Zwillingskegel

Die Schererin hatte Zwillinge geboren: Mathilde und Hanspeter. Sie hatte sich aber den falschen Mann ausgesucht. Zumindest war dieser Mann nach Ansicht ihres Vaters der falsche Mann. Der alte Scherer jagte seine Tochter mit ihren zwei Kegeln aus dem herrschaftlichen Haus am Sonnenberg.

«Raus!»

«Aber Vater»

«Raus habe ich gesagt»

Der alte Scherer war kein böser Mann. Mit ihren unehelichen Zwillingskegeln konnte Ida Scherer nun mal nicht in der Villa am Sonnenberg bleiben. Es war einfach unmöglich. So liess er die Tochter und die beiden kleinen Enkel in sein Haus am Mühlesteg verfrachten.

Am Mühlesteg Nummer eins wohnten keine Männer, ausser man wollte Frau Ferraras Tino schon einen Mann nennen. Tino war Ausläufer für die Bäckerei Bärtschi an der Marktgasse. Ja, Tino war eigentlich schon ein Mann. Auch Frau Beerlis Hilda im vierten Stock war schon gross und verrenkte sich den Kopf nach jedem heiratsfähigen Mann. Aber wohnen durften Männer am Mühlesteg eins nicht.

Das Haus eins am Mühlesteg war eng und verschachtelt gebaut. Auf sechs Stöcken wohnten viele Kinder mit ihren Müttern. Im hölzernen Treppenhaus vor dem Abtritthäuschen musste man oft warten bis es frei wurde. Ein Ort zum Träumen oder für geheime Sehnsüchte war dort nicht zu finden. Das ganze Haus war immer von fleissigen Geräuschen erfüllt. Die Frauen trafen sich in der gemeinsamen Waschküche oder beim Wäschehängen im Dachboden. Die Frauen im Haus des alten Scherers mussten zusammenarbeiten, sich organisieren, ob sie wollten oder nicht. In der Waschküche war die Mangel allein kaum zu drehen und viele Arbeiten im Haus gingen zu zweit oder zu viert einfach besser von der Hand. Kaum ein Ort, wo jemand allein sein konnte.

Die Frauen fragten nichts, jede wusste zu viel.

Das Haus des alten Scherers war schon Stadtgespräch, bevor Ida mit ihren beiden Kindern ins Haus am Mühlesteg eins einzog. Wer wohl der Vater aller dieser Rotznasen war? Ja, man hörte so allerlei. Die Stadt war inbezug auf Gerede ein Dorf. Die Gerüchte der Stadt kreisten um die Häuser im Fluss, wie Geier um das wohlig stinkende Aas und die gierigen Fantasien wurden durch Idas Umzug noch befeuert.

Der Familie Scherer gehörten nicht nur die Papierwerd und zwei Häuser am Mühlesteg, sondern noch mehr Liegenschaften, Land und Häuser. Auch das erste Haus auf der anderen Seite des gedeckten Brückchens dem alten Scherer. Die frühere Leimsiederei und einige, noch produzierende Fabriken gehörten ihm. Der dicke alte Sack mit Geld wie Heu, nannten ihn Übelwollende. Aber die meisten Zeitgenossen schätzten des alten Scherers geradlinige Tüchtigkeit, überlegte Grosszügigkeit, seinen rauen Charme und träfen Sprüche.

Er war ein stattlicher Herr, der alte Scherer, in seinem Gehrock und Zylinder imposant auf den Strassen der Stadt und auch zuhause stets elegant im Dreiteiler, mit Schmerbauch, Schnauzbart und teilweise noch dichtem Haupthaar, welches er sich zweimal pro Woche richten und über die gelichteten Stellen legen liess.

Alle Scherers waren ansehnliche Menschen und gross gewachsen, so auch die verstossene Tochter Ida. Das viel umworbene, behütete Fräulein Scherer vom Sonnenberg landete unverhofft am Mühlesteg eins, in der grossen Wohnung im ersten Stock. Die niedrige Holzdecke streifte ihren hohen Dutt. Sie musste sich fast bücken, um aus den Fenstern auf das trübe Treiben des Wassers im Stadtfluss zu blicken. Die Aussicht auf die Wolken hinter dem Horizont aus dunkelgrauen Häusern verbesserte sich auch nach Tagen nicht. Von den Zwillingstürmen des Grossmünsters war nur der linke sichtbar. Und natürlich regnete es und mindestens einer der kleinen Zwillinge schrie immer.

Nein, beide Kinder waren doch ihre liebsten Goldschätze!

Auch bevor Ida dämmerte, dass die Kinder der Frauen am Mühlesteg eins ihre Geschwister waren, oder hätten sein können, spielte sie keineswegs die vornehme Dame. Und so erhielt sie von Beginn weg die Hilfe der anderen Frauen, die sie mit zwei kleinen Säuglingen auch dringend brauchte. Alle Frauen konnten auch immer zu Ida kommen, wenn sie etwas brauchten.

Die Frauen am Mühlesteg eins waren vielleicht auch froh, dass der alte Scherer weniger oft selbst da war, um seine manchmal doch besonderen Ansprüche geltend zu machen.

Wenn Idas Vater, jetzt zum Mühlesteg herunterkam, kam er um seine beiden Enkel zu sehen. Bald sassen Mathildchen und Hanspeterchen auf je einem Knie des alten Scherers und der alte Scherer jauchzte vergnügt:

«Reite reit‘ mein Rösschen
zu Baden steht mein Schlösschen
zu Baden steht mein gülden’ Haus
es schauen drei Marien ‘raus.»

Oder er sang das Lied der Wasserwippe:
‚Gii-Gampfen
Wasser stampfen
Wasser ab den Röhren
Jetzt seid doch beide endlich still
wir wollen nichts mehr hören‘

Idas Mutter kam natürlich nie mit zum Mühlesteg eins. Dort hätte sie Menschen getroffen, Frauen und Kinder, die es in ihrer Welt einfach nicht gab.

«Die einzige Tochter lässt mich so im Stich», klagte sie, «und setzt uns solche zwei Bälger ins Haus!»

Sie konnte nicht von ihrem vornehmen Getue und Dünkel lassen, und so war es nur sie, die Ida recht eigentlich und wirklich verstiess.

Der alte Scherer zog mit seinen kleinen Enkeln bald stolz durch die Stadt als hätten sie jeden Tag Geburtstag. Er verwöhnte sie nach Strich und Faden und wollte ihnen alles schenken, auch Dinge, die sie noch gar nicht brauchen konnten.

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