Stüssi

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Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

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Wie sie unbemerkt nach Strassburg gelangen konnten, haben die beiden Frauen nie erzählt. Helen und Eva waren nach den Wochen ihrer Flucht froh, bei Mieder-Muller ein sicheres Dach über dem Kopf zu finden und für einmal ruhig zu schlafen. Am nächsten Morgen telefonierte Helen. Nach vielen vergeblichen Versuchen erreichte sie endlich einen Freund in Brüssel. Seine für allfällige Mithörer in nichtssagende Floskeln gekleidete Mitteilung lautete in Klartext übersetzt: Jakob ist anscheinend von der Gestapo abgeholt worden; niemand weiss, wo er ist. Dein Jakobli ist wohl verloren.

Helen telefonierte auch mit der Schweiz. Sie war in der Schweiz geboren. Vor ihrer Heirat mit einem staatenlosen, ehemals polnischen Juden, hatte sie einen Schweizer Pass besessen. Eine für Helen untypische Angst blickt aus den Augen des verblassten Passfotos. Der Anwalt in Zürich riet ihr erneut, allein in die Schweiz zu kommen. Wenn sie erst einmal im Landesinneren wäre, sei sie als ehemalige Schweizerin einigermassen sicher, dann könne er ihr helfen; erst recht, wo der Gatte doch verschollen sei. Die Tochter könne sie sicher bald nachkommen lassen.

Am Nachmittag brachte Mieder-Muller Helen bis nahe an die Grenze bei Basel. Helen kehrte illegal in ihr Heimatland zurück. In ihre Heimat, welche sie wegen ihrer Heirat, als Abtrünnige und sogar als typisch jüdische Verräterin, betrachtete und ausstiess, ungeachtet der möglichen Todesfolgen. Helen kannte die Schleichwege der Landschaft nordwestlich der Stadt Basel aus ihrer Kindheit. Der illegale Grenzübertritt war endlich einfacher, als sie gedacht hatte. Aber sie traute sich nicht nach Hause zu ihren immer noch in Basel lebenden Eltern. Sie nahm den Zug und fuhr weiter nach Zürich, wo sie vor ihrer Heirat auch eine Zeit lang gewohnt hatte. Die israelitische Cultusgemeinde vermittelte sie zum Übernachten an die Familie Zawidow an der Mühlebachstrasse. Die Familie galt als fast kommunistisch, aber unerschrocken.

Helen setzte sofort alle Hebel in Bewegung für die Rettung ihrer Familie. Sie informierte sich über alle Möglichkeiten. Die Familie Zawidow hatte tatsächlich Kontakte zu Kommunisten und zu Schleppern mit Verbindungen nach Frankreich. Aber diese Leute überzeugten sie nicht.

Ihr langjähriger Schweizer Anwalt Hirsch Guggenheim riet ihr in ironisch gekünsteltem Quasi-Jiddisch: Helen, ihr darfen Dir zu nehmen einen richtigen Advokat. Geh zum Stüssi.

Na, hör mal, Zwi, Du bist mein Anwalt. Meinst Du, ich hätte mir keinen Richtigen ausgesucht?

Du weisst schon, was ich meine. In diesen Zeiten hat meine jüdische Wenigkeit kein Gewicht. Das war ein Witz, denn Hirsch Guggenheim war wohl der dickste Mensch in der jüdischen Gemeinde der Stadt, ein Zigarren rauchender witzelsüchtiger Koloss in feinstem Nadelstreifenanzug.

Die Kanzlei Stüssi und Partner war in der Altstadt von Zürich. Mit der Tram fuhr Helen zum Heimplatz. Am Kunsthaus vorbei gelangte sie zum Rösslibrunnen. Die Wasserstrahlen tropften wie metallisches Geknatter auf das Wasser und den Beckenrand. Ein plötzlicher Windstoss spritzte feine Gischt in ihren Nacken. Sie stand schon unter den massigen Vorderhufen der riesigen, mit harten Linien in groben weissen Stein gemeisselten, ein sich aufbäumendes Pferd darstellenden, Skulptur. Es war nur ein leichter Anstieg bis zur Kirchgasse, aber Helen musste stehenbleiben und Atemholen. An der gegenüberliegenden Fassade prangte ein helvetisch heroisches Fresko. Links dahinter zeigte die majestätisch wehende, grosse Hakenkreuzfahne, wo sich das deutsche Konsulat befand.

Vom Grossmünster tönte eine erste Glocke hell herüber; dumpf schlugen sofort auch die anderen Kirchenuhren der Altstadt: neun Uhr. Die schreckliche Fahne begann in einer neuen Böe zu knattern. Helen gab sich einen Ruck. Sie passierte die kleine Anhöhe der Kirchgasse, ohne zum Reichsadler-Emblem hochzublicken. Durch die Enge der Häuser leuchtete der blaue Himmel und gleissten weisse, rasch ziehende Schäfchenwolken. Schon wenige Meter weiter, wo das Kopfsteinpflaster der Gasse steiler zum Fluss abfällt, befand sich die Anwaltskanzlei Stüssi.

Stüssi bat seine neue Klientin mit gepflegter Geste in das Besprechungszimmer. An der mit teurem Holz halbhoch verkleideten Zimmerwand hingen alte Stiche mit früheren Ansichten der Stadt, Ölgemälde mit ähnlichen Sujets und Portraits von längst verstorbenen Honoratioren. Stüssis Familie hatte in den letzten Jahrhunderten eine ganze Reihe von Stadtpräsidenten gestellt. Durch die mittelalterlichen Butzenscheiben der Fenster drang gedämpftes Licht aber kein Laut. Allfälliger Lärm wäre auch von den dicken Teppichen sofort verschluckt worden.

Bevor sie zu den Vermögensangelegenheiten kommen könnten, habe er eine erfreuliche Mitteilung. Er zeigte ihr das Schreiben des Regierungsrates des Kantons Zürich, welches auf Stüssis Eingabe vom Soundsovielten bezugnehmend der Rekurrentin Helen Margoler, geborenen Goldstein, mitteilte, dass ihr gnadenhalber gestattet wird, in der Schweiz zu bleiben.

Der Nachzug der Tochter Eva könne vorläufig nicht gestattet werden, da die Rekurrentin erstens keine rechtsgenügenden Nachweise ihrer Mutterschaft habe beibringen können und zweitens nicht bereit oder in der Lage sei, den gegenwärtigen Aufenthaltsort ihrer Tochter anzugeben. Für eine Wiedererteilung des Schweizer Bürgerrechts sei dieser Erlass in keiner Art ein Präjudiz. Fast als Trost oder freundliche Geste erwähnt der Regierungsrat zudem, dass einer Wiedererteilung des Schweizer Bürgerrechts grundsätzlich nur nach einer Scheidung oder im Falle des nachgewiesenen Todes des Gatten und unter Verzicht auf andere Bürgerrechte entsprochen werden könnte. Sollte der Gatte verschollen bleiben, könne über die Wiedererteilung des Schweizer Bürgerrechts nach Massgabe der eidgenössischen Instanzen entschieden werden.

Gnadenhalber durfte sie bleiben und an dem Wort kaute die Familie noch lange mit bitterer Galle. Wie es um ihre Tochter stand, war unsicher. Und dass ihr Jakobli doch noch am Leben war, konnte Helen nicht wissen. Dass er sich sein Leben in Verstecken in Brüssel durch die ganzen Kriegsjahre hindurch würde mit seinem Zahnarztgold erkaufen können, konnte Jakob Margoler noch nicht einmal selbst erwarten.

Eva musste fast bis zum Ende des Kriegs bei Jean Mieder-Muller alias Hans Müller bleiben. Wenn irgend jemand in das abgelegene Haus kam, versteckte sich Eva im Schrank. Am schlimmsten wurde es, als die Alliierten schon in der Normandie gelandet waren. Hans Müller hatte immer mit allen Arten von Menschen Geschäfte getrieben. Im Krieg verhökerte er nicht nur Wäsche für Damen. In den Scheunen und Verstecken in der Nähe seines Hauses lagerten verschiedenartige Schätze. Er spielte nicht nur mit den Nazis, sondern auch mit Leuten aus dem Umfeld der Résistance. An manchen Abenden zechte und pokerte er in gefährlich gemischten Runden. Sein Haus war exponiert und doch von beiden Seiten geschützt. Muller-Müller wusste mit wem zu geschäften und mit wem wie zu spielen.

Die Nazibonzen flohen schon aus Paris. Hans Müllers Gäste waren schon ziemlich betrunken. Ausnahmsweise hatte er an diesem Abend viel verloren. Er wollte den Einsatz noch einmal erhöhen: Ich habe da einen ganz besonders wertvollen Preis. Tous sur la table! Alles auf einmal!

Er wankte zum Schrank im Nebenzimmer und hatte nicht bemerkt, dass ihm einer der Saufkumpane gefolgt war. Der aber sah Eva zwischen der Damenwäsche verborgen im Schrank stehen. Hans Müller setzte tatsächlich Eva als Preis. Sie musste sich auf den Tisch stellen. Die Trophäe, der reizende Siegerpokal, musste sichtbar ausgestellt sein vor dem alles entscheidenden Spiel. Müller gewann alles. Er strich seine Verluste wieder ein, aber Eva musste fortan die Männerrunde in reizvoller Wäsche drapiert bedienen. Rot gepunktete weisse Höschen wurden als geilster Auftritt applaudiert. Niemand verriet die strafbare Rassenschande mit der kleinen Jüdin Pünktchen.

Insgesamt fast drei Jahre lang war Eva Pünktchen Hans Müllers Schrankpuppe.  

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