Natalie

Natalja Alexandrowna lag immer noch in der Frauenklinik. Sie erholte sich nur langsam. Nach drei Wochen waren sich die Ärzte einig, dass das Kindbettfieber überstanden sei und keine unmittelbare Gefahr mehr drohe. Keine zwei Tage später aber war sie wieder sterbenskrank. Der Zustand wechselte viele Wochen vom Guten zum Schlechten und mehrmals stand ihr Leben auf der Kippe.

Die Fahrt mit dem Automobil dauerte vom Nettergut bis zum Spital keine halbe Stunde und der Hauslehrer zeigte sich in der Lage, den Brasier der Familie zu lenken. Aber Professor Wyder verbot zu viel Besuch, vor allem nach dem Vorkommnis mit dem kleinen Viktor: Die beiden Töchter und Viktor durften die Mutter nur zwei Mal die Woche sehen.

Viktor wollte nicht mehr nach Hause und klammerte sich ans Bettgestell und schrie, bis ihn das Pflegepersonal mit Gewalt losreissen und aus dem Spitalzimmer tragen musste. Darauf weigerte sich Viktor, überhaupt noch in die Stadt zum Besuch der Mutter mitzufahren. Lehrer Abramowitsch brachte ihn wenigstens dazu, die Autofahrt mitzumachen und die beiden warteten jeweils im Automobil vor dem Spital auf die beiden Töchter der Gräfin.

Rafail Abramowitsch war eine grosse Hilfe für Madame geworden. Auch wenn er Jude war und vermutlich zweifelhafte politische Ansichten hegte, war er mit seiner Mischung aus Schüchternheit, Beflissenheit und Ehrlichkeit für sie wohltuend. Die Töchter sahen durch und mit dem jungen Mann die Geheimnisse der Welt, sie lernten fleissig, Deutsch, Russisch, Französisch und sogar mehr als einfaches Rechnen. Die Gräfin hiess den Lehrer sich präsentable Kleidung kaufen. Die Töchter berichteten begeistert von Promenaden am städtischen Seeufer und Schlittschuhlaufen auf einem gefrorenen Weiher.

Erst zu Weihnachten wurde Madame Netter aus dem Spital entlassen. Dieses Mal holte sie der bequeme Vierspänner ab. Viktor hatte versprochen sich brav zu verhalten und sass darum vorne neben dem Kutscher auf dem Bock. Die rosigen Backen der Töchter lugten voll Erwartung aus dick gepackten Pelzen. Kalte Sonnenstrahlen und blendender Schnee begrüssten die Rekonvaleszente im Kreis ihrer Kinder als sie aus dem stattlichen Gebäude der kantonalen Frauenklinik trat. Erst jetzt bemerkte sie die wunderbare Sicht über die glitzernde Stadt, die verschneiten Wiesen, Äcker und Wälder auf den grossen glazialen Hügeln, die sich hinter dem See entlang zogen und weit hinauf zu den hohen Felsengipfeln der Hochgebirge wiesen. Natalja fühlte sich wie in einem Traum. War das der Übergang von einem Alptraum in einen guten Traum?

Zuhause hatte das Personal die Rückkehr der Hausherrin und das Weihnachtsfest vorbereitet. Im Foyer stand neben der breiten geschwungenen Treppe ein grosser, reich geschmückter Tannenbaum mit einem Engel an der Spitze, fast auf Höhe des ersten Stocks. Der Hauslehrer hatte einen Willkommensgruss gedichtet und mit den Kindern eingeübt. Die Köchin des verstorbenen Konsuls kannte nicht nur die hiesige Küche, sondern auch viele russische Rezepte. Das Personal sang die Weihnachtslieder auf Deutsch. Anna und Natalie sangen auf Französisch und die Kinder teilweise Deutsch, Französisch und Russisch. «Oh Du Fröhliche» war ein Deutsch, welches auch Natalie verstand. Ja, froh wollte sie wieder werden.

Der Hauslehrer hatte sich nach dem Weihnachtsessen grusslos und unauffällig entfernt. Er wohnte irgendwo in der Stadt aber jeden Morgen erschien er pünktlich um 8:30 Uhr, ausser samstags. Sonntags begleitete er wie alle Bewohner des Hauses die Familie zur Kirche, aber er wartete vor dem Portal. Natalie stellte ihn nach dem Nachmittagstee in der Bibliothek unter vier Augen zur Rede und hiess sein Verhalten ungehörig. Um die offene Rüge abzuschwächen, lächelte sie fast neckisch, stellte sich seitlich im Profil vor ihn und blickte nur leicht zu seiner Seite.

«Ich will niemanden beleidigen», stammelte er fast.

«Ja, aber sie gehen doch jeden Samstag in die Synagoge», erwiderte sie errötend und wusste nicht, warum zu bereuen, das Thema zur Sprache gebracht zu haben.

«Ich will niemanden kränken oder verletzen, Natalja Alexandrowna. Am Schabbat berühre ich die Tora in der Synagoge ja auch nicht.»

Sie wollte jetzt keine Ruhe geben: «Meine Gefühle sind Ihnen also unwichtig, Rafail Abramowitsch?»

Da verteidigte sich der junge Jude und Freigeist unerwartet heftig. «Ich kann nicht in einer Kirche mit lieben Menschen sitzen, wo sie den elenden Tod eines Juden verehren. Jesus stellt als Erlösung dar, was doch der tiefste Abgrund des Menschseins bleibt.»

«Ich verstehe Sie nicht, mein Lieber!»

«Wir versagen im Antlitz des denkbar Höchsten und Ewigen und jedem bleibt nichts, als sich zu fragen: Eli, Eli, lama asawchtani, mein Gott warum hast Du mich verlassen!»

«Ich verstehe immer noch nicht!»

«Warum bloss muss ich ohne Gott leben, und mich trotzdem so bemühen, wie ich nur kann?»

«Entspannen Sie sich, Rafail Abramowitsch!» Sie seufzte. «Machen es sich alle Juden so schwer?» Sie wollte das Gespräch beenden. Es wühlte sie auf. Alles schwächte sie doch noch zu sehr.

Erst am russischen Weihnachtstag, nach Dreikönigen unseres Kalenders, erreichte Natalja ein Telegramm ihres Gatten. Er sei nach seiner Ankunft in St. Petersburg sofort zum persönlichen Bericht beim Zaren befohlen worden. Der Zar habe ihn an seinem Arbeitstisch im Beisein von zwei Generälen empfangen. Der Schwiegervater, General Kutepow selbst sei seine Eskorte gewesen. Er habe mit Umsicht und in militärischer Knappheit rapportiert. Die Dinge entwickelten sich alle in erfreulicher Weise. Auch lasse der Vater sie und seine Enkel alle herzlich grüssen und umarmen. Er hoffe, spätestens im Frühjahr, zurückzukommen um gleich die ganze Familie mit nach Russland, nach Hause nehmen zu können. Er hoffe, seine innigst geliebte Gattin sei wohlauf. Ob Viktor schon reiten könne und ob die Töchter brav seien? Seinen Jüngsten erwähnte er mit keinem Wort. Natalie zeigte Anna die französisch geschriebene Nachricht.

Anna schlief bei Charlie im Ammenzimmer neben dem Zimmer der Hausherrin. Sie stillte das kleine Zwerglein und sein Lächeln war für sie die ganze Welt. Charles Wiege wurde selten ins Zimmer von Madame gestellt. Die Töchter wollten den kleinen Bruder manchmal sehen und sogar wickeln.

Natalie lag auch am Tag noch meist in ihrem Bett. Sie war schwach und manchmal quälten sie nicht enden wollende Hustenkrämpfe. Anna stand oft bei ihr in der Nacht, um ihr zu helfen. Aber Natalies Wünsche waren gering und helfen konnte ihr niemand.

Manchmal setzte sie sich zum Tee in die Bibliothek und wenn die Kinder in dieser Schulpause woanders spielten oder sich herumtrieben, freute sie sich, den Hauslehrer herauszufordern. Sie hatte von ihrem Bade- und Ankleidezimmer aus beobachtet, dass er nicht nur morgens vom Stadtberg herunter gerannt kam, sondern auch abends den Berg Richtung Stadt zurück auch wieder hinaufrannte. Hinter dem ersten Gebüsch bergauf entledigte er sich dazu der warmen Kleider schnürte diese mit seinem Gurt zu einem Bündel im Kreuz fest und rannte mit nacktem Oberkörper davon. Ein stattliches Mannsbild.

«Wovor rennen sie davon, wenn sie so losrennen, Rafail Abramowitsch? Laufen Sie beide Wege über den Berg in diesem Tempo? Sie müssen sicher auch jetzt im Winter schwitzen? Wo waschen Sie sich, wenn sie am Morgen ankommen, Rafail Abramowitsch?» Sie bemerkte ihren leisen Selbstärger. Er war doch nur ein Jude. Ob er wohl dachte, dass sie bei jeder Morgentoilette auf seine Ankunft wartete? Da kommt das morgendliche Ereignis: der strahlende schnelle Abramowitsch!

«Ach so, da hat es einen Brunnen am Weg? Vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstecken. Sie können sich im Haus richtig waschen. Für was brauchen Sie denn die Zeit, die sie gewinnen, wenn Sie rennen? Wartet gar eine schöne Braut?» Jetzt spürte sie tatsächlich eine Hitze und merkte, dass sie sich unwillkürlich in vorteilhafte Stellung reckte. Was dachte sich denn dieser Jude bloss.

«Setzen Sie sich, Abramowitsch, hierher! Schauen Sie mich an! Was verheimlichen Sie mir?» Sie beruhigte sich etwas, als sie sah, dass er rasch atmete und erregt nach Worten suchte und nicht fand.

Viktor stürmte ins Zimmer und sah die beiden einander gegenübersitzen: Sie auf dem stattlichen, mit Eichenholzschnitzerei gefassten, braunen ledernen Rauchersessel und er auf einem nahebei gestellten Schemel.

Viktor hatte eine schöne Feder gefunden. Er wollte damit Annas Zwerg kitzeln.

«Das ist nicht Annas Zwerg», brachte Natalie unter Hustenstössen hervor. «Er heisst Karl Alexandrowitsch und ist Dein kleiner Bruder, Sohn Deines Vaters Alexander und wie Du ein kleiner Netter. Komm, mein Liebling. Wir gehen zusammen zu ihm, mein Liebling. Du darfst ihm die Feder schenken. Willst Du, Viktor Alexandrowitsch?»

Sie hatte sich wieder gefasst. Sie liebte ihren Sohn, sie liebte ihre Töchter. Sie waren noch so jung! Am liebsten mochten die Mädchen artistische Gymnastik. Nur halb verborgen übten die beiden ihre Zirkusnummern. Die Gräfin musste dies schelten, es war nicht schicklich für junge Damen der Gesellschaft. Aber heimlich gestand sie sich ihre Sehnsucht nach der eigenen verlorenen Jugendzeit und fand ihre Töchter wundervoll.

Eben kamen sie in die Bibliothek. Der Unterricht wurde fortgesetzt. Anna und ihr Zwerg machten sich in der Küche zum Gang ins Dorf bereit. Viktor durfte mitgehen. Es musste Seife und sonst noch einiges gekauft werden. Anna wollte auch mit der Hebamme sprechen. Die verschneite Strasse zum Dorf hinunter war für einen leichten Schlitten ideal. Viktor jauchzte als die Kastanienbäume zu beiden Seiten nur so vorbeisausten.

Die Hebamme lebte auf der anderen Seite des Dorfes linkerhand in Richtung des Sees. In Strickwaren und Tücher gehüllt und auf einem warmen Fell, sass Viktor für einmal ruhig mit dem kleinen Brüderchen zwischen den Beinen. Schnaufend zog Anna die beiden Kinder auf dem Schlitten geradeaus zum Hebammenhäuschen.

Meist war die Hebamme mit ihren Tieren allein, aber wenn sie keine Arbeit fand, wohnte die Taglöhnerin bei ihr. Beide wollten mit den Menschen möglichst wenig zu tun haben; sie begegneten Besuchern misstrauisch. Die Frauen der umliegenden Dörfer brauchten die alte Hebamme, aber sie fürchteten sich auch vor ihr. Zweimal fand die Gehilfin eine der Katzen erschlagen und kürzlich war der Zaun demoliert worden. Manchmal hörten die beiden Frauen versteckte kindliche Rufer:

«Hexen und Kröten,
die Flöten töten
den Schwanz
vom Franz
zum Totentanz.»

Die alte Frau besass einen auffälligen kleinen Ring aus Gold. Auf dem Ring sass eine Kröte und gebar aus ihrem Mund ein Kind. «Die Kröte ist das Symbol der Erde. Aus der Erde kommen wir alle und werden auch wieder zu ihr zurückkehren. Manche Leute sehen nur das Bild des Vergehens. Sie werden darin elend verschlungen. Sie haben nur die Angst. Sie sehen die Geburt nicht, welche uns alle hervorbringt.»

Im Hebammenhäuschen sass die Katze auf dem Fenstersims und das Geflügel stakste durch die kleine Tür in den kleinen Stallverschlag nebenan. Die Schafe liessen sich auch vom begeisterten Viktor nicht schrecken, und die Wärme, der Geruch und die Geräusche der Wiederkäuer beruhigten jeden, der in das Häuschen kam. Neben der Tür war der Schüttstein, darüber ein Frischwassertrog. Durch die schüttere Fassung des rückseitigen Fensterchens zog kalte Luft. Der Holzofen war zugleich Herd zum Kochen; im eingebauten Schiff dampfte heisses Brauchwasser. Über dem Herd hingen Pfannen an Hacken und Tücher zum Trocknen an Stangen. Im oberen Stock war eine einzige breite Bettstatt.

Der Lohn der Hebamme war lange schon überfällig. Als Anna das hörte, wusste sie nicht, wie sie sich für ihre Herrschaft entschuldigen sollte. Die Hebamme aber wollte sie beschwichtigen: «Das Verhängnis ist halt leider nicht ganz gelöst. Die Schuld ist für uns alle gross. Auch ich habe dazu beigetragen. Ich hoffe nur, die Schuld wird niemanden treffen oder gar erschlagen.»

Da wusste Anna noch weniger, was sie sagen sollte. Sie packte wortlos einen Briefumschlag aus ihrem Mantel. Sie bedankte sich bei der Hebamme mit einer geerbten goldenen Brosche. Während die Hebamme Annas Dankesbrief laut für sich las, stillte Anna den Säugling. Viktor liess endlich ab von der Hühnerjagd. Er verkündete seine Mutter glaube, dass Annas Zwerg sein kleiner Bruder sei. Aber das sei sicher nicht möglich, denn er selbst sei doch gross und stark. Wenn er einen Bruder hätte, müsse dieser mindestens so stark, wie er selbst sein.

Viktor blickte zur stillenden Anna. Die Mutter verbiete es. Er dürfe nicht sagen, dass das da Annas Zwerg sei. Die Hebamme und die Gehilfin lachten und Viktor war sehr zufrieden als die Frauen bestätigten, dass er Recht habe: «Wir alle lieben Anna und ihren Zwerg!»

Anna fand nie den richtigen Moment, die Gräfin auf den geschuldeten Hebammenlohn anzusprechen. Als sie endlich den Mut dazu gefasst hatte, war die Gräfin wieder schwer krank mit Husten und blutigem Auswurf. Im Röntgen zeigte sich eine verkalkte Kaverne, ausgedehnte Lymphknoten und harte Verschattungen vor allem im Oberfeld der linken Lunge; das Herz wurde durch den kalten schrumpfenden Prozess schon etwas nach links gezogen. Professor Wyder sah das Röntgenbild und meinte, dass er keinen Spezialisten zu fragen brauche: Madame Netter müsse wegen Tuberkulose sofort ins Sanatorium.

Als Alexander Walterowitsch im Mai endlich von Russland zurück auf Gut Netter ankam, war Natalie zur Kur in der Höhenluft der Berge. Schon am nächsten Morgen stand der Brasier poliert und vollgetankt fahrbereit. Viktor sass schon vor allen anderen im Wagen und posierte hinter dem Steuer. Der grosse und der kleine Mann trugen beide die gleiche Schiffermütze und waren bester Laune. Der Vater hielt den jungen Damen den Schlag auf und Viktor ahmte ihn auf der Gegenseite nach. Als seine Schwestern auf den Rücksitzen Platz genommen hatten, sprang er auf den vorderen Beifahrersitz und sie brausten alle Richtung Berge los.

Der Schnee lag noch bis weit hinunter, scharf abgegrenzt gegen die grünen Hänge. Der See spiegelte den blauen Himmel und Schönwetterwolken. Obstbäume blühten neben der Strasse. Der Vater lenkte mit aufgestütztem Ellbogen, Zigarre rauchend, einhändig den Wagen und zeigte manchmal auf vorbeiziehende grossartige Villen und rief laut nach hinten welche Wichtigkeiten hier oder dort lebten: «Das ist das Gut Mariafeld von General Wille. Eine formidable preussische Familie aus dem Neuchâtel!»

Dann neckte er Viktor, indem er ihm die Mütze leicht ins Gesicht schob. Viktor flüchtete zur Seite. Der Schreck war gross, als die Wagentüre, nicht gut verschlossen, aufflog.

Viktor konnte durch seinen Vater gerade noch gehalten werden. Die Töchter kreischten, Kies knirschte unter den Reifen und der Wagen schlingerte hin und her. Es war noch einmal gut gegangen. Viktor weinte, vor Schreck oder wegen der Kränkung durch das väterliche Spiel?

Auf einer weiten Ebene vor den riesigen Gebirgen erlaubte der Vater nur eine kurze Pause in einer Raststätte. Auch Viktor musste jetzt hinten sitzen. Die Strasse war abenteuerlich, kurvig, nah am Ufer eines tiefen, schmalen Sees und nah an senkrechten Felsen einer hochaufragenden Bergkette. In den rundbogigen Ausblicken der Strassengalerien blitzte das Bild der gegenüberliegenden Bergwände in rascher Folge auf. In den Tunnels war es dunkel, feucht und kalt. Die Schwestern achteten sich nicht und kicherten und tuschelten und schnatterten in einem fort. Viktor zappelte mit den Beinen und als er nicht still sitzenblieb, kletterte die eine über ihn hinweg und setzte sich neben die andere Schwester. Die beiden blöden Weiber vergnügten sich mit einem rhythmischen Handklatschspiel, welches im Singsang von Knittelversen begleitet wurde. Dann tuschelten sie für Viktor unhörbar im Fahrtlärm. Viktor wollte sie übertönen und rief lauthals: «Schwerenöter Hexenköter.»

Die Schwestern wollten ihm den Mund verbieten, aber Viktor wusste, dass der Vater zu wenig Deutsch verstand und fühlte sich sicher:

«Schwerenöter,
Hexenköter,
unerhörter Bettenröter.
Liebe schwört er,
Frauen töt‘ er.
Halben trinkt er,
Ganzen stinkt er,
Galgen hängt er,
Nimmersatt.»

Nach einem Imbiss musste Viktor doch wieder vorne sitzen und das war ihm nun auch wieder recht. Der Vater sagte allerdings immer weniger und je näher sie dem Sanatorium kamen und je frischer die Bergluft wurde, desto grimmiger blickte Alexander Walterowitsch in die überaus schöne Landschaft.

Natalie war in einem erbärmlichen Zustand. Schwach begrüsste sie ihre Familie und erkundigte sich sogar nach den zuhause Gebliebenen. Die Töchter grüssten die Mutter von allen und als sie auch im Namen von Lehrer Abramowitsch grüssten, lugte Natalie zu ihrem Mann, ob ihn irritierte, dass ihr von ihrem kleinen Juden herzliche Grüsse entboten wurden. Peinlich wurde es erst später. Anna hatte einen Kuchen und frische Erdbeeren aus einem Gewächshaus mitgegeben. Natalie wies Alexander Walterowitsch auf die Notwendigkeit einer Taufe hin. Als sie ihrem Entsetzen Ausdruck gab, dass sein Sohn immer noch keine zivilstandesamtliche Geburtsmeldung habe, sah man ihre Augen fast in den Höhlen ihres Schädels versinken. Alexander biss auf seinem Schnurrbart herum und zog seinen Viktor in den Garten. Dort fanden sie Stöcke für ein Spiel: Vater und Sohn.

Zwei Tage später fuhren Alexander und die drei Kinder noch weiter in den Süden. In einem grossen Hotel an einem lieblichen See genossen sie einen milden Frühsommer. Nach einer Woche überquerten sie die Alpen wieder nordwärts und beendeten ihre grandiose Tour. Vergeblich wartete der Hauptmann im Haus Netter den ganzen Sommer hindurch auf die Rückkehr seiner Gattin aus der Kur. Er machte sich bereit zur Rückkehr nach Russland. Dieses Mal sollte die ganze Familie mitkommen, richtig nachhause. Der Hauslehrer war entlassen worden. Nach den Sommerferien wurden seine Dienste nicht mehr benötigt, durch die baldige Rückkehr nach Russland überflüssig. Rafail Abramowitsch spürte die Feindschaft des zaristischen Hauptmanns der Garde, und er benahm sich wie ein kleiner Jude und verdrückte sich.

Erst im Spätsommer kam Natalie in die Villa zurück. Sie schien sterbenskrank. Um der Mutter keinen Kummer zu machen, weinten die Töchter nur heimlich. Sie versuchten mit einem alten Willkommensgedicht und am Boden gestreuten Blumen einen fröhlichen, feierlichen Empfang zu inszenieren. Alexander Walterowitsch wollte oder konnte den Zustand seiner Frau nicht wahrhaben. Er bereitete die Abfahrt nach Russland vor. Immer dringlicher wurde er durch Telegramme zur Rückkehr in seinen Dienst aufgefordert. Er konnte seine Pflichten nicht ignorieren.

Anna galt im Dorf als eine aus katholischen Landen zugezogene Fremde. Trotzdem hörte sie böse Fragen und Gerüchte. Das winzige Neugeborene, das geringe Wachstum soll in krassem Gegensatz zum übergrossen Bauch der Madame gestanden haben. Irgendetwas sei nicht mit rechten Dingen zu oder her gegangen. Die Frau des Küsters fragte Anna eines Tages zunächst scheinfreundlich, wie denn der Jüngste der Gnädigen heissen solle und auch wenn sie so krank sei, ob denn ein Taufdatum festgelegt worden sei. Und dann fragte sie sogar unverhohlen mit verschlagener Miene, wie Anna denn Ammendienste leisten könne, ohne selbst schwanger gewesen zu sein. Anna war darauf gefasst und erwiderte ungerührt: «Sie täuschen sich!»

Niemand traute sich, den Sohn des tragisch verstorbenen Konsuls direkt aufzufordern, eine Taufe auszurichten. Der Pfarrer des Dorfes sagte, das sei nicht seine Sache. Man wisse nicht, welche Religion die Netters hätten. Vermutlich wollte er sich nur nicht mit seinen miserablen Französischkenntnissen blamieren. Hauptmann Netter verstand geschriebenes Deutsch einigermassen; das heisst, er konnte es wie ein Primarschüler entziffern. Die Behörden hatten ihn in Sachen Meldung seines zweiten Sohnes nie angeschrieben oder aufgefordert.

Auch der Gemeindeammann konnte nur wenig Französisch und schon gar kein Russisch. Anlässlich einer Grenzbegehung wollte er die Sache endlich zur Sprache bringen. Der Pächter und ein Taglöhner begleiteten sie. Die Grenzen des Gutes Netter waren zu Fuss abgeschritten und die Marksteine waren mit den Plänen verglichen worden. Über einem flachen Stein war auf weissem Tuch für einen währschaften Imbiss gedeckt und ein Umtrunk vorbereitet worden.

«Auf Sie Herr Hauptmann, Ihre Familie und das Nettergut, Prost!

«Na sdarowje, santé, à la votre, auf Ihre Gesundheit, mon cher maire!», Dass er als lieber Bürgermeister angesprochen wurde, ermutigte den Gemeindeammann.

«Ja, auf die Gesundheit! Auf die Gesundheit Ihrer Familie! Auf Ihre beiden Söhne!» Er wollte schon weiterfahren aber der Hauptmann lobte seinen Viktor, der nun reiten lernen müsse und der liebe Bürgermeister habe doch auch Söhne.

«Ja, aber auch erst zwei. Wie alt ist denn Ihr Jüngster, Herr Hauptmann, und wie heisst er denn nur?» Das war die falsche Brücke, um zum Thema zu kommen. Der Pächter und der Taglöhner hielten sich respektvoll zurück aber blieben so nahe wie möglich, um mitzuhören.

Ja, das sei halt nun das traurige Kapitel. «Karl, heisst er. Charle le mignon, Karl der Kleine, ein Zwerg, pas du tous un Charle le magne, Karl der Grosse.» Der Gutsherr rang um Fassung, hielt sich Daumen und Zeigefinger mit gerecktem Ellbogen an die Augen und schluchzte übertrieben, aber dann wurde seine Gestik ehrlicher und er begann immer heftiger über die Hebamme her zu ziehen.

«Cette maudite sorcière, diese vermaledeite Hexe ist schuld an diesem Desaster. Der Professor Wyder, der Gynäkologe des Kantonsspitals, wollte sie verklagen, diese Pfuscherin. Aber meine Frau, sie ist eine Seele von Mensch, sie hat den Professor inständig gebeten, davon Abstand zu nehmen. Superstitieuse, abergläubisch ist sie. Sie glaubt an diese diable, diese teuflische Zauberin. Jetzt fragt sie sogar, ob ich der Hebamme einen anständigen Lohn gezahlt habe. Einen Lohn, einen anständigen Lohn werde ich ihr geben, sollte sie mir unter die Augen kommen.»

Der Gemeindeamman war schon lange ein erklärter Gegner der Hebamme. «Ja, Frauen sollten heutzutage in der Frauenklinik gebären. Wozu haben wir denn eine so grosszügige staatliche Institution!»

«Man lebt ja nicht hinter allen Bergen! Nur hinter dem Zürcher Stadtberg.» Der Gemeindeammann war mit sich zufrieden, dass er einen angenehmen Rank für die Konversation gefunden hatte.

Das Gespräch bei der Grenzbegehung machte seine Runde im Dorf. Üble Reden und Hetzen sprossen nun gegen die alte Hebamme. Moderne Zeiten wurden beschworen aber die Boshaftigkeiten wollten sich gegenseitig so überbieten, dass die Zeiten der Hexenjagd doch nicht gar so weit zurück liegen konnten. Die Leute wunderten sich, was die beiden Frauen denn so eng miteinander verband. Ob sie es mit oder ohne Teufel miteinander trieben, sei allemal egal, aber man müsse das Schlimmste annehmen. «Das Schlimmste verhindern!»

Die Magd fand kaum noch Arbeit. Zwar dachten nicht alle Bauern Böses über die Taglöhnerin; aber die Zeiten waren schlecht.

Der Herbst brachte andauernd grimmiges Wetter: Die Hebamme stieg wieder zur Villa hinauf. Mehr als ein Jahr war seit dem denkwürdigen Tage vergangen. Sie hatte von der schweren Krankheit der Hausherrin gehört. Sie wollte ihre Hilfe anbieten, und sie wollte noch einmal ihren Lohn einfordern. Als Alexander Netter die Hebamme im Foyer des Hauses stehen sah, brach draussen prasselnd Regen und Hagel aus allen Wolken herunter. Die Frau war tropfnass und dem Herbststurm nur halb entkommen. Der Hauptmann polterte die Treppe herab und hätte er einen Säbel getragen, er hätte sie wohl erschlagen.

«Was wagen Sie, mein Haus zu betreten», stiess er hervor. «Sie Hexe, Sie sind schuld an der Schwindsucht meiner Frau.»

Er keuchte und sie hörte: «Professor Wyder, Strafklage, Pfuscherin, Sorcière! Die gute Natalie, nur sie allein. Anstatt eines stattlichen Sohnes, un nain, nur knapp mit dem Leben davongekommen. Maudit diable!»

Sie verstand kaum die Hälfte der Vorwürfe. Er kam immer näher, aber die Hebamme war gewohnheitsmässig standhaft. Erst als der Hausherr sie tatsächlich mit einem Schlag ins Gesicht umgehauen hatte, raffte sie sich und ihre Röcke auf und rannte, so gut sie noch konnte hinaus in den tobenden Sturm.

Die Türe blieb offen und schlug im Wind hin und her. Sturzbäche ergossen sich über die Veranda bis ins Foyer des Hauses. Blitze beleuchteten riesige, aufgerissene Wolkentürme, aus denen sich Tausend tonnenschwere Wassermassen ergossen und zeichneten drohende Schatten in die Landschaft. Explodierende Donner krachten nicht nur in den Ohren, sondern waren auch mit dem Bauchfell spürbar und liessen Atem und Verdauung stocken. Ganze Bäume und schwere Äste sollen im tosenden Wetter herumgeflogen sein. Tief in der Nacht riss der Himmel plötzlich auf.

Bis zum Morgen wurde es fast eisig kalt. Schreie durchdrangen den dichten Nebel über dem feuchten Land. Es war die Magd der Hebamme. Ihre Rufe und Verwünschungen klangen mal nah und dann fern, mal von da und wieder von der anderen Seite. Blutend, in zerrissenen und völlig verdreckten Kleidern sah man sie plötzlich aus einem Dunstschleier auftauchen, überall, auch vor dem Haus des Hauptmanns. Als eine Kutsche das Gut Netter verliess, rannte die Verzweifelte zuerst noch weit hinter dem Wagen her, nur um zurückzukehren und erneut laut zu klagen. Tagelang suchte die irre Frau umher. Auch wenn sie jemand gutmeinend ansprach, stiess sie nur Verwünschungen aus und fauchte giftig spuckend. Einmal lief sie grauenerregend jaulend, mit erhobenen Händen durch das Dorf. Auf jeder Hand steckte ein Damenschuh.

Die Hebamme war verschwunden. Ob der Blitz oder ein Ast sie getroffen hatte? Sie sei auf einem Besen in die Hölle geritten, behaupteten doch tatsächlich einige und wollten das sogar gesehen haben. Die Schuhe an den Händen der Magd sollen der Hebamme gehört haben, erkannten Dorfbewohner. Die Gendarmerie durchsuchte das Häuschen. Von der Hebamme keine Spur. Die Magd aber wurde festgenommen. Sie kreischte wie ein Tier, biss und trat um sich. Sie trug den bekannten goldenen Ring der Hebamme und eine wertvolle Brosche. Auch als sie wenigstens etwas ruhiger auf Fragen reagierte, redete sie wirr.

«Vermummte Männer sind gekommen. Schwerenöter wie der Nötter. Ja der Nötter ist der Töter. Ich habe sie gefunden. Ich habe sie gefunden, die Arme, Gott erbarme. Ich habe die Hand gefunden. Da seht ihr den Ring, ich habe sie gefunden. Die Schuhe habe ich auch gefunden. Schwere Nötter sind die Töter. Im Sturm sind sie gekommen. Ojeminee, min Bluämächlee! Die Hosen haben sie mir heruntergerissen und ihre Schnäbel reingesteckt. Blut und Schleim oh nein oh nein!»

Das Hebammenhäuschen wurde von der amtlichen Inspektion tatsächlich verwüstet vorgefunden. Die Magd führte die Beamten zu einem Stein im hintersten Winkel des Gartens. Dort hatte sie die linke Hand vergraben. Ob sie der Hebamme gehörte, liess sich nicht klären. Anna musste als Zeugin aussagen. Sie schilderte die Vorkommnisse im Haus Netter in dieser Sturmnacht. Die Hebamme sei gekommen, den geschuldeten Lohn zu fordern. Anna selbst habe der Hebamme die Brosche gegeben. Warum sie dieses grosse Geschenk gemacht hatte, wurde sie nicht gefragt. Anna verteidigte die arme Magd und versicherte, dass diese die Brosche sicher von der alten Hebamme weitergeschenkt bekommen hätte. Auch die Magd habe bei der so dramatischen Geburt eine grosse Hilfe geleistet. Aber auch darauf wollte das Gericht nicht eingehen.

Der Gemeindeammann und weitere Dorfbewohner, nicht aber der Hauptmann, wurden einvernommen. Vor dem Amtsgebäude forderte ein übler, hungriger Mob den Tod der Hexe. Das Amtsgericht fand die Magd ohne Zögern des Totschlags schuldig. Der amtliche Verteidiger ging empört in Berufung. Aber das Obergericht stellte fest, dass keine Leiche, nur eine fraglich der verschollenen Hebamme zuordenbare Hand und kein Tatwerkzeug gefunden worden seien. Ein Tatmotiv sei nicht erkennbar. Es bestehe keine Grundlage für eine Verurteilung. Zudem stellte das Gericht fest, dass die Magd geistesgestört sei und liess sie in die psychiatrische Klinik verbringen.

Im Frühjahr, mehr als zwei Jahre später, fand ein Fischer den Kopf der Hebamme. Ein grosses Loch klaffte am Hinterhaupt. Der Kopf war teilweise verwest, aber zwei kleine Ohrringe hafteten am grässlichen Schädel und hatten unzweifelhaft der Toten gehört. Erneut forderten Leute den Tod der jüngeren Hexe. Am abgetrennten Halsansatz stellte die Gerichtsmedizin in der Stadt Spuren von Verkohlung fest. War die Hebamme doch einem Blitzschlag zum Ofer geworden?

Im Haus der Hebamme fand sich ein Testament. Es bezeichnete ihre Magd und deren unehelichen Sohn, den vorher niemand gekannt hatte, als alleinige Erben. Erst der Nachfolger des Gemeindeammanns machte diesen Sohn, ein bei Kleinbauern untergebrachtes Verdingkind, ausfindig. Nachdem er einige Jahre später volljährig wurde, lebte er im Hebammenhäuschen. Er erreicht die Entlassung seiner Mutter aus der psychiatrischen Klinik und nahm sie bei sich auf. Als am Häuschen vorbei die Bahn auch bis ins Dorf gebaut wurde, wurde der Sohn der Magd Bahnarbeiter.

Am Tag nach dem fürchterlichen Sturm war Hauptmann Netter mit seinen bald erwachsenen Töchtern abgereist. Er hatte erkannt, dass seine Gattin die lange Fahrt nach Russland keinesfalls überstehen konnte. Die Töchter aber mussten mitkommen. Sie würden bald ihr gesellschaftliches Debüt geben müssen. Viktor und der Zwerg blieben bei Natalie, in der Obhut und Sorge von Anna.

Die Abfahrt vom Nettergut war kennzeichnend für diesen schrecklichen Ort. Im Nebel war der Weg nur von einem Kastanienbaum zum nächsten zu erahnen. Schreie hallten mit Echo von den Hängen des nahen Stadtbergs zurück. Wo war dieses Wesen? Das war kein Tier aber welcher Mensch konnte so grässlich schreien? Die Töchter weinten in der Kutsche und hielten sich die Ohren zu. Plötzlich schüttelte der schwere Wagen heftig und etwas polterte auf das Kabinendach. Im Rückfenster lugte die Fratze einer langhaarigen Hexe mit verzerrtem Gesicht über das Gepäck zu den verschreckten Fahrgästen. Erst nach einer ganzen Weile und mit brutalsten Schlägen seiner Peitsche konnte der Kutscher die fürchterliche Bestie verjagen. Da schlug der Blitz in unmittelbarer Nähe ein und gleichzeitig donnerte es überlaut. Zum Glück gingen die Pferde nicht durch. Die Töchter beruhigten sich noch lange nicht und erst als in der Stadt der Zug mit Schlafwagen schon lange abgefahren und weit durch Deutschland vorangekommen war, schliefen sie endlich.

Madame war eigentlich wieder bei guter Gesundheit. Die Schwäche war zur lieben Gewohnheit geworden und der Husten zum Hüsteln, eine vornehme Marotte. Vielleicht taten auch der heimliche Alkohol und die mit einem elfenbeinernen Mundstück konsumierten, parfümierten Zigaretten ihre Wirkung. Oft lag Natalie bis in den Mittag hinein im Bett und läutete für alles und jedes der Bedienung. Die Gräfin war ungehalten, ja hässig und niemand konnte es ihr recht machen. Ausser Anna hatte sie keine Hilfe, mit der sie sich richtig verständigen und parlieren konnte. Anna sorgte für die beiden so ungleichen Söhne. Angestellte Gouvernanten hatten kein Verständnis für die Situation, waren überheblich und wurden mehrfach ausgewechselt. Viktors Hauslehrerinnen kündigten in rascher Folge, unverständlicherweise.

Natalie hatte kaum Kraft genug für ihren Viktor, der ohne Mann im Haus und vielleicht auch sonst ein sehr schwieriger Junge war. Charlie aber war der Sonnenschein des Hauses und sogar Natalie bekam ihn gern. Er wuchs tatsächlich nur wenig und war auch jetzt noch nicht grösser als ein Kleinkind. Wie früher heimlich ihre Töchter, hopste, sprang und turnte «Charle le Mignon» immer drolliger und gewagter in Haus und Hof herum.

Manchmal ertappte sich Natalie bei Gedankenspielen mit dem früheren Hauslehrer. Dann hatte sie Rafail Abramowitsch suchen lassen. In kaum verhüllter Verzweiflung bat sie um seine Hilfe und bot ihm die  Wiederanstellung an. Abramowitsch liess ausrichten, dass er kein Interesse habe. Er sei anderswo in guter Stellung und hoffe ohnehin, bald nach Russland abreisen zu können, um dort für die richtige Sache zu kämpfen. Natalie kochte vor Wut. Ihre Fantasien beschäftigten sie immer öfter. Sie wusste immer besser und gewagter, wie sie ihn bestrafen würde.

Als sie im Pferdestall ihre Ausrüstung überprüfte und sich nach Gedanken verlorenen Ewigkeiten, erregt bei ihren peinlichen Gefühlen wiederfand, beschloss sie sich zu verändern. Hoch zu Ross, im Herrensattel und in elegantem Reitkostüm, begleitet von zwei eindrücklichen schwarzen Dobermann Hunden ritt sie nach dem Frühstück bald jeden Morgen aus. Ihr Pferd war ein Schimmelwallach mit hohem Rist, durchaus rassig, aber gutmütig. Vom Gutshof ritt sie jeweils nach Süden, die Strasse und das Dorf meidend, direkt den Zürichberg hoch und folgte dann dem Waldweg entlang der Bergkuppe. Dort hatte sie eine weite Aussicht. An schönen Tagen überblickte sie nicht nur die Stadt, sondern das ganze zentrale Alpenpanorama, die vorgelagerten hügeligen Berge, die Dörfer und Seen beidseits des Stadtberges. Ein kleinerer See lag unterhalb der Villa Nettergut, der grössere aber zog auf der Stadtseite südwestlich ins Alpenvorland bis zwischen die ersten Berge.

Schon beim ersten oder zweiten Ausritt begegnete Natalie der Gräfin Clara von Bismarck. Sie war die Gattin Ulrich Willes, des einzigen Generals des Landes. Obwohl schon Grossmutter, ritt die Generalsgattin flott und selbstverständlich auch im Herrensattel. Die Damen waren sich schon vorgestellt worden und deshalb bestand kein Hindernis, sich anzufreunden. Bald war der morgendliche Ritt für beide ein notwendiges Ritual mit festem Programm. Man traf sich auf einem Bergsattel und galoppierte von dort nebeneinander gesprengt auf die hohe Wacht. Bei schönem Wetter genoss man gemeinsam die Aussicht aber das Wetter war vom Frühjahr bis in den Herbst ausserordentlich kalt. Die Pferde und die Damen verschnauften auch bei Nässe und Nebel einen Moment. Man hörte Amseln, Zilpzalp und andere Vögel. Die morgendlichen Treffen fanden grundsätzlich bei jeder Witterung statt, die Frau eines Generals lässt sich von nichts beirren.

Der steile Weg von der hohen Wacht hinab zum Schiessstand war oft glitschig und für die Pferde nur vorsichtig im Schritt zu nehmen. Bei Regen mussten die Damen sogar absteigen und die Pferde führen. Täglich übte man sich gemeinsam im Pistolenschiessen; dann erst wurde der Znüni gereicht. Ein Knecht für die Pferde und eine Bäuerin oder deren Magd standen jeweils mit dem Imbiss bereit. Beide Damen konnten dann auch schon einen Most oder manchmal Champagner vertragen.

Am Waldrand warteten hungrige Kinder. Vielleicht liessen sich Reste erhaschen. Zwei Männer in ärmlicher Kleidung erhielten ein Trinkgeld; mit Jägerhut und Jagdhörnern hatten sie ein Ständchen gegeben. Die tägliche Morgentour der Damen war bekannt geworden, eine Gelegenheit in harten Zeiten. Nur schon die Rossbollen waren begehrt und blieben auf dem Weg hinter den berittenen Damen nicht lange liegen.

«Ja man sagt, die Ernte wird auch heuer wieder schlecht. Wir importieren Weizen in grossen Mengen. Die Zeiten sind schlecht aber die Preise gut.»

«Krieg, Hunger und Elend und man kann es nicht einmal vor den eigenen Kindern verbergen.» Die Gräfin machte der Magd ein Zeichen, dass sie den Kindern von den Resten geben sollte.

«Im Bezirkshauptort und in der Stadt gab es Streikaufrufe. Stellen Sie sich vor, es sind die Frauen, die den offenen Kampf fordern.»

«Ja, unglaublich. Mein Ulrich sagt zwar „nur Disziplin und Härte bringt Stärke“. Aber man kann von den Leuten nicht zu viel fordern. Auch wenn wir keinen Krieg führen, nicht nur für die Männer im Militärdienst ist es hart.»

«Meine Rede, ma chère. Soeben habe ich einen Brief aus der Romandie erhalten. Unsere Familie hat beschlossen, auch in unserer Stadt einen ganzen Eisenbahnwagen mit Weizen verteilen zu lassen. Ich wollte Sie bitten, Ihren Mann zu fragen, ob er ein Detachement zur ordentlichen Verteilung zur Verfügung stellen kann.»

Wieder auf den Pferden sprachen sie noch von der bevorstehenden Eröffnung der transsibirischen Eisenbahn, von der Hoffnung, dass Weizen aus Sibirien und andere Güter aus Asien im Frieden Wohlstand und Gewinn für alle bringen könnten. «Ja der schreckliche Krieg!»

Natalie war sich nicht sicher, ob ihr Alexander den Zaren Nikolaus in diesen Zeiten nach Wladiwostock zu den Feierlichkeiten begleiten werde, und ob es wohl solche Feierlichkeiten überhaupt geben werde. Man wisse so wenig vom Krieg im Fernen Osten, wo die Russen wieder gegen Japan kämpfen. «Die Russen gegen die Deutschen und die Franzosen: es ist alles so weit weg, so unwirklich.»

Eines war für die Damen gewiss: «Wir lassen uns durch die unterschiedlichen Sympathien unserer Familien nicht entzweien. Darauf stossen wir morgen an!»

Wie es der Zufall so will, war Rafail Abramowitsch von Gräfin Clara Wille von Bismarck als Hauslehrer ihrer Enkel angestellt worden. Irgendwie kam die Rede auf dessen stramme, zu seiner üblen Rasse gar nicht passen wollende, gute Figur. Die Damen kicherten einträchtig.

«Für die Erziehung und Ertüchtigung von Knaben ist dieser Kerl sicher ideal. Aber meine kleine Annemarie bewundert ihn auch.» Wenn die Enkelin einmal in das Alter käme, müsse man sicher aufpassen, meinte Gräfin Carla.

«Oh, ich weiss leider nur zu gut, wovon Sie sprechen, meine Liebe. Ich bin froh, dass er nicht mehr in der Nähe meiner Töchter ist. Aber ich muss Sie warnen, meine Teure. Wie es scheint, ist er ein Bolschewik, ein Sozialist! Schauen Sie ihm auf die Finger! Er verkehrt mit diesem Lenin! Ich weiss nicht, warum dieses Land solche Elemente duldet, und Asyl gewährt.»

Zwei Tage später sah Natalie das Ziel ihrer bösen Wünsche vor sich auf dem Feldweg Richtung Gut Mariafeld. Sie war, ohne bewussten Entschluss, etwas früher unterwegs und lenkte ihr Pferd auf der stadtwärts gelegenen Bergseite auf halber Höhe zum Treffpunkt. Abramowitsch rannte zum Morgenunterricht. Ihre Dobermann Hunde hetzten sofort los. Sie stellten den kräftigen Mann, wie ein zu erlegendes Wild. Sie kläfften mehr als nur bedrohlich, Geifer spritzte aus den fletschenden Mäulern. Abramowitsch war in echter Not. Beide Hunde konnten mehrmals zubeissen aber dem trainierten Kämpfer gelang es, den einen Hund an den Hinterläufen zu packen als dieser auf ihn sprang. Er schleuderte das sich windend wehrende Tier regelrecht auf den anderen Hund. Da verdrückten sich beide winselnd hinter die Reiterin und deren sich aufbäumenden Ross.

«Was fällt Ihnen ein, meine Hunde so zuschanden zu richten!»

Der mit Wucht gepackte Hund, hatte Abramowitsch an der Wange erwischt; sie war klaffend bis zum Mundwinkel aufgerissen und blutete stark. Er stand schwer atmend da und blickte Natalja Alexandrowna auf eine Weise an, als wollte er sich deren Bild für immer einprägen. Der Mann hinkte mehr als der Hund, ein Hosenbein war blutig getränkt. Unmittelbar gefährliche Verletzungen hatten aber weder Mensch noch Tier.

Natalies Beschuldigungen führten zur Entlassung des jüdischen Lehrers durch Gräfin Bismarck. Er habe über sie herfallen wollen, der Unhold. Die beiden Dobermänner hätten sie brav verteidigt. Einer der Hunde musste abgetan werden. Die Gendarmerie fand den gesuchten kommunistischen Schurken leider nicht. Rafail Abramowitsch Gross tauchte Monate lang unter und verschwand. Er soll mit den Bolschewiken im plombierten Wagen Lenins durch das kaiserliche Deutschland nach Russland, in die Revolution gefahren sein.

Natalie dehnte ihre Ausritte immer weiter aus. Der übrig gebliebene grosse Hund blieb fest an ihrer Seite. Der Haushalt konnte sie entbehren. Eigentliche Geschäfte hatte sie kaum zu erledigen. Sie durchstreifte das Land bis zum höchsten Punkt des Bergrückens, den sie pfannenstiel nannten, und zurück um den kleineren See im Osten. Überall waren die Felder nass und weite Flächen standen unter Wasser. Bauern lüfteten ihre Mützen, stützen sich auf ihr Werkzeug und schauten still, wenn sie vorbei trottete oder trabte. Kartoffeln verfaulten auf den Feldern aber die hungrigen Menschen gruben sie trotzdem aus und verzehrten sie manchmal roh, da Brennholz zu wertvoll erschien. Sie sah Kinder, Jagd auf Ratten und Kleingetier machen, um sie zu essen.

Ein Amtshaus war abgebrannt, die Frauen der Arbeiter waren mit Stöcken, Stechgabeln und Fackeln losgezogen. Die Gendarmerie zog sich zurück. Auch in der Stadt wurde zum Streik aufgefordert. Zwei Munitionsfabriken standen tagelang durch Streik still; und so etwas in Zeiten des Krieges, der doch jederzeit auch die Schweiz treffen könnte. Ulrich soll getobt haben, berichtete Gräfin Carla, beim nächsten Damentreffen. Er habe den sofortigen Einsatz des Militärs gefordert. Auch als die ignorante Regierung endlich die Erlaubnis gab und die Gewehre der welschen Soldaten in der Stadt vier Todesopfer gefordert hatten, sei die Wut des Generals nicht gestillt gewesen.

«Principiis obsta. Sero medicina parata, cum mala per longas convaluere moras»; Ulrich Wille habe gezittert beim Zitieren von Ovid und die Stimme des Generals habe versagt, als er übersetzte: «Wehret den Anfängen, denn zu spät wäre Medizin bereit, wenn Übel durch langes Zögern erstarken.»

Natalie pflichtete der Gräfin bei: «Diese Kommunisten muss man vernichten, bevor sie als vielköpfige Schlangen um sich greifen. Man kann in Russland ja sehen, wohin die Langmut eines Herrschers führen kann.»

«Ihr Gatte hat ja so recht. Meine Familie, ja sogar der Zar mit seiner Familie, fliehen von einem Ort zum andern. Die Oktoberrevolution zerstört mein schönes Russland. Ich werde wohl niemals mehr nach Hause kommen.»

«Meine Liebe: Bleiben Sie hier. Unser Land wird verschont bleiben!»

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