Trommelpeter

——————————————————————————————————-

Der kleine Schweizer Juhude, Jzchak Harmeschi 2025

Copyright ©, jede Benutzung bedarf der Zustimmung des Autors
——————————————————————————————————-

Die Marktgasse führt vom Rathaus der Stadt hinauf zu einem Platz, auf dem von alters her ein vierkammeriger Brunnen mit einer zentralen farbigen Säule steht. Zweimal zwei Zierfiguren des Kapitels blicken in alle vier Richtungen. Sie tragen ein Podest auf der Säule. Das Podest war damals noch leer. Heute steht ein farbiger Krieger darauf.

Der Einäuger lebte mit zwei Affen. Sie hiessen Gugus und Dada, genau so wie das erste Spiel, welches Säuglinge die Welt ihres Gegenübers entdecken lässt. Gugus war ein Guckaus, scheinbar mutiger und neugieriger als Dada. Angeberisch auffällig erkundete er die Umgebung. Ein kleiner Protz in rotem Wams schritt da den Ast herunter. Vorsichtig blickte er schnell nach links und rechts und grinste kreischend, wenn ihn die Menschen bemerkten. Wenn er aber sein Ziel unter Belustigung seines Publikums erreicht hatte, war Dada unbemerkt schon lange da. Genüsslich knabberte der an seiner Nuss. Dada machte einen Salto und Gugus einen Purtzelbaum-Überschlag. Dada verbeugte sich vor dem Publikum und Gugus tat es ihm bei der zweiten Verbeugung nach.

Der Einäuger war ein zierlicher Mann, dunkelhäutig mit schwarzen struppigen Locken. Ein Klappe bedeckte sein fehlendes rechtes Auge. Sein offen strahlendes einziges Auge erreichte aber jeden, der hineinschauen konnte. Er liess sich von Gugus bestehlen, aber Dada brachte ihm das Diebesgut zurück. Der Mann steckte einem kleinen Mädchen eine farbige Stoffblume ins Haar. Die Blume fiel zu Boden und Gugus schnappte sie sich. Auf Zuruf seines Meisters forderte Dada von Gugus die Blume sofort zurück, und das Mädchen erhielt sie doch noch. Die Kinder und Frauen reichten den Affen kleine Geschenke, ein Stück Brot oder Apfel, und ein Mann zahlte sogar einen kleinen Batzen für zwei farbige Blumen. Die Tiere brachten die Gaben ihrem Herrn, der sie mit ihnen teilte. Gugus sprang mit zwei drei grossen Sätzen auf den Brunnenrand, eine Wasserröhre und aufs leere Podest der Brunnensäule und kaute an seiner Portion. Dada sass auf der Schulter des Mannes, öffnete vorsichtig dessen Augenklappe und tupfte mit den Fingern Schweiss oder Tränen weg, die er in den Mund steckte.

Da kam der Bürgermeister Rudolf Brun wegen irgendeiner Sache fuchsteufels wild wütend mit seinen Leuten vom Ratshaus her. Schon von weitem hörte man sein Fluchen. Er beugte sich zum einäugigen Mann vor dem Brunnen und streckte seine Lederhandschuhhand aus, als wollte er dem Bettler etwas schenken. Hatte dieser die Bosheit nicht kommen sehen? Brun packte den Mann und riss ihn vom Boden. Ein Goldstücklein kullerte auf die Pflastersteine. Seht her, ein Dieb, ein Mohr, ein Muselmane, Ketzer und Leugner unseres Heilandes Jesus. Brun hob mit der anderen Hand den Gulden vom Boden und hielt ihn in die Höhe. Das ist das Beweisstück. Dada packte den Hut, welcher dem Bürgermeister im Tumult zu Boden gefallen war. Er setzte ihn sich auf den Kopf, hockte auf die Brunnenfassung und stierte Brun direkt in die Augen. Dieser machte einen Schritt auf den Affen zu. Dada blickte blitzschnell auf einen Punkt über dem kahlen Haupt des Regenten, als wäre dort etwas Bedrohliches. Genau dorthin sprang das Biest und stiess sich mit perfekt berechneter Wucht vom Kahlkopf höher hinauf und kreischte wütend vom Säulenpodest herab. Bruns Knechte konnten die Affen nicht fangen, den armen Mann aber liess er hinter Gitter werfen und versprach, am nächsten Morgen zu richten.

Die Affen konnten mühelos durch die breiten Gitterstäbe. Sie brachten ihrem Meister zu Essen. Kinder und einige Frauen zogen laut klagend vom Käfig des Affenmannes zum Haus des Bürgermeisters. Dort riefen sie lange und baten um Gnade. Brun war ein böser Mensch, aber schlau genug, zu merken, wenn er einen Fehler begangen hatte. Noch vor Einbruch der Dunkelheit liess er den Affenmann frei. Der Büttel brachte ihn zum Rennwegtor und trat ihn so heftig, dass er nur hinkend aus der Stadt kam. Renn’ weg, solange Du noch kannst, schrie er ihm und seinen Affen höhnisch nach. Hier regiert der Brun!

Hoch über den Üetliberg zogen von Südwesten schnelle Wolken. Das letzte Gewitter des Sommers begann sich schon zusammenzubrauen. Verenalin und der Kleine standen beim Brunnen. Sie wussten nicht, welche Figur auf dem Podest gestanden hatte, bevor sie der Diktator der Stadt entfernen liess. Das Podest war leer. Sie betrachteten die Kapitelfiguren, zweimal dieselbe Frau und zweimal derselbe Mann. Die Frau schaut einmal nach Osten und einmal nach Westen, der Mann nach Süden und auf der anderen Seite des Kapitels nach Norden. Mit ausgebreiteten Armen und spitzen Brüsten unter ihrem dünnen Kleid richtet sich ihr Blick den See hinauf bis über die fernen Berge nach Osten, und den Fluss nach Westen hinunter bis zum Ozean. Nichts würde sie aufhalten. Der bärtige Mann sieht so aus, als würde er sich das, was er im Kopf hat, nie nehmen lassen. Man müsste ihm den Kopf abschneiden und bekäme seine Gedanken trotzdem nicht. Den beiden war egal, wer immer auf das Podest gestellt würde. Sie hatten ihren eigenen Blick auf die Welt.

Die Glocken der Stadtkirchen dröhnten alle auf einmal los: Sechseläuten. Das Gewitter setzte plötzlich ein. Die beiden Kinder rannten auseinander und nach Hause. Als Verenalin patschnass nach Hause kam, schimpfte die Mutter. Sie sei doch ein schönes Kind und bald wohl die schönste Jungfer der Stadt, und sie sei eine von Meiss. Da werde bald geredet und getratscht. Sie sei wieder mit dem kleinen Juden gesehen worden. Verenalin müsse sich vorsehen. Sie hoffe nur der Vater höre nichts davon, von ihr als liebender Mutter erfahre er dies jedenfalls bestimmt nicht.

Wie der Kleine vom Kontaktverbot erfahren hatte, wusste Verenalin nie. Noch lange sandte er ihr geheime Botschaften, Zeichen auf dem Boden der Gasse, und einmal ein Schatzbrieflein, ob welchem sie heftig erschrak. Mit einem kleinen Spiegelglas beleuchtete er manchmal die Kapitelfiguren der Brunnensäule. Als alle Juden schon vor vielen Jahren aus der Stadt verschwunden waren, und sie den Kleinen nie mehr sah, stand tatsächlich eine lebensgrosse Statue Rudolf Bruns über dem Brunnen. Aber manchmal spiegelte sich die Sonne in irgend einer Fensterscheibe der Häuser um den Hof genau so, dass die das Podest tragende Frau oder der Mann angestrahlt wurden.

Das Haus war siebenhundert Jahre alt. In den Ritzen oder wo der Verputz bröckelte, konnte man die grossen Quadersteine der dicken Mauern sehen. Die hölzern verkleideten Einbrüche für die Fenster waren über einen Meter tief. Der Kleine konnte sich der ganzen Länge nach auf das Fensterbrett legen. Seine Zehen überragten den zimmerseitigen Rand nicht mehr, wenn er so weit vorgerutscht war, dass er in die Tiefe und auf die Strasse vor dem Haus hinunterblicken konnte.

Wenn ihn sein Vater hielt, durfte er auf der Fensterbrüstung liegend bis auf den Pflasterboden der Gasse vor dem Haus hinunterblicken. Er sah die Menschen, welche mit ihren Schuhen heller oder dunkler klackend auf und ab gingen. Die hellsten Schrittgeräusche waren von der Frau auf den Stöckelschuhen: einige Schritte dahin, Warten; einige Schritte dorthin, Warten. Er kannte diesen Ton, auch ohne zu schauen. Wenn er auf dem Fensterbrett liegend den Kopf drehte, konnte er bis zu den nächsten Plätzen hinüberblicken. Zu beiden Seiten war die Gasse zwischen den Häusern eingeklemmt; aber vor seinem Haus weitete sie sich zu einem breiten Hof, der Stüssihofstatt. Hinter einem grossen Brunnen fällt der Platz in Richtung des Stadtflusses Limmat ab. Sauberes Trinkwasser plätschert in den steinernen Brunnentrog. Auf einer runden schmalen Säule steht eine farbig bemalte ritterliche Figur über der Mitte des Brunnens. Auf den Fotos sind heute die Farben leuchtend. Damals waren sie blass vor Staub und Schmutz. Die Stüssihofstatt war ein versiffter Hinterhof.

Der Brunnen stand auch in der Kälte der Nacht auf dem Platz. Dann grölten betrunkene Männer durch die Gassen. Das Echo ihrer blöden Gellen verstärkte sich an den hohen Fassaden des alten Hofes. Wenn die Zecher nicht verschwanden, vertrieb sie Fips mit seinem Blasrohr. Er knallte trockene Erbsen nach unten. Wenn die Knallerbsen nicht reichten oder nicht trafen, goss er kaltes Wasser in die Tiefe. Manche tiefschürfend-wankende Diskussion am Brunnen fand so ein lautstark fluchendes Ende. Manchmal hörte sein Vater die Säufer nicht. Dann konnte der Kleine nicht schlafen. Immer war da auch dieses Klacken: einige Schritte dahin, einige Schritte dorthin. Wenn die letzten lauten Stimmen verschwunden waren, verschwanden auch die Töne der Stöckelschuhe und nur das Plätschern des Brunnens wartete noch weiter mit dem Kleinen.

Der ganze vierkammerige, von Metallbändern eingefasste Steinbrunnen steht auf einer steinernen Bühne. Die schwarzen, geschmiedeten Fassungen der gerundeten Brunnentröge sind in jedem Viertel durch zwei Abstellstangen für die Wasserkessel mit dem in der Mitte aufragenden Sockel verbunden. Auf diesem steht eine farbige Säule und auf deren Podest ein mittelalterlicher Krieger.

Der Kleine konnte schon auf die Brunnenfassung klettern, auf die Stangen stehen und trinken. Aus vier steinernen Löwenmündern ragen in alle Richtungen überlange metallene Hälse; aus den Schnäbeln der Wasserhahnen-Köpfe fliesst das Wasser. Der Kleine hielt sich am stangenförmigen Hals. Die Augen des Zürichlöwen blickten den kleinen Wassertrinker an, ganz nahe und ganz kalt.

Schon vor vielen hundert Jahren haben die Menschen das Wasser aus diesem Brunnen getrunken, hatte sein Vater erklärt. Der Kleine bestätigte, ja, vor mehr als fünfhundert Jahren. Aus allen Häusern des Hofes kamen die Frauen und Kinder hier das Wasser holen. Nur die Juden durften hier kein Wasser holen. Der böse Brun hatte es verboten.

Sein Vater schimpfte dauernd über die Braunen, Haman, Hitler, Nazis, Stalin, Halsabschneider, Halunken, Verbrecher. Ja, aber er, der kleine Judenmann in seinen kurzen Hosen durfte jetzt hier stehen. Gischt nässte seine nackten Beine. Er durfte trinken und das Wasser verspritzen, zumindest wenn er niemanden nass machte. Wenn er seiner Ente den Schnabel auf die richtige Weise zuhielt, konnte er mit seinem Strahl weit in den Hof hinaus spritzen. Schon beim Hinaufklettern auf den Brunnenrand war der Kleine nass geworden, jetzt war er über und über nass.

Der Kleine trank direkt aus dem Wasserstrahl und schielte zur Steinfigur auf dem Brunnensockel. Ich weiss schon, Du bist der Brun, der Braune.

Wenn sie nachts beide nicht schlafen konnten und auf dem Fensterbrett lagen, schoss Vater seine Erbsen als Zielübung von oben herab auf das Ungeheuer in Menschen Gestalt. Manchmal zeigte sich aber doch noch ein Besoffener, der ein lohnenderes Objekt abgeben konnte.

Ja, auf dem Brunnen steht Rudolf Brun und nicht Rudolf Stüssi, wie viele meinen, weil der Hof heute Stüssihofstatt genannt wird. Der Wimpel an seinem langen Spiess trägt über dem blauweissen Zeichen der Stadt Zürich ein Schweizer Kreuz. Der Stüssi ist sicher nie mit einem Schweizer Kreuz auf der Fahne ins Feld gegangen. Stüssi hat gegen die Schwyzer Krieg geführt und nicht deren Wappen getragen.

Auf dem Brunnen steht Rudolf Brun. Brun hat sich mit den Schwyzern verbündet und gegen die Habsburger gekämpft. Derselbe Brun hat die Juden in Käfige gesperrt. Familienweise liess er sie vor dem Rathaus im Fluss ersäufen, zum Gaudi und Spott der ganzen Stadt. Brun hat die Häuser der Juden höchst persönlich gestohlen, alles geraubt und sich unter den Nagel gerissen. Brun hat sich in ihren Betten mit allen seinen Weibern und Huren breit gemacht. Die ganze Stadt hat er sich untertan gemacht, Rudolph Brun, Diktator von Zürich.

Denn der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht, sang der Vater. Am schlimmsten ist es, wenn diese Mörder sich nicht mehr zu verstecken brauchen, sondern selbst bestimmen, was Recht und Ordnung sein sollen. Solche Geschichten erzählte Fips seinem kleinen Sohn.

Rudolf Brun verbündete sich mit den Schwyzern und den anderen Waldstätten, die Gegner des Diktators in der Stadt aber verbündeten sich mit den Habsburgern. Ihr Mordkomplott scheiterte, weil die Metzger ihre Stadt und seinen Regenten Rudolf Brun vor diesen Gegnern retteten. Zum Dank schenkte er der Metzgerzunft zum Widder einen Isengrind. Er erlaubte ihnen, immer im Frühjahr einen fröhlichen Festumzug durch die Stadt durchzuführen, einen Saubannerzug. Mit der eisernen Halblöwenfigur auf einer Stange trieben die Metzger im Frühjahr eine Sau, eine Judensau durch die Stadt, zum Zeichen des Sieges über die Pest, die Juden und alle Feinde Zürichs. Der Züri-Leu besiegt die Juden und alle Feinde! Und die grossen Glocken aller Kirchen dröhnen über die Stadt.

Sechseläuten, so heisst das Fest heute. Die Pauken der Zunftmusiken krachen auf dem Zwerchfell, wenn sie durch die Gassen der Altstadt, am Limmatquai und durch die Bahnhofstrasse ziehen. Pum, Pum, Pum, dröhnt jeder Schlag.

Jeden Schlag spürte er auf seinen Rippen, dem Kleinen wurde übel. Aber am Sechseläuten erhielt er auch eine Bratwurst und schon war die Übelkeit weg.

Das Treppenhaus an der Stüssihofstatt Nummer zehn führte durch verwinkelte Gänge. Von der Treppe aus, kroch er in die tiefen Mauerluken und guckte hinab in die geheimnisvollen Ehgässchen. Hölzerne Aborthäuschen hingen an den hohen Mauern wie riesige Warzen. Wasserspülungen rauschten durch schwarze Röhren in die unterirdische Kanalisation. Zwischen den abgestellten Fahrrädern und Handwagen vermutete er graue Lindwürmer. Der Kleine glaubte nur halbwegs an die Existenz von Drachen. Sie hatten sich noch jedes Mal schon in ihre Löcher verkrochen, wenn sein Blick sie erhaschen wollte. Vielleicht waren da doch nur streitende Katzen.

Einmal sah er, wie der dürre Mann vom Nachbarhaus eine Katze trat, als die sich nicht rasch genug hinter den Fahrrädern und Handwagen verkriechen konnte. Die Katze jaulte. Der Mann wühlte in den Handwagen herum. Er suchte etwas, das er nicht fand und gab dem Wagen einen wütenden Tritt. Man munkelte, dieser Mann sei ein Nazi. Über der Stirn trug er eine Haartolle und sein Schnauzbart spriesste unter einer schiefen Nase.

Die Ehgässchen vereinigten sich vor den Hinterhäusern zu einem düsteren, kleinen Innenhof. Schwere Eisenplatten bedeckten auf einer Seite ein grosses Loch. Darunter führten steile Treppenabgänge zu mehrstöckigen Kellergewölben. Die Arbeiter wurden wütend, wenn er sich dem offenen Loch näherte, in das sie hinabstiegen. Es war gefährlich. Stickige Dünste rochen nach Wein, Moder und dicken Mauern. Was dort hinter den grossen Fässern lagerte, durfte niemand wissen. Nur schwache nackte Birnen spendeten Licht, manchmal war eine kaputt. Ratten huschten aus verborgenen Winkeln in noch tiefere Löcher davon.

Auch die Treppenhäuser waren dunkel. Der dunkle Mann aus dem Nachbarhaus war in der Nacht zu Tode gestürzt. Der Kleine hatte es nicht gesehen. Aber am Morgen lag der Tote unter einer Blache im Innenhof, vor der Türe des Nachbarhauses. Er kannte seine unter der Abdeckung hervorlugenden halbhohen Schuhe. Ein grosser Mann befragte die Leute. Das war ein Polizist, auch wenn er keine Uniform trug, sondern einen beigen Regenmantel. Sein Kollege trug fast denselben Mantel, aber dieser sagte nichts, sondern guckte nur herum. Die Nachbarn kannten den Grund für den Todessturz nicht. Vielleicht wollten sie es auch nur nicht sagen.

Düster war es auch im hohen Torbogen. Der Vater sagte, dass früher Fuhrwerke in den Hinterhof gefahren seien. Die Durchfahrt war auf der Strassenseite mit einem grossen Tor aus massivem Holz und Eisen verschlossen. Sogar der Türdurchlass, die Haustüre, war zu schwer, der Kleine konnte sie nicht selbst öffnen. In der abgeschlossenen Hauseinfahrt lag feiner Gestank von Stroh und Tierpisse. In einer verborgenen Nische führte eine unscheinbare Seitentüre zwei Stufen hinab in die Zoohandlung von Frau Neumann. Sie war nicht so schwer wie die Haustüre und war auch nie verschlossen.

Frau Neumann hielt Tiere aller Arten und aus der ganzen Welt. Da waren Spinnen und Skorpione, Schlangen und Echsen, Fische in Aquarien, kleine, grosse, farbige und langweilige Vögel, Papageien, von welchen aber nur der Pipo sprechen konnte. Frau Neumann verkaufte auch kleine Säugetiere, wie Meerschweinchen, Rennmäuse, Lemuren und Kapuzineraffen, und einige Tage lang stand ein Käfig mit einem Löwenbaby in ihrem Laden. Ausser Pipo und dem Hund waren alle Tiere eingesperrt. Am interessantesten waren das Löwenbaby und der unverkäufliche Schimpanse Pongo.

Der Affe spuckte, wenn man ihm zu nahekam. Aber das Löwenbaby war ganz lieb. Der Kleine durfte es streicheln und einmal sogar die Milchflasche halten. Das war noch viel schöner als zuhause mit seiner Puppe. Frau Neumann zog mit spitzem feingefälteltem Mund an ihrem Glimmstängel, kniff die Augen zusammen und hielt den Kopf schräg, um dem Rauch auszuweichen. Egal, was sie gerade machte, ob sie telefonierte oder quittierte oder etwas herumtrug, Frau Neumann behielt immer eine Zigarette im Mund, ausser wenn sie Pongo aus dem Käfig nahm. Der wollte diese nämlich stehlen. Pongo war der grösste Affe. Er war immer traurig, aber Alfred sagte, Pongo sei ein böses, gefährliches Tier.

Alfred arbeitete bei Frau Neumann. Er reinigte die Käfige und fütterte die Tiere. Alfred war schief, seine linke Körperhälfte war kleiner. Er hinkte beim Gehen mit den Beinen und dem ganzen gekrümmten Körper hin und her aber auch sein Gesicht hinkte. Er war nämlich aus zwei verschieden grossen Zwillingshälften zusammengesetzt worden. Alfred fand es lustig, dem Kleinen Angst zu machen. Er drohte, er stecke ihn in den Käfig zu Pongo, zu den Schlangen oder zu den Spinnen. Er verscheuchte den Jungen mit seinem Besen. Aber einmal gab er ihm eine halbe Banane, welche Pongo nicht brauchte. Alfred konnte sich nicht so viele Zigaretten kaufen, wie Frau Neumann. Sie schenkte ihm manchmal eine. Auch Pongo durfte manchmal einen Zug von der Zigarette von Frau Neumann nehmen. Aber der Kleine durfte das nicht. Alfred rauchte manchmal Hanf oder sogar Stängel von Nielen, das kostete nichts. In der Zoohandlung stank es zudem süss nach Futter und beissend nach Amoniak und Pisse. Dauernd war da ein grosses Geschrei der Tiere. Am lautesten waren weder der Papagei Pipo noch Pongo der Affe, sondern Frau Neumann. Ihre krächzende Stimme übertönte alles, wenn sie ins Telefon schrie oder aus dem Lager rief.

Weil er die schwere Haustüre im Torbogen nicht selbst öffnen konnte, musste der Kleine natürlich immer durch die Zoohandlung.

Über dem Brunnen vor dem Haus steht der stolze Krieger noch heute. Helm und Brustpanzer glänzen, der Kinnbart ist voraus gereckt und sein Blick richtet sich fest auf einen Punkt irgendwo über der Zoohandlung. Sein Blick geht von seinem Sockel irgendwohin. Vielleicht sucht der Brun immer noch nach versteckten Juden. Aber vielleicht traut sich der feige Bösewicht nur nicht hinunterzuschauen, weil dort vier Löwen das Wasser durch Totentrompetenköpfe in den Brunnen blasen. Der Hund zwischen den Beinen des schurkischen Bürgermeisters hat offensichtlich Angst. Der Vater sagt, dass wenn ein Hund Angst hat, meist auch sein Herrchen Angst hat, und Fips versteht etwas von Hunden. Der Brun kann von seinem Sockel herab nicht sehen, dass die Löwen gar nicht so fürchterlich ausschauen, eher possierlich, und aus ihren schwarzgrünen Rohren schiesst sauberes Wasser in den vierteiligen steinernen Trog.

Der Kleine trank direkt aus dem Wasserstrahl und schielte unerschrocken hoch zum Brun. Der blöde Brun interessierte ihn auch gar nicht mehr. Lieber sass er nämlich neuerdings in der Sonne auf dem gemauerten Absatz vor dem Schaufenster der Zoohandlung Neumann. Er trug kurze Hosen und hatte ein Büchlein auf seine nackten Knie gelegt: Der Trommelpeter.

Er las die in grossen Buchstaben gesetzte und mit wenigen Zeichnungen illustrierte Geschichte. Er blinzelte gegen die Sonne, deren Strahlen hart zwischen die Häuser fielen und blickte suchend auf. Nebenan, vor Elianes Schaufenster, war ein Mann stehengeblieben und betrachtete die ausgestellte Reizwäsche.

He, Sie! Was heisst das? fragte der Kleine und deutete auf einen noch unbekannten Buchstaben in seinem Büchlein.

Das ist aber ein schönes Büchlein: Kannst Du denn schon lesen?

Ja ja, aber was heisst jetzt das da?

Das ist ein W, wie Wirbel oder Wasser. Siehst Du den Brunnen auf dem Bild da, das ist so einer wie der hier in Deinem Büchlein.

Fips hat gesagt, dass der Mann auf dem Brunnen alle Juden tötet.

Soso!

Und was heisst das?

Das ist ein V, wie Vogel oder Vulkan.

Viel Volk … Was bedeutet denn Volk?

Viele Leute, Menschen.

Viele Leute wollte… Nein, viel Volk wollte den Umzug der Musikanten sehen.

Er buchstabierte sich langsam durch das ganze Buch. Nach wenigen Tagen brauchte er ein neues Buch. Die Buchhandlung seines Vaters war nicht weit weg. Dort duftete es nach Bücherstaub. Die meisten Bücher waren alt und hiessen darum antiquarisch. Die neuen Bücher durfte der Kleine nicht anfassen. Die neuen Bücher standen nur in den vordersten Regalen des Ladens. Das gute Buch: Auf dem Schaufenster und der Glasscheibe der Eingangstüre des Bücherladens prangte das Signet, eine grosse Nase und Auge schmökern in einem Buch, welches von einer kreisförmig aus dem Hinterhaupt der Augen-Nasen-Figur ragenden Hand gehalten wird.

Der Kleine sass auf dem Drehstuhl hinter dem Verkaufspult und beobachtete die Kunden seines Vaters. Er klimperte mit den Augenwimpern, wie die Dame, die soeben die klingelnde Ladentüre hinter sich schloss. Er zeigte die Schaufelzähne wie der Mann mit Überbiss, der einen teuren Fotoband mit Frauenbildern gekauft hatte. Diese Bücher standen auf dem Sondergestell im halbgeheimen Kämmerchen hinter der Theke. Wie Kinderpuppen hatten die Frauen in diesen Kunstbänden zwischen den Beinen nichts; da waren keine Muschi und keine Haare zu sehen. Fips sagte die Fotos seien retuschiert. Das war ein komisches Wort, fast so komisch wie der dicke schnaubende Mann mit Schirmmütze, der jetzt den Laden betrat. Fips und der Kleine grimmassierten um die Wette.

Aber dann kam einer, mit zackigem Schritt. Die Eingangstüre knallte. Jetzt schnaubte Fips, als er die Bücher sah, welche der Mann umständlich auf die Theke legte. Wortlos kaufte er dem steif stehenden, unruhig blickenden Mann den kleinen Stapel Bücher ab. Dann nahm er den eisernen Haken in die Hand, mit welchem er abends das Gitter vor dem Bücherladen zu schliessen pflegte, und erklärte dem nun regungslos mit aufgerissenen Augen dastehenden Mann, dass er einen solchen Nazi nie mehr zu erblicken wünsche. Der Mann verliess den Bücherladen Das Gute Buch fluchtartig und Fips warf die Bücher wütend in das grosse Abfallloch im Keller des Ladens. Ein Buch traf das Loch nicht und fiel auf den Boden. Der Kleine las den Titel: Mein Kampf.

So oft er wollte, durfte der Kleine ein gelesenes Buch zurückbringen und gegen ein anderes antiquarisches Buch eintauschen. Er nahm ein Buch mit Geschichten über Tiere in Afrika. Daraus wollte er Pongo vorlesen. Das Buch vom Trommelpeter aber durfte er als Ausnahme behalten, denn das war sein erstes Buch, das er ohne Hilfe gelesen hatte.

In der Nacht hörte er den Schimpansen laut rufen, als er aufs Häuschen musste. Der Abort war im Treppenhaus. Es war schon eine Mutprobe allein auf die Toilette zu gehen, aber der Kleine war ja gar nicht mehr so klein. Pongo schrie, er hatte schreckliche Angst. Barfuss täppelte der Kleine im Nachthemd vier Stockwerke tief nach unten. Seine nackten Füsse suchten im Dunkeln die Stufen. Tatsächlich war die Türe zur Zoohandlung nicht abgeschlossen. Er schlich durch die unbeleuchtete Zoohandlung. Pongo stand im Schaufenster, schrie und polterte an die Scheibe. Draussen auf der Gasse standen zwei noch viel grössere Affen. Da merkte er, dass es zwei Betrunkene waren, welche Pongo mit blöden Faxen zu ärgern suchten. Pongo sprang vom Podest des Schaufensters zurück auf den Boden des Ladens, raste wild um den vorderen Block aus Käfigen und Aquarien. Als er um die Ecke mit den Spinnen kam, hielt er sich an einem Terrarium, welches zu Boden fiel und klirrend zerbrach. Der Kleine schrie nun auch und stand steif vor der Spinne in den Glasscherben. Pongo polterte wieder ans Schaufenster, versuchte dann die Türe nach draussen zu öffnen und kam erneut wild um einen Stapel Käfige gerast und stoppte nun ebenfalls. Er sah, dass der Kleine weinte, aber vielleicht erstarrte er ja nur vor der Spinne.

Seine Kinderfrau sagte, dass er alles nur geträumt hätte. Die dürre Frau sass in der nächtlich kalten Küche. Die Kacheln des Bodens und der Wände waren feucht angelaufen. Sie hielt ihn auf ihren Knien. Obwohl sie doch so mager war, spürte er ihre Weichheit. Eine üble Karies hatte ihr nur wenig Zähne gelassen, aber das konnte die Wärme ihres Lachens nicht mindern. Er fühlte ihre welken Brüste unter dem dünnen Leibchen und sah den wild verwuschelten struppigen Pagenschnitt der angegrautem schwarzen Haare. Sie zündete sich eine Zigarette an, und wich dem in die Augen ziehenden Rauch aus, wie Frau Neumann. Der Kleine sprang von ihren Knien. Sie war eben erst nach Hause gekommen. Auf der Toilette roch er noch, dass sie erbrochen hatte. Als er von der Toilette kam, gab sie ihm ein Glas lauwarme Milch mit Honig. Auch sie trank von der obersüssen Milch aus einem roten Caquelon mit runden weißen Tupfen.

Die Kinderfrauen kamen und gingen. Eine war Kunstturmspringerin, sie heiratete einen Metzger. Eine andere errötete, kaum dass man sie bei irgendeinem Gedanken ertappte. Eine weitere ergriff ihren Geigenkasten und Koffer, aus dem noch ein Stoffzipfel herauslugte, und ergriff die Flucht aus der Wohnung seines Vaters.

→ zum Weiterlesen