Selma hiess Jakow Perlmanns erste Frau. Selma, und alle seine Kinder ausser dem kleinen Hirsch wurden im ersten Pogrom in Jekaterinoslaw auf grauenhafte Art getötet. Diese grosse Stadt im Osten der Ukraine hiess zu Stalins Zeiten Dnjepropetrowsk, heute einfach Dnipro. Auch nach dem ersten Pogrom wurden in Jekaterinoslaw immer wieder Juden erschlagen, erdrosselt, erschossen, abgestochen, verbrannt und auf die schlimmsten Arten umgebracht, die man sich ausdenken kann.
In Jekaterinoslaw hatte Jakow von seinen Eltern ein grosses Haus geerbt. Dieses brannte schon, als er, viel zu spät, im Hinterhof seine beiden Pferde zur Flucht vor den Wagen spannen wollte. Er musste zusehen, wie aus dem offenen Schlafzimmerfenster im dritten Stock ein Bajonett mit einem daran aufgespiessten Säugling herausfuhr. Es war sein kleiner Benjamin, der, wie mit einer Mistgabel herausgeschaufelter Dreck, neben ihm und seinen anderen Kindern auf den Boden klatschte.
Jakow packte darum, ohne weiter zu zögern, das nächststehende Kind auf ein Pferd. Es war Hirsch. Da kamen sie schon durch die Hintertüre heraus gestürmt. Er kriegte keines seiner anderen Kinder mehr zu fassen und stürmte mit seinen Pferden und Hirsch davon. Einer schoss hinter ihnen her. Er hörte die Schreie. Er wusste bei jedem einzelnen Schrei, wer da eben so fürchterlich schrie. Und wie sie alle schrien; er konnte es sein Lebtag nie vergessen.
Er ritt einfach weiter mit beiden Pferden, dem kleinen Hirsch vor sich und den wichtigsten Papieren und Büchern in den Satteltaschen. Wenn er nicht wenigstens «sein Herschele fein» hätte retten können, dann, ja dann war nicht weiter zu denken, was wäre, und wer das noch wissen könnte.
«Boruch Ha Schem, gesegnet sei der Name, wenn er seien mehr als ein Wort», rief Jakow Perlmann häufig im Zorn. Seinen furchterregenden Segensspruch beendete er mit dem Nachsatz: «Du stehst vor Gott aber er nicht vor Dir! Hahaha!»
Jakow konnte seiner zweiten Frau Rivka, die er im polnischen Lodz heiratete, nie erklären, warum er in der Nacht oft schreiend erwachte. Sie erschrak ob seinen schrecklichen Sprüchen und Gebeten. Rivka liebte ihren grossen, nicht mehr jungen, drahtigen, fast dürren, manchmal jähzornigen, aber nie tätlichen und vor allem gescheiten und fleissigen Mann. Rivka war noch keine zwanzig Jahre alt, als sie mit ihren zwei ersten Töchtern Eva und Malka, mit Jakow und seinem Sohn Hirsch in unsere Stadt kam.
Das Einhalten der Schabbat-Riten war ihr wichtig aber noch wichtiger war für sie, zusammen mit ihren Kindern unsere Sprache zu lernen. Rivka hatte gemeint, dass in der Schweiz überall Französisch gesprochen werde. Französisch konnte sie viel besser als Deutsch. Schon nach einem Jahr konnte man kaum mehr hören, dass ihre Muttersprachen Mameloschn, das heisst Jiddisch, und Polnisch waren. Die Perlmänner und Frauen hätten sich auch niemals als Juden verkleidet. Man war jüdisch, aber man zeigte es nicht, genauso wie man seinen Reichtum auch nicht zur Schau stellen soll. Zuhause wurde immer weniger Jidisch gesprochen aber am Samstagmorgen gingen Perlmanns zusammen über die Sihlbrücke in die Stadt und besuchten die schöne neue Synagoge an der Löwenstrasse.
Jakow wurde zum Jakobli. Aber er verlor sein Kauderwelsch beim Sprechen nie, obwohl er perfekt deutsch, englisch, russisch und französisch korrespondieren konnte. Jakob Perlmann reiste viel und in ganz Europa herum. Überall kannte er seine Leute. Sein Geschäft war es, die Leute zu kennen und zu wissen, wo was wieviel kostet. Wo konnte man kaufen und wo verkaufen. Auf endlosen Listen führte er Adressen, Transportmöglichkeiten, Preise, Lieferfristen, Korrespondenzsprachen und Besonderheiten auf. Unermüdlich ergänzte und korrigierte er sie immer wieder aufs Neue. Rivka und bald auch Hirsch und später seine jüngeren Halbschwestern halfen bei dieser unendlichen Arbeit.