Saporischtschja

Der kleine Moische sah durch die Dachluke des Stalls, wie die wütenden Mördermassen heranstürmten. Seine Schwester wollte ihm nicht glauben, dass sie sich verstecken mussten. «Dann schau doch selbst im Hof nach!»

«Nein, bleib!»

«Mama!», schrie die Schwester im Hof, genau in dem Moment als Mirjam ihr Moischele in der versteckten Ecke des Stalls erreichte. Die Mutter hielt ihrem Söhnchen eine Hand auf den Mund, damit er nicht schreie. Moische wollte gar nicht schreien aber unbedingt sein Horn aus der Schlafkammer holen. Mirjam packte ihren Moische noch fester. Beide mussten sie zusehen.

«Mama!» Das kleine Mädchen wurde als Erste aufgespiesst. Ihre Hände hielten den roten Fleck auf ihrem schneeweissen Hemdchen. Zuckend atmete sie noch zweimal.

Die Tiere im Stall wollten sich losreissen und fliehen. Der Esel brüllte hemmungslos. Trockener Staub und Heupartikel liessen Strahlen einfallenden Sonnenlichts grell aufleuchten. Als es an die Stalltüre polterte und sie krachend aus den Angeln fiel, konnte Mirjam mit Moische durch eine Hintertür eben noch entwischen.

Das Stadthaus des Kosakenhauptmanns Wassili Kurtschatow war in der Nähe über Nebenwege leicht erreichbar. Nur Bedienstete waren zuhause. Man liess sie ein.

Lange standen sie im Halbdunkel eines Gangs. Moische drückte sich an seine Mutter. Aus dem Haus war kein Laut zu hören. Die Luft war stickig von Stofftapeten und Teppichen. Immer wieder hörte man Schüsse und kurze Schreie vor der Türe. Das Getrampel von Füssen und Hufen war mal fern und dann wieder ganz nah. Eine Magd brachte zwei Gläschen mit Tee und verschwand. Nach vielen bangen Minuten erschien die Magd erneut. Wortlos reichte sie einfache bäuerische Kleidung.

«Wo ist Igor Wassiljewitsch Kurtschatow?»

«Der Sohn? Er ist vorgestern zum Gut Kurtschatow im Rayon Saporischtschja aufgebrochen.»

«War Jona Zawidow mit ihm?» Man wusste es nicht. Man lieh Mirjam einen Wagen, und ein Knecht begleitete sie. In der Stadt brannten die Häuser und Werkstätten der Juden. Moische zog seine Kappe tief ins Gesicht und lugte trotz Furcht hinter seiner Mutter hervor. Totschläger und Tote erkannte er da, und leise flüsterte er alle ihre Namen. Der Kutscher liess das Pferdchen schneller traben. Niemand hielt sie auf. Noch lange sah Moische zurück nach Jekaterinoslaw.

Mirjam hielt sich an der Sitzlehne und starrte auf den Rücken des Kutschers. Ihre Jugend war von einem Greis gekauft worden. Er hatte sie benutzt, sechs lange Jahre. War er tot? Zwei ihrer Kinder waren tot. Was sollte sie fühlen? Die Schläge der Strasse trafen sie; sie liess es geschehen.

Die Kinder aus Beers früheren Ehen hatten sie verachtet. Nur Elischewa und Jona nicht; die hatten sie respektiert. Mit der gleichaltrigen Elischewa konnte sie plaudern und sogar kichern, als wenn sie noch Mädchen wären. Die beiden hatten Mirjam mitgenommen an die geheimen Versammlungen seiner Freunde, der Narodniki.

«Hast Du eine so wunderbare Braut?» hatte Igor Wassiljewitsch Kurtschatow gefragt.

«Welche Verschwendung!» hatte er ausgerufen und ihre Hand geküsst, als er erfuhr, dass sie die Stiefmutter Jonas sei. Über ihren Handrücken hinweg hatte er strahlend ihren Blick gesucht. «Welche Verschwendung!»

«Da muss ich Dir mehr als nur recht geben, Igor Wassiljewitsch». Das Interesse der beiden Männer war ihr nicht verborgen geblieben und Elischewa hatte unverstellt gelacht und gestrahlt, als wäre Mirjam nicht die Angetraute ihres eigenen Vaters. Igor und Jona zeigten ihr beide eine scheue Verehrung, wie sonst keiner Frau gegenüber. Mirjam merkte, dass sie bei dem Gedanken lächelte.

Jona hatte schon seit Tagen gespürt, dass sich Ungemach zusammen braute. Zar Alexander war tot. Die Ochrana hatte in der Region die Kontrolle verloren. Hatte der Sozialismus schon so schnell eine Chance? Schon jetzt? Sie wollten sich mit Freunden über Gefahren und das Vorgehen beraten. War Jona mit Igor zusammen nach Saporischtschja gegangen?

Der kleine Moische hielt ihre Hand. Noch fuhr die Eisenbahn nicht bis nach Saporischtschja. Entlang der schon fertiggebauten Geleise vor der Stadt ging das Pferd im Schritt. Die Felder zogen sich endlos. Der Kutscherknecht reichte Wasser und Brot. Manchmal blitzte die Sonne zwischen fernen Wolken und spiegelte sich weit weg im Wasser des grossen Stroms Dnjepr. Unerkannt erreichten sie das Gut der Familie Kurtschatow im Rayon Saporischtschja, bevor der kalte Regen begann. Die Sonnenblumen und Maisfelder waren schon schwarz. Einzelne Stauden zitterten im leisen Wind vor dem Sturm, der sich von weither sichtbar näherte.

Erste Blitze schlugen in den Boden. Sie versetzten die Luft in eine gefährlich riechende Spannung. Auf den letzten Metern ihres Weges zum Gut Kurtschatow prasselten die ersten dicken Tropfen auf den offenen Wagen. Als sie eintraten, ergoss sich die hemmungslose Wut aus schwarzem Wasser. Das Land versank in Schlamm und abgründigem Sumpf. Ausser Haus würde nun wochenlang alles im Morast stecken bleiben. Die Erschütterungen der Blitzeinschläge pflanzten sich wie Bebenwellen im Boden fort. Die Gewalt war durch feste Tür und Mauern hindurch spürbar.

Aus dem Dunkeln des Gutshauses erschienen Lichter sie zu begrüssen. Weder Jona noch Igor waren da, aber Olga. Nur Igors Schwester wohnte noch bei ihrem Vater, dem alten Kosakenhauptmann.

Olga Kurtschatowa umarmte Mirjam wortlos. Sie war eine grosse, stattliche Frau mit starren Zügen, denn Gefühlsregungen hätten ihr Antlitz noch schlimmer verzerren können. Meist verbarg ein buntes Kopftuch die Hälfte ihres Gesichts. Im Kalten Winter trug sie eine Augenbinde, aber zuhause und im Sommer ein Glasauge.

Wenn sie sich nicht beobachtet fühlte, nahm sie das Glasauge aus der Höhle, steckte es in den Mund, putzte es mit einem Taschentuch, liess drei Tropfen Glycerin darauf fallen und stopfte es in die Augenhöhle zurück. Moische hatte sie dabei beobachtet.

«Moisej Igorjewitsch» mahnte sie Moische, darüber zu schweigen und sie nicht heimlich zu beobachten. Olga nannte ihn meist Moisej, aber wenn sie etwas besonders betonen wollte, fügte sie den falschen Vaternamen Igorjewitsch hinzu, als wäre er der Sohn ihres Bruders Igor.

Zum Verstecken war das Gut Kurtschatow ideal. Moische versteckte sich tagelang. Nicht nur für sich hatte er die besten Verstecke gefunden; in seinen Büschen, Stapeln von altem Holz und in den weitverstreuten verfallenen Hütten des Gutes wären sie sicher, seine Schwester könnte nicht aufgespiesst werden. Einmal fand ihn doch ein Knecht bei den Karnickeln, und ein andermal eine Magd hinter dem Schweinekoben.

Aber bald fand ihn der alte Kosakenhauptmann Wassili Kurtschatow. Moische sass gerade in einem Graben und grub mit einem Stock nach einer Maus, welche dort in einem Loch verschwunden war. Der Alte fragte von seinem hohen Ross hinunter: «Wer bist Du? Was machst Du hier?»

«Ich bin Moische Beerowitsch. Ich jage.»

«Beerowitsch? Ja, Beer, den kenne ich.» Er streichelte seinen imposanten Oberlippenbart auf beiden Seiten.

«Komm mit, ich zeige Dir die richtige Jagd!» Er half dem kleinen Moische vor sich auf den weichen Sattel hinauf.

Sie erkundeten das ganze weite Land zu Pferd oder im einspännigen Gig. Sie übten reiten, schiessen mit Pistole und Hinterlader. Der Alte und der Junge balgten und kugelten sich ein grasbewachsenes Bord hinunter, sie landeten im matschigen Schilf am Ufer, sie erschreckten die Frauen mit fingierten Messerkämpfen, sie riefen Hurra und warfen ihre Mützen so hoch in die Luft, wie sie nur konnten, und Moische musste auf den Nussbaum klettern um die Mütze des Alten herunterzuholen, sie schwammen im Fluss und in den Seen, sie wateten durch die riesigen Kornfelder und sangen Kosakenlieder. Der Alte und der Siebenjährige tranken Wodka und erregten den weiblichen Zorn damit. Sie plünderten Vogelnester und schlürften die Eier, sie fischten vom Boot und im dunklen Winter hockten sie im engen Zelt über dem Eisloch, welches nur von einer russigen Petroleumlampe geheizt wurde.

In den Träumen flüsterten die Gräser und Blumen im Wind und plätscherten die Bäche an den Wurzeln und die Wellen des Flusses erzählten ihre Geschichten und Gerüchte, aber die Wurzeln schlugen im Takt: «Schid, Schid wissit na Chuk! Schid, Schid wissit na Chuk!» Der Jude, Jude hängt am Haken!

Die Kinder des nahen Dorfes waren immer nur von Weitem zu hören. Sie wagten sich nicht in die Nähe des gefürchteten Kosakenhauptmanns. Der schoss nämlich wild um sich, wenn ihm jemand begegnete. Er zog den Säbel, wenn ihm auf seinem Weg nicht sofort ausgewichen wurde. Er gab seinem Pferd die Sporen, dass es aufbäumte und wild auf jeden losgalloppierte.

Moische hatte eine Blechtrommel und eine Kindertrompete gefunden. Die nahm er überallhin mit. Wenn er auf einen Baum kletterte, trötete er von oben herab über das weite Land. Wenn er sich versteckte, dann trommelte er aus seinem Versteck um böse Belagerer zu vertreiben. Er war Mosche der dem jüdischen Volk voranschritt, auf seinem Horn blies und Pharaos Armee in den Fluten versinken liess. Er war König David, und der jüdische Chasarenkönig Busir, der vor Tausend Jahren hier regierte. Er war Mamaj, der grosse Hetman der Kosaken. Er vertrieb die Musulmanen, die Hunnen und die Türken, die Tatarer, die Polen, die Litauer und die Schweden, Haman und Napoleon, sie alle wurden von ihm geschlagen, sie flüchteten, über den Jordan, den Kaukasus und den Ural und über den Fluss Beresina. Allein war er im See geschwommen. Als er zurückkam waren seine Stiefel, die Trompete und Hosen, die er abgelegt hatte, verschwunden. Das fröhliche Geschrei von Kindern war schon weit weg und entfernte sich.

Die Hose war Moische nicht so wichtig, aber er weinte um die Trompete. Am frühen Morgen fand der alte Kurtschatow die Trompete als er vor das Haus trat. Er hatte sie in der Hand und stand im Licht des Türeingangs als der Junge hinaus wollte: «Moisej Beerowitsch».

«Moisej Beerowitsch», rief er immer wieder unvermittelt fragend oder leicht verwundert aus, «Moisej Beerowitsch». Wassili Kurtschatow war der Einzige, der Moisches richtigen Namen zu kennen schien. Meist aber hatte er ihn vergessen und fragte jeden Tag mehrmals: «Wer bist Du?»

Beim Eisfischen sprachen sie nicht viel. Aber manchmal sangen sie wieder die Lieder des Sommers. Moische warnte den Alten, dass ein Sturm aufzuziehen schien. «Nein das ist nichts, nietschjewo njet».

Aber es war ein veritabler Sturm, und bald sah man vor dem Zelt die Hand nicht mehr vor den Augen. Das Zelt flog davon, noch ehe man sich versah. Moische nahm den Alten an der Hand. Moische wusste, dass er ein Linksdreher war. Er hatte ausprobiert, was er gelesen hatte: Blind drehte er im grossen Kreis nach links. Aber sie hielten sich fest aneinander, fanden das Ufer und dann das rettende kleine Bootshaus. Man hatte das Schlimmste befürchtet, als sie nicht rechtzeitig nach Hause kamen und einen Knecht auf die Suche geschickt. Der Knecht wurde nie mehr gesehen, der Sturm hatte ihn für immer verschluckt.

Wassili Kurtschatow liess das weibliche Geschimpfe über sich ergehen. Als der Sturm nachliess, hätten sie ganz leicht nach Hause gefunden. Der Alte sass am warmen Ofen und lächelte selig, als die Tapferkeit Moisejs gelobt wurde. Aber dann fragte er doch wieder: «Sag, wie heisst Du mein Junge?»

Mirjam Zawidowa und Igor Wassiljewitsch waren für die Feiertage aufs Gut Kurtschatow zurückgekehrt. Den ganzen Sommer und bis Ende November waren sie gemeinsam weit herumgereist und hatten das Land vermessen. Igor lobte Mirjam, sie sei seine beste Assistentin. Im Sommer waren sie einige Tage zuhause. Zu Dritt waren sie mit dem Boot zum Angeln gefahren. Das Paar sass aneinandergelehnt auf der Ruderbank. Moische lag auf dem Boden des Bootes und blinzelte durch die gespreizten Finger seiner Hände in die Sonne. Der junge Kurtschatow sprach von seinen grossartigen Plänen. Er entwarf Brücken und Dämme, er war nämlich Ingenieur. Am Ufer zeichnete er eine Karte des Flusses Dnjepr in den Sand. Hier oberhalb der Stadt Saporischtschja wollte er den Dnjepr stauen und ein riesiges Flusskraftwerk bauen für elektrischen Strom. Und das sei nur der Anfang; man könne noch viel mehr grosse Dämme bauen. In seinen Augen hatte das elektrische Licht geleuchtet, als er zuhause der ganzen Familie seine kleine elektrische Handmaschine vorgeführt hatte. Elektrische Kraftmaschinen, so gross wie die grössten Häuser werde er bauen.

Karten, Skizzen, Tabellen und Bücher lagen auf Igors Pult, im Arbeitszimmer und in der Bibliothek. Auch wenn er selbst nicht da war, waren seine Pläne und Ideen präsent. Mit Papiertüten, Holzlatten und Schnüren und Tüchern baute der kleine Moisej Kanäle und Tunnels durch das ganze Haus. Wasserkraftwerke entstanden im Dreck hinter dem Garten. Das Wasser wurde aus dem Regenfass in Röhren geleitet und die Elektrizität mit Fäden wegtransportiert. Dem Knaben wuchsen Turbinenschaufeln aus den Ohren und Druckstollen durchzogen seinen Körper, dass er vor Kraft nur so strotzte. Er blies in Hörner, die über ganz Russland tönten.

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