in der Hand oder das Gewehr im Anschlag standen sie vor ihre Mannschaft. Wer nicht mitkommen wollte, würde erschossen werden. Die 47 Mann desertierten allesamt. Die Hufe der Pferde wurden in Sackleinen gepackt und dann ging es über das Eis des sich hier zu Seen weitenden Amur. In einem weiten Bogen zogen sie am südöstlichen Rand der Wüste Gobi bis zum Oberlauf des gelben Flusses und weiter, bis sie auf den Han-Fluss stiessen, der in der grossen Stadt Wu-Han in den Yangtse-Fluss strömt. In den eisigen Ebenen war es schwierig, Futter für die Pferde zu finden, aber sie hatten Glück und bald zeigte sich in flachen Hügeln das Frühjahr in saftigem Grün. Tagsüber wurde es rasch heiss, und auf dem endlosen Marsch am Rande der Wüste blickte Moische zurück: Di kikst links hinter sich, da fiel einer zu Boden, un Di kikst rechts hinter sich, da fiel ein anderer und stand nicht mehr auf.

Längst waren sie zu schreckerregenden Bettlern in zerlumpten Uniformen geworden. Mehr Pferde mussten notgeschlachtet oder verkauft werden. Moische, der Pjatdisjatnik, wusste Raub und Schlimmeres durch seine Mannschaft mit Schläue und notfalls Gewalt zu verhindern. Auf einem kleinen, einsamen Hof hatte ein russischer Mann ein altes Paar erschlagen und wollte sich an der Tochter vergehen. Als Moische ihn packte, schoss der Bandit mit der Pistole. Der Schuss streifte Moisches Kopf und die Kugel hinterliess eine blutige Spur vom Scheitel bis Hinterhaupt. Moische taumelte aber blieb auf den Füssen. Moisches verbliebenen Getreuen bändigten den Verbrecher.

WOR: Sie erkannten ihn an seinem grässlichen Zeichen auf der Stirn. Um Kugeln zu sparen, knüpften sie ihn an einen Baum. Die Bauerntochter schlang ihre Arme um die Beine Moisches und küsste die Stiefel ihres Retters. Sie konnten nicht bleiben. Ein halbwüchsiger Junge aus dem Dorf begleitete sie auf dem langen Weg nach Wu-Han. Dort verkauften sie ihre Gewehre zum Preis der Passage auf dem Yang-Tse nach Schanghai. Auf dem Schiff verstarb der letzte Kamerad an den Strapazen der Reise. Dreizehn Männer erreichten Schanghai. Moische hatte immer gewusst, in Schanghai würden sie Hilfe bekommen, denn in Schanghai gab es seit alter Zeit eine Synagoge. Und so fuhren sie von dort nach Hamburg.

In der Hafenstadt Hamburg fand Moisej Beerowitsch Zawidow, der Sohn des Schuhfabrikanten Beer Abischajewitsch von Jekaterinoslaw Arbeit in der Schuhfabrik Salamander. Weil Moische aus einem Stück Leder meist eine Sohle mehr als andere herauszuschneiden wusste, hatte er sich Feinde bei den deutschen Kollegen gemacht. Er kannte die Adresse eines Genossen in Zürich, so kam er in die Schweiz. Ohne Kenntnisse gab er sich erfolgreich als gelernter Handwerker in verschiedenen Berufen aus. Der Meister gesagt Innenwinkel und Aussenwinkel. Ich nicht gewusst aber ich mir gedacht und getracht; und so immer gegangen. Das, was Dir im Kopf, niemand kann Dir nicht nehmen.

Die Tür zu Moisches überhitzter und rauchiger Kammer liess sich vor dem Ende des einfachen, alten Betts immer nur knapp öffnen. Neben seinem Bett lag ein maschinengewobener entfärbter Teppich auf dem Boden. Beim Aufstehen setzte der Grossvater seine nackten Füsse auf seine schon lange nicht mehr rauen Fasern und blickte in einen grossen Spiegel, in der Türe seines hohen Schranks. Links war eine durch die Haustreppe oben abgeschrägte Nische in die Wand eingelassen, in welcher ein mit Wachstuch überzogener Tisch und darunter ein Hocker gestellt waren. Vor dem Fensterbrett, neben dem Kopfende des Betts, stand der Nachttisch, ein Schränkchen mit Türchen für den Nachttopf und einer Schublade. Moische versorgte darin seinen Gebetsmantel in einem blauen samtenen Beutel und sein blechernes Waschbecken, dessen weisser Emailüberzug zwei kleine schwarze Defekte aufwies. Die Wände des Zimmers waren kahl, abgesehen von einem mit Sackleinentuch tapezierten bettseitigen Teil, auf welchem ein gutes Duzend Fotos befestigt waren. Ein Bild zeigte den jungen Moische als Posaunisten in schmucker Uniform umringt von den Genossen der Stadtmusik Konkordia. Moische nannte sich Moritz Zawidow. Auf dem offiziellen Gruppenbild der Zürcher Blasmusik trug er als Waldhornbläser nicht nur eine schneidige Uniform, sondern auch einen stolzen, buschigen Schnauzbart.

Am See und auf dem Platzspitz hinter dem Hauptbahnhof spielten am Sonntagnachmittag Musikkapellen auf. Es war ein regelrechter Musikwettbewerb. Die prächtigen Bläser und Trommler marschierten in Formation vom See durch die Bahnhofstrasse hinauf an den Bürkliplatz oder das Limmatquai hinunter zum Platzspitz, wo die beiden Stadtflüsse zusammenfliessen. Konkordia war selbstverständlich die beste Kapelle. Moische kaufte sich ein Waldhorn, wöchentlich zahlte er einen Franken ab. Einen zweiten Hornisten konnte diese sozialistische Arbeitermusik gut gebrauchen.

Manchmal ging Moische ben Beer am Schabbat in die Synagoge an der Löwenstrasse. So selbstverständlich war er Sozialist, wie er Jude war. So wie sich sein Sozialismus zunehmend auf die Arbeitermusikkapelle beschränkte, so gering war auch seine Teilnahme am religiösen jüdischen Leben in Zürich. Man kannte die Gebete kaum, aber man traf sich doch fast nur unter Juden. So traf Moische auch auf Lew Landau aus Lodz, einen entfernten Cousin der Mutter. Lew lebte mit seiner Familie schon seit fast zwanzig Jahren in Zürich. Er war Tuchhändler und seine selbständigen Verkäufer bereisten die Gegend von Zürich bis weit über Glarus, Frauenfeld und Aarau hinaus. Moritz Zawidow wurde bald sein tüchtigster Verkäufer. Jeden Morgen fuhr er, im Dreiteiler gediegen gekleidet, mit seinem Koffer voll Stoffmustern ab Hauptbahnhof los. Er besuchte die Bauern auf ihren Höfen. Sie warteten schon auf ihn, da sie wieder einen Anzug brauchten. Die englische Qualitätsware wurde dann per Post ausgeliefert und von der Bauernfrau selbst oder von lokalen Auftragsschneidern zugeschneidert und genäht. Moritz Zawidow wusste immer genau, wem er Kredit gewähren konnte und wem nicht. Schau ihm in die Augen, und Du weisst es.

Moische heiratete Selma, die älteste Tochter Lew Landaus, nachdem er seinem Schwiegervater alle Kredite abbezahlt hatte, die dieser ihm gewährt hatte. Und als 1917 der grosse Genosse Vladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, Nadeschda Krupskaja, Fritz Platten und all’ die anderen berühmten Genossen von Zürich im plombierten Wagen durch Deutschland nach Petersburg fuhren, um in der russischen Revolution das Ruder an sich zu reissen, da hatte Moisej Beerowitsch Zawidow schon viele guten Gründe nicht mitzufahren. Moisches viertes Kind kam im Dezember 1917 auf die Welt, er nannte seinen Sohn Philipp.

Moisej war Tage und Nächte durchgeritten, war endlos marschiert, geschlichen, durch jeden Dreck gerobbt, gerannt, hatte gefroren, gehungert und alles überlebt. Die anderen starben fast alle. Moische blieb unbeschadet. Spiel ihre Spiele, brüll ihre Parolen, blas ihre Märsche, aber bleib bei Dir: Das, was Dir im Kopf, niemand kann Dir nicht nehmen!

Er wollte nicht mehr weg, nicht mehr zurück nach Russland und die glorreiche Revolution fand ohne ihn statt. Die grosse Geschichte zog an ihm vorbei, aber der Grossvater des Kleinen, konnte Geschichte und Geschichten seinen Kindern und Kindeskindern erzählen, es war einmal und so ist das gewesen: Schil-büil schil-büil, xi xi xi!

Moses Zawidow, Moische, Moritz, Moisej Beerowitsch, wurde fast 92 Jahre alt. Man sah den rüstigen Greis immer nur tadellos. Stets mit Gehstock, nur perfekt im Dreiteiler mit Krawattennadel, Taschenuhr am goldenen Kettchen und Poschetli im Veston aus englischem Tuch trat er vor das Haus an der Spiegelgasse 16. Jeden Tag spazierte er aufrecht zum Bahnhof Stadelhofen in Zürich. Dort traf er sich mit seinen Freundinnen im Restaurant Olivenbaum zu Kaffee und Kuchen. Hörner und Trompete blasen, vermochte er schon lange nicht mehr, aber die soldatische Haltung stand ihm immer noch gut.

Moische hielt Hof im Olivenbaum. Er traf sich immer nur mit einer der drei Frauen. Die beiden anderen mussten sich derweil an einem oder zwei anderen Tischen gedulden, bis der Platz in seiner Fensternische frei wurde. Als seine Kräfte nicht mehr ausreichten für den täglichen Flirt, als er den eleganten Auftritt nicht mehr so schaffte, wie er das brauchte, setzte er sich Ende Dezember in einer sibirisch eisigen Kälte zum Sterben ins Bellevue-Rondell am Ende des Zürichsees.

Das Wartehaus der Straßenbahn war ein rund und elegant geschwungenes, offenes Verdeck im Stil der Dreißigerjahre. Zwischen den Rücken an Rücken liegenden ringförmigen Holzbankreihen schützte rundum gezogenes Fensterglas die innenseitig gelegenen Sitzplätze notdürftig vor Wind, Regen oder Schnee. Quer durch ganz China bis hierher hatte er es geschafft. Jetzt konnte er nicht mehr, die Kraft hatte ihn verlassen. Nur in einem losen, verrotzten und verschlissenen Hemd und mit schlotternder Hose saß er, schlaff zurückgelehnt, mit dem Kopf am Glas im Rücken, auf der harten Bank. Er atmete schwach, mit offenem, gebisslosem Mund.

Er lächelte fast unmerklich, als er den Kleinen sah. Dieser wollte ihm aufhelfen. Aber Moische schickte den Kleinen fort: Geh weg, ich sterbe.

Bei seiner Abdankung auf dem jüdischen Friedhof Friesenberg sassen seine drei Freundinnen, die Schicksen, einträglich beisammen auf der hintersten Bank. Sie trauten sich nicht nach vorne zur Familie zu sitzen.

Philipp Zawidow, der jüngere Sohn, sprach das Kaddisch am offenen Grab und hielt die Eloge. Auf der Suche nach der Freiheit sei sein Vater in die Schweiz gekommen, so wie seine Väter wohl hundert Jahre früher von Zawidow im heutigen Polen Richtung Morgen, in den Osten der Ukraine gezogen waren. Im Zug der Freiheit sitze man Denkfahrzeugen auf, aber irgendwann seien diese verschlissen oder gerieten auf falsche Geleise. Und manchmal verlassen einen alle Mitreisenden und man sitzt schon allein im Wagen. Wir Juden haben uns leider immer wieder in den falschen Wagen gesetzt oder zu lange gewartet mit dem Aussteigen. Moische ben Beer aber hatte eine gute Wahl getroffen: Die Schweiz.

Moische Zawidow habe sich nichts geschenkt. Im Krieg sei sein Vater nicht in Angst erstarrt, wie alle anderen um ihn herum. Zawidow vertraute auf die Sowjetunion. Er hatte die Menschen in der Schweiz nie verstanden. Alle, seine Frau, seine Kinder, seine ganze Familie blieben ihm fremd. Im Abdankungsraum wurde getuschelt.

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