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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025
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Der Kleine liebte ein Mädchen mit goldenen Locken, einem Lachen bis zu den Ohren und erst noch Augen, die alles ausdrückten und versprachen.
Aber da kam ihm die Mutter abhanden. Und das Mädchen fragte: Wie kannst Du nur Deine Mutter verlieren?
Ja, wie konnte ihm nur so ein Missgeschick geschehen? Was hatte er bloss angerichtet? So blöd konnte doch keiner sein, seine Mutter zu verlieren. Das versteht doch der kleinste Knirps, noch bevor er zur Welt gekommen ist, versteht das doch jeder.
Seine Mutter war ihm abhanden gekommen und nicht nur die Mutter.
Das Mädchen war die Tochter des Fischhändlers. Sie war so schön mit ihren blonden Locken, ihrem Lachen und ihren Augen, die rollen konnten und sich kugeln. In jeder blaugrünen Murmel, mit der sie spielten, sah er immer nur sie, noch eine lange Zeit. Aber seit seinem Missgeschick blickten ihn ihre Augen an, wie toter Fisch. Viele Jahre wollte er ihren Namen vergessen, aber damals gelang es ihm nie. Und dann hatte er ihren Namen doch noch vergessen, nicht einmal mehr ihre Augen sah er vor sich und er besass auch kein Bild von ihr.
Er war allein, ganz allein, ganz allein.
Er vermisste sie sehr. Wie sehr, sagte er niemandem. Am Abgrund ihres Verschwindens erlebte er, wie er mitgerissen wurde. Er schlidderte über Moos und Fels, an Tausenden von haarigen Baumwurzeln vorbei, die er vergebens zu fassen suchte, immer steiler auf klumpigem Erdreich und Steinen, die ihn noch im Fallen zu erschlagen drohten, und vorbei an neugierigen, erschrockenen und erstaunten Gesichtern, die überall hervorgelugten. Die Gesichter guckten hinter ihm her, aus dem Dunkeln hinter spiegelnden Fensterscheiben. Durch Gitter hindurch beäugten sie ihn, und um Ecken, hinter denen sie sich verbargen, sobald er sich umdrehte, um sie zu ertappen. Er rannte durch die Gassen. Er erkannte sie hinter den Torbögen und Säulen. Die Hunde kläfften hinter ihm her und Katzen buckelten schon bevor er nur in ihre Nähe gekommen war.
Die Fischhändlers waren reich. Sie besassen das grosse Haus, in dem sie wohnten. Sie bewirtschafteten den Hinterhof, wo die Fische, Comestiblewaren und Alkohol in Flaschen und Fässern verladen wurden. Ihnen gehörten die stählernen Gitterkästen im Fluss vor dem Rathaus. Die ganze Stadt und den halben Kanton belieferten sie. Da war es schon wichtig, dass das Wasser frisch aus dem See kam und die Fischkäfige im Fluss spülte. Zu viele heruntergekommene Häuser und Hüttchen am Ufer des Flusses und der Altstadt erinnerten immer noch an die Kloake, die jeder Stadtfluss bis vor gar nicht langer Zeit gewesen war. Scherben, Schuppen und Fischinnereien mussten mehrmals täglich von den Rampen der Fischhandlung gespült werden. Der Hinterhof war immer nass und blank. Wenn Sonnenstrahlen einmal bis auf den Boden trafen, glänzte und glitzerte der Hof. Die Männer trugen hohe genagelte Schuhe, welche auf den steinernen Böden knirschten und knallten, schwere Schürzen aus Kuhleder, dunkelbraun verfärbt durch den Gebrauch aber blitzsauber. Zum Schleppen der Eisblöcke, welche im Winter aus dem Klöntalersee geschlagen und per Schlitten, Wagen und Schiff vom Bergsee bis in die Stadt angeliefert worden waren, legten die Männer der Fischhandlung sich sackleinene Lagen auf die Schulter. Mit einem geschickten Schwung des schwarzen Eisenpickels bepackten sie sich mit einem schweren Eisblock und trugen ihn über die Rampe in den Keller der Fischhandlung.
Das Mädchen hatte den Kleinen einmal gefragt, ob er ihr Freund sein wolle. Mit einem Klemmen vom Hals bis in die Brust, welches er noch nie zuvor gespürt hatte, er ja gesagt, denn da waren nicht nur ihre Augen, von denen schon die Rede war, sondern auch ihre Stimme, welche mit ihrem Schalk um jedes Wortende herumspielte. Sie fragte ihn, ob er sich trauen würde, seinen Arm in ein Aquarium hineinzuhalten. Darin waren Fische so gross wie sein Arm, und noch viel grösser, weil er schon noch klein sei, und ob er sich also trauen würde, fragte sie, auch wenn da noch Hummer herumschwimmen würden und Aale, die wie Schlangen aussehen. Er war hingerissen und hatte wohl ebenso vergnügt gelacht, wie sie. Und so stolzierte sie mit ihm an den Männern auf der Rampe vorbei. In der Halle bat sie einen Mann mit Lederschurz, ein mittelgrosses Fass so hinzustellen und beide hochzuheben, dass sie, die zwei verliebten Kindergärtner, direkt über dem grossen Aquarium zu stehen kamen. Der Kleine hielt zuerst nur einen Finger hinein und erst dann mutig die ganze Hand, als sie mit ihren Fingern Wasser auf ihn zu spicken begann. Er hatte bald den ganzen Arm, ja beide Arme im Wasser und spritzte so fest, dass sie vom Fässchen sprang und er klatschnass hinterher.
Im Treppenhaus versprach sie zur Zoohandlung von Frau Neumann mitzukommen, um das Löwenbaby zu sehen. Zuerst wollte sie ihm gar nicht glauben, dass Frau Neumann ein Löwenbaby hat. Er musste die Wahrheit hoch und heilig schwören. Hoch und heilig kannte er zwar noch nicht, aber sie zeigte es ihm. Er musste die drei ersten Finger strecken, so wie das die an den alten Hausmauern aufgemalten Hellebarden tragenden Soldaten taten. Dann musste er mit dem Daumen zuerst an sein Herz pochen und sagen Heilighochheilighochheilig, dann dasselbe mit dem Zeigfinger und dann mit dem Mittelfinger, und dabei durfte er nicht atmen und die Finger durften nicht einklappen, und zum Schluss musste er die hoch vorgehaltenen Finger durch die Luft küssen und erst jetzt ausatmen.
Die Mutter seines Mädchens war eine stolze Frau, mit gestärkten Rüschen am Saum ihrer weissen Schürze, so wie auch ihr Töchterchen zuhause eine zu tragen hatte. Sie war freundlich und gluckste sogar fast, als er ehrlich sagte, dass sie ihrer Tochter aufs Haar gleiche. Und als sie so lachte und ihn neugierig ansah, sagte er, dass sie jetzt mit ihrem Lachen noch viel mehr ihrer Tochter gliche. Das Überzieh-Schürzchen des Töchterleins, das ihr beim Eintreten über den Kopf und die beiden Zöpfe abgezogen wurde, war nicht sehr nass geworden. Er aber tropfte und die saubere Fischhändlerin bedankte sich schleunigst für die Begleitung der Tochter und schickte ihn nach Hause, bevor er sich erkälten würde. Ihm war aber nicht kalt.
In der Nacht konnte er nicht schlafen und kuschelte sich auf dem Fensterbrett an seinen Vater, der Zielübungen auf Haman, Hitler und Brun machte. Auch er durfte zielen und blasen. Er jubelte, als er die blecherne Fahne des verdammten Bruns traf.
Das Mädchen aus der Fischhandlung hatte ihn zum Geburtstagsfest eingeladen. Er hatte sich selbst eine Fliege an die spitzen Flügel des Hemdkragens geklemmt. Woher er wusste, dass sich das so gehörte, hätte er sicher niemals verraten. Er vergewisserte sich, dass das Hemd ganz in der Hose war und auch nicht ein Zipfel durch den Schlitz hervorlugen konnte, weil er vergessen haben könnte, ihn ganz zuzuknöpfen. Kämmen musste er sich nicht, denn auch er hatte ja Locken, wie sein Mädchen. Die Locken schnitt ihm der Vater, der war nämlich früher, in einem anderen Leben, einmal Coiffeur gewesen.
Jetzt war der Vater zum Glück Buchhändler. Aber war das ein Glück? Der Kleine war nicht mehr so sicher. Zwar hatte er immer genug zu lesen. Aber Buchhändler hatten eine gefährliche Arbeit. Einmal war er nämlich verkehrt herum zum Kindergarten gerannt, nicht durch den Rindermarkt, sondern unten herum, durch die Brungasse, am Haus mit den geheimen hebräischen Buchstaben im Treppenhaus vorbei, das der Brun vor langer Zeit gestohlen hatte. So kam er an die Froschaugasse.
Wegen dem Namen der Gasse musste er durch sie hindurch immer wie ein Frosch hüpfen. Wieso diese Gasse Froschaugasse hiess, wusste er nicht, denn Frösche hatte er da nie gesehen, und weit und breit war da auch kein Bach oder Teich. Er wollte eigentlich kein hüpfender Frosch sein, aber er hüpfte trotzdem und stellte sich vor, er hätte einen Ball, um ihn im Brunnen zu verlieren. Da merkte er, dass das ja völlig verkehrt war, denn Prinzessinnen verlieren den Ball im Brunnen, Prinzessinnen sind Mädchen, und er war doch kein Mädchen.
Als er also so durch die Froschaugasse kam, bemerkte er Glasscherben und rote Farbe an den Resten des Schaufensters des Buchhändlers Theo Pinkus. Er hielt im Hüpfen auf einem Bein stehend inne und entzifferte, was da geschrieben stand: Kommunistenschw. Mit den Füssen schob er zwei Scherben auf dem Pflaster zusammen, bis er lesen konnte: Saujud. Das S musste er raten, weil der obere Bauch des S abgebrochen, auf einem verlorenen Glasstück geblieben war. S zusammen mit aujud war nicht schwer zu erraten. Ja, also: Es war nicht mehr klar, dass es ein Glück sein musste, dass der Vater Buchhändler war. Das mit den Juden und den Kommunisten, das hatten ihm Vater und der Grossvater schon erklärt. Aber das wegen den Buchhändlern, das wusste er bisher nicht.
Warum war da niemand? Warum war alles so still? Er kickte die Scherben auseinander. Es klirrte und dann hörte er die Verfolger von der Brungasse her. Ohne noch ans Hüpfen-müssen zu denken, rannte er davon, bis zum Rindermarkt. Hatte er wirkliche Verfolger gehört? Vorsichtig lugte er um die Ecke zurück. Waren alle diese Verfolger nur so etwas wie die Drachen? Den Rest des Weges zum Kindergarten am Neumarkt hüpfte er auf einem Bein, er war ein Junge, kein Frosch.
Die Frau im Kindergarten hiess Fräulein Zangger. Der Kleine liebte sie sehr. Sie spielte nämlich Cello. Es war ein fast so schönes Instrument, wie das, welches er von seinem toten Grossvater bekommen würde, wenn er einmal grösser wäre. Der tote Grossvater, also nicht der Grossvater, der bei ihm zu Hause lebte, hatte ihm nämlich das Cello dagelassen, als er gestorben war. Dieser Grossvater hatte Jakobli geheissen aber war schon lange tot. Jakobli mit seinem Cello hing als Foto in Omas Haus kam.
Zur Cellobegleitung sangen sie im Kindergarten ein Lied aus Afrika. Afrika ist nämlich gleich neben Jerusalem, wo sie auch so schöne Lieder hatten. Fräulein Zangger bestätigte das. Sie warf ihre Haare über die Schulter und lachte, als er das von Jerusalem sagte. Sie entliess das Cello aus ihren wollen berockten Knien, versorgte es im Kasten, entspannte den Bogen und versorgte auch diesen. Er liess sich das alles genau zeigen, weil er ja auch einmal Cello spielen würde. Wenn er etwas grösser würde, werde er das uralte Instrument von Jakobli erhalten. Der sei nämlich sein Grossvater, wenn er noch leben würde. Ja, sie hätte Jakob Margoler noch gekannt und sein Spiel geliebt.
Fräulein Zangger lachte noch einmal richtig, als er fragte, ob Afrika auch im gelobten Land sei, weil die Leute dort so schöne Lieder hätten, und sie meinte ja, Afrika sei ihr gelobtes Land. Sie konnte auch die Sprache von Afrika und übersetzte die Lieder für ihre Kinder, bevor sie diese zum ersten Mal zusammen singen durften. Aber die Sprache von Afrika war ganz anders als die Sprache von Jerusalem, die konnte er nämlich immer noch, heimlich, weil niemand mehr mit ihm in dieser Sprache sprach. Und er wusste doch, dass es auch gefährlich war, die Sprache der Juden und Kommunisten zu sprechen.
In einer langen Zweierreihe, Hand in Hand, brachte Fräulein Zangger ihre Kinderschar bei schönem Wetter in den Spielgarten des Kindergartens. Der Spielgarten war ein schmiedeeisern eingezäunter, mit dunklem Grünzeug und Krüppelbäumen bewachsener, gerader Fleck zwischen den hohen Häusern und dem abschüssigen Teil der Spiegelgasse. Fräulein Zangger und Pavels Mutter besassen je einen Schlüssel. Pavels Mutter liess die Kinder in den Spielgarten, wenn der Kindergarten geschlossen und Fräulein Zangger nach Hause oder in die Ferien nach Afrika gegangen war.
Heute wollte er endlich lernen, die Schuhbändel richtig zu knüpfen. Fräulein Zangger hatte Schuhbändel auf einen flachen Schuh aus Pappkarton aufgezogen. Er musste auf den Karton stehen, damit das ganze Knäuel nicht immer davonrutschte. Seine kleine Freundin konnte das Schuhebinden schon, denn das sei doch kinderleicht, also musste er es natürlich auch können. Das Mädchen zeigte ihm nur einmal, wie der Knoten ging. Dann murmelte sie irgendetwas von dumm, als er das Binden doch nicht konnte. Pavel konnte das Schuhebinden aber auch noch nicht. Dumme Buben.
Seine Lockenprinzessin flüsterte ihm etwas ins Ohr, das er nicht verstehen konnte, weil sie ihn mit dem Flüstern so kitzelte. Sie zog ihn hinter das dichteste Gestrüpp in den dunkelsten Winkel des Spielgartens, um ihm etwas viel Wichtigeres zu zeigen: Den Himmel auf Erden. Als sie ohne und er mit den Höschen an den Beinen dastanden, kam Pavel. Bevor der aber zu Fräulein Zangger rennen konnte, schnappte ihn das Mädchen an den Hosenträgern, haute ihm die Kartonschuhe über den Kopf und biss ihn. Pavelchen schrie.
Am Nachmittag war die Geburtstagsfeier des Mädchens. Er hatte auf der Wiese im Rechberggarten einen kleinen Strauss Margeriten gepflückt und seine Schuhe geputzt. Er kletterte auf einen Schemel im Bad, um sich im Spiegel betrachten zu können. Er hatte das kleine Büchlein vom Trommelpeter in weisses Papier eingepackt, auf welches er einen farbigen Schmetterling gezeichnet hatte. So gerüstet ging er zu seiner kleinen Freundin. Sie öffnete die Wohnungstür mit einem Ruck und trötete fröhlich mit einer Spielzeugtrompete. Er schmolz, ob dem vereinten weiblichen Lachen und Glucksen, welches ihm von dem Mädchen und ihrer Mutter entgegenkam. Er war der erste Gast und fast enttäuscht als auch die fünf anderen auserwählten Kindergarten-Kinder eintrafen. Sie spielten die Kindergarten-Spiele, aber es war alles noch viel schöner als bei Fräulein Zangger. Als im Sesseltanz nur noch seine Freundin und er übrig geblieben waren, schubste er sie mit seinem Hintern weg und setzte sich auf das einzige freie Stühlchen. Sie wurde wütend und er entschuldigte sich bestürzt. Da bestimmte sie, dass er den Habersack zu spielen hatte. Er musste mit eingezogenem Kopf zwischen den Händen knien:
Sie durfte jetzt auf ihn sitzen. Sie drückte und hopste lustig auf seinem Nacken und Rücken herum. Dann gab es Kuchen mit Schlagsahne. Er war nachher etwas verschmiert und Heidi weinte, weil ihr Kleidchen verspritzt war. Er fand aber nicht, dass er daran auch noch Schuld hatte und verstand sowieso nicht, weshalb diese blöde Heidi und der Pavel überhaupt in der Gunst seiner Freundin standen. Pavel bezeichnete ihn als Säuli und was weiter geschah, hatte er vergessen.
Tags darauf am Abend waren alle Kinder schon fort. Nur seine kleine Angebetete und er waren noch im Kindergarten, als die Frau Fischhändler zur gleichen Zeit wie sein Vater erschien. Der Vater erkannte sofort die Ähnlichkeit mit Ihrem wunderhübschen Töchterlein. Die grosse Frau blickte schräg über ihren Busen auf seinen Vater hinunter. Sie fand das Kompliment aus dem Mund seines Vaters nicht lustig. Fräulein Zangger bat die beiden Eltern in ihr Büro-Kämmerlein. Dort liessen das Cello in seinem schwarzen Kasten und viele afrikanische Menschen- und Tierfiguren und sogar eine echte kleine Palme trotz sauberer Ordnung kaum noch Platz für erwachsene Menschen. Fräulein Zangger hiess die beiden Kinder draussen zu warten, ruhig weiterzuspielen und schloss bedächtig die Tür ihres Büros.
Schon den ganzen Tag wollte seine Freundin nicht mit ihm spielen. Also zog er sich in die Mal Ecke zurück und stand allein mit seinem Überwurf-Schösschen an der Staffelei. Auf dem grossen Papier entstand bald ein riesiges, farbiges Ungeheuer. Dass er es nur wisse, tönte das Mädchen auf einmal überlaut durch den ganzen leeren Kindergartensaal, sie sei nicht mehr seine Freundin. Dann spielte sie weiter mit Murmeln auf der Murmelbahn. Nur leise hörten sie die Erwachsenen im Büro miteinander sprechen und einen Stock höher knarrten Schritte durch eine Wohnung.
Sie aber spielte nun mit den Puppenfiguren Kasperli und Trudeli. Er hörte sie leise murmeln, aber dann sagte das Trudeli laut und entsetzt: Wie kann man nur seine Mutter verlieren?
Und der Kasperli meinte halblaut: So dumm!
Er stürzte in einen Trichter. Aus allen Nischen der Trichterwand sahen sie ihn fallen, erschreckt, ungläubig, entsetzt, mitleidig, belustigt, schadenfreudig und gierig. Er kannte alle diese Gesichter, denn er sah sie, wenn er vor seinem Haus auf dem Schaufensterabsätzchen der Zoohandlung Neumann sass und las. Er schürfte seine Hände an den Wänden des Trichters blutig. Die Gesichter sahen zu, wie sein Sturz nach unten rasante Fahrt aufnahm, das Trudeli, Baby, Odette, Marisa, Gusti, der Stierli und der Freddy, der dicke Mann mit dem immer gleichen Zigarrenstumpen zwischen den wulstigen Lippen, und der Besoffene, dem sie gestern Knallerbsen nachgeschossen hatten. Sie alle schauten, stierten und gierten ihm nach und sahen ihn in den Käfig stürzen, der unten mit seinen harten Gitterstäben wartete, auf dass er endlich kam, um mit allen anderen in den Fluten des Flusses der Stadt ertränkt zu werden.
In einem anderen Käfig sah er den Buchhändler Theo und seine Frau Amalie Pinkus und ihre schon grossen Kinder. Und da waren noch andere jüdische und kommunistische Familien. Da war auch der Buchdrucker Döle und er sah endlich einmal seine rothaarige Frau; beide waren sie nackt aber nur die Nacktheit der Frau war durch ihre langen Haare bedeckt. Alle schrien und weinten und im Fluss warteten schon die Mäuler der Fische, die durch die Stäbe kommen und sie alle Stück für Stück auffressen würden; und mit den Fischen gelangten sie in die Reussen der Fischhandlung, welche am Grund des Flusses vor dem Rathaus verankert waren; und am Schluss würden sie ein Teil der fetten Bäuche der Stadträte, der Gemeinderäte und der Patrons an der Marktgasse werden, und würden als glitzernde fettige Schweisstropfen auf dem frisch abgeschnittenen Mortadella der Kundschaft perlen.
Er versuchte seine Gedanken rasch woanders hinzulenken. Er dachte an das Werbefoto des Milchladens Müdesbacher, wo satte Kühe unter blauem Himmel auf grüner Wiese von lachenden Mädchen gehütet wurden. Er dachte an sein Mädchen. Er hatte ihren Namen doch noch nicht vergessen. Den Himmel auf Erden hatte sie ihm versprochen.
Doch dann kam Pavel, Pavel mit seinen Spinnenfingern, seiner spitzen Mausnase durch die er immer Witterung aufzunehmen schien, und der feinen durchscheinenden Haut, welche seine ganze Familie hatte, sogar die Mutter, obwohl die ja eine eher dicke Frau war, mit dünnen fahlroten Haarsträhnen und Glubschaugen. Pavel und er sassen am Eingangstor des Spielgartens. Mit seinen dürren Fingern fädelte er die Schnürsenkel ein und aus und murmelte: Inästächä, Duräschlaa, Usäziä und Abälaa. Pavel war doch allzu blöd, das Schuhebinden auch noch mit dem Stricken zu verwechseln. Und dann kam sie wie die Fee mit feinsten Glöcklein und goldigem Knistersand, er spürte sie schon bevor sie sich bückte, um ihm ins Ohr zu flüstern.
Den Himmel auf Erden liess sie ihn sehen. Das Gewölbe durfte er nur nicht anfassen, nur anschauen und riechen. Und als der Pavel schon bald auch ins Gebüsch kommen wollte, sass sie einfach auf seinem Gesicht ab und versuchte ihn unter ihrem Röcklein und Spielschösschen zu verstecken. Als sie den Pavel packte, sie darum aufstand und ihr Kleidervorhang seine Sicht plötzlich nicht mehr bedeckte sah er in das entgeisterte Gesicht eines jungen Mannes, der von der abschüssigen Gasse unter dem Zaun hindurch zu ihm hoch starrte. Was hatte der denn gesehen?
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