Sucht

Sucht und Siechtum standen im Gegensatz zum Heil und Heiligen. Das Schlechte und Böse in den Wörtern Sucht, Seuche und Siechtum durchdringt noch heute die meisten Verwendungen. Aber auch beim Heil und Heiligen tritt die verzweifelte aggressive Gewalt, das Blut, Tod und Verderben aus den Ritzen der organisierten Hoffnung.

Bis vor 10‘000 Jahren war wohl kein Mensch je süchtig geworden. Sucht ist in unserer Biologie nicht vorgesehen. Erst durch andauernden Überfluss kann Sucht entstehen; unsere Biologie hat sich auf den Mangel eingestellt. Sucht ist in unserer Biologie angelegt, aber war in der realen Welt eines Wirbeltieres nicht möglich, bis der Mensch kam. Erst der moderne Mensch kann eine süchtige Situation schaffen und das Belohnungssystem korrumpieren. In der neolithischen Revolution, vor über 10‘000 Jahren, hat der Mensch erstmals Voraussetzungen für Süchte erreicht. Erstmals wurde Getreide domestiziert und in grösseren Mengen verfügbar. Schon damals mussten für den Bau der riesigen Tempelanlage in Göbekli Tepe in Südostanatolien viele Menschen nicht nur ernährt, sondern auch motiviert werden. Ob Götter dies allein schafften? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass rauschende Feste mit Bier das agrarische Zeitalter eröffnete. Vielleicht war das Brauen von Bier am Ende des Neolithikums für die Menschen zunächst wichtiger als das Backen von Brot.

Vielleicht ist Getreide auch nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern das erste Suchtmittel, welches den Menschen abhängig machen konnte.[1] Blicken uns aus den Steinfiguren nicht nur grimmige Götter an, sondern die ersten Süchtigen der Menschheit, mächtige versoffene Priester im Delirium tremens[2]? Vielleicht hat auch nicht der Mensch das Getreide domestiziert, sondern umgekehrt, hat das Getreide den Menschen in abhängige Knechtschaft genommen und zur Arbeit im Schweisse seines Antlitzes verdammt? Ist es das, was die Geschichte des Bauern Kain erzählt, der seinen erstgeborenen Bruder Abel aus Neid und Eifersucht erschlug.

Aus zuckerhaltigen Körnern und Früchten aller Art lernten Menschen in den vergangenen Jahrtausenden viele weitere alkoholische Getränke zu brauen: Bier, Wein und Beerenschnäpse. Mehr als nur gelegentliches exzessives Saufen war im alten Ägypten, Babylon oder China nur wenigen Menschen möglich; der alkoholkranke Säufer war eine Seltenheit und wurde erst in viel jüngerer Zeit ein Massenphänomen.

Agrarische Gesellschaften entdeckten allerdings auch andere Suchtmittel als Alkohol. In schweizerischen Pfahlbauten fanden Archäologen 6‘000 Jahre alte Spuren des Anbaus von Papaver sonniferum, dem Schlafmohn. Auch der Hanf, Cannabis sativa, wurde hierzulande schon seit Urzeiten angebaut.[3]

Coca und Tabak waren in den agrarischen Gesellschaften Amerikas schon viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäischen Kolonisatoren bekannt und verbreitet. Süchtiger Konsum entstand aber erst mit der intensiveren Bewirtschaftung dieser Pflanzen durch die Kolonisation.

Bis vor kurzer Zeit konnten nur wenige Menschen süchtig werden. Erstmals im 18. und 19. Jahrhundert wurde eine erhebliche Zahl von Menschen von Suchtmitteln abhängig. Erst in der industriellen Revolution wurden Massen von Industriearbeitern abhängig von täglichem Alkohol. Sklaven aus Afrika ermöglichten eine billige agrarische Massenproduktion: in Zentralamerika wurde Zuckerrohr angebaut, Rum war billig und enthielt viel Alkohol. Auch Übergewicht wurde erst damals, und zuerst nur für wenige Reiche zu einer tödlichen Krankheit; frühere Menschen starben an Unter- und fast nie durch Überernährung. Chemie und andere wissenschaftlich-technische Fortschritte produzierten seit 150 Jahren neue und wirksamere Suchtmittel. Aus Opium, mehr oder weniger synthetisch, werden Opioide wie Heroin und Morphium gewonnen. Aus der Coca-Pflanze wird Kokain und aus Tabakblättern Nikotin extrahiert.

Die heutige Vielfalt an Suchtmitteln ist ein Phänomen der allerneusten Zeit. Unser säugetierhaftes Belohnungssystem[4] wird im konsumistischen Zeitalter auf allen Kanälen bedient und korrumpiert. Die industrielle Produktion von Gütern und Dienstleistungen bedient heute alle Bedürfnisse, Ziele, für welche unsere Vorfahren noch harte Anstrengungen auf sich nehmen mussten und welche doch oft unerreichbar blieben. Nahrung, Trank, Wärme, Schmerzlinderung, Sex, Nervenkitzel, was immer sich frühere Menschen auch wünschten, ist heute für eine grosse Zahl von Menschen in einem bis vor kurzem unvorstellbaren Übermass erreichbar. Heute ist fast jeder in irgendeiner Weise süchtig. Uns alle hat das Internet am Wickel: Google, Microsoft, Facebook und WehwehwehPunktWieimmer sie alle heissen mögen, wissen genau, was wir suchen, mögen und liken. Sie verlinken sich mit unserem intimsten System, dem Belohnungssystem.


Schalter des Belohnungssystems

→ Sucht ist das korrumpierte Belohnungssystem: Der direkte Zugang zum Schalter der Dopaminausschüttung liegt im Mittelhirn jedes Säugetiers und so auch in jedem Menschen.

Nicht nur Junkies, jede und jeder stehen heute täglich vor der Aufgabe, mit diesen süchtig machenden, immer vorhandenen Angeboten umzugehen. Wir alle können nicht mehr vollständig widerstehen. Wie sollten wir das auch können? Sind doch unsere Grundbedürfnisse durch das Belohnungssystem und die widerständigen Anforderungen der Umwelt, die Knappheit der Güter, reguliert. Jetzt sind sie der Hebel, mit dem uns anonyme Kräfte über das Belohnungssystem steuern. In unserer Entwicklungsgeschichte gleichen wir Menschen seit kurzer Zeit immer mehr der Ratte im Olds’schen Selbstreiz-Versuch[5].  

Der Verstand, das Ich, unser Wahrheitsorgan, der Ort an welchem wir unsere Entscheidungen treffen, ist engstens mit unserem säugetierhaften Belohnungssystem verbunden. Wir haben eine Wahl, welchen Reizen wir gestatten wollen, unsere Entscheidungen in welchem Ausmass zu prägen. Aber unsere Wahlmöglichkeiten sind immer beschränkt und immer gefährdet. Unser Problem gleicht dem Märchen von Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf zu ziehen vermochte. Sigmund Freud hat festgestellt, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist[6]. Das Subjekt und der liberale Humanismus, welcher den Menschen, jeden einzelnen von uns, ins Zentrum der Welt stellt, sind unter Druck. Das ist keine Krise oder Schwäche der Aufklärung, sondern ihr Wesen. Wir, niemand anders, jeder Einzelne von uns ist gefordert.

Zwischen Subjekt und Objekt öffnet sich immer und jederzeit ein Spalt der Freiheit. Bevor diese Lava der Freiheit steinhart erstarrt, müssen wir unsere Chance immer wieder nutzen. Das gilt für das Individuum und für die Gesellschaft, jeden Tag, jeden Moment und immer wieder!

Lassen Sie uns über Sucht, Abhängigkeit und Bedingtheit unseres Denkens nachdenken. Der Rausch ist ein altes Thema der Menschheitsgeschichte, aber Sucht ist eine Entwicklung der modernen Kultur.

Sucht war in einer Zeit ohne Überfluss nur sehr wenigen Menschen möglich. Rauschhafter Alkohol-Exzesskonsum begleitet den Menschen zwar seit mindestens zehntausend Jahren. Aber Sucht ist erst seit Beginn der Industrialisierung ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sucht als Massenphänomen ist eine Entwicklung der letzten zwei- oder dreihundert Jahre: Nikotinsucht, Abhängigkeiten von Morphium, Heroin oder Kokain sind noch jüngere Entwicklungen.

Noch zur Zeit meiner Kindheit war nur eine Minderheit der Menschen abhängig von einem Suchtmittel. Heute sind die meisten Menschen hierzulande abhängig von mindestens einem Suchtmittel: Beruhigungs-, Schlafmittel, Übergewicht, Magersucht, Shopping, Schönheitswahn, Fernsehen, Handy, Sexsucht, Spielsucht. Wir alle müssen unser Appetenzverhalten mit unserem Verstand regulieren. Wir alle sind dabei existentiell gefordert und kaum eine und kaum einer ist dabei nie überfordert. Unsere naturgemäss immer überbordenden Wünsche werden nicht mehr durch den Mangel an Möglichkeiten beschränkt.

Sucht ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, welches zur Zeit eher wenig und vielleicht zu wenig diskutiert wird. In der Schweiz der 80-er und 90-er Jahre waren Sucht und ihre Folgen das öffentliche Thema Nummer eins.

Wie kommen wir aus unseren Problemen mit Sucht wieder heraus, individuell und als Gesellschaft. Wie kann sich Graf Münchhausen mitsamt seinem Pferd am eigenen Schopf selbst aus dem Sumpf ziehen? Wie werden wir gesund? Wie können wir überleben und überhaupt leben? Der Antwort können wir uns auf mehreren Wegen nähern. Lassen Sie mich einige Umwege machen, die Mühe lohnt sich.

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[1] Eine agrarische Gesellschaft kann mehr Menschen ernähren aber die Gesundheit und die Lebensdauer leiden. Aus ökonomischen Gründen kann nur eine kleine Zahl von Menschen damals einen anhaltenden Alkoholkonsum aufrechterhalten haben.

[2] Durch schweren chronischen Alkoholkonsum verursachter akuter Verwirrtheitszustand.

[3] Warum wohl werden traditionelle Appenzeller Pfeifchen mit einer Unterpfanne konstruiert? Die alpinen Bauern konnten damit gefahrlos das billige Hanf rauchen, ohne dass Glusen der Hanfkapseln ins Heu fallen.

[4] Belohnungssysteme sind phylogenetisch schon bei Wirbeltieren angelegt.

[5] James Olds, 1922-1976, Neurophysiologe, Erstbeschreiber des Belohnungssystems, siehe weiter unten

[6] Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1917. Nach der kosmologischen Kränkung durch Kopernikus, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt darstellt, und der biologischen Kränkung durch Darwin, dass wir zum Tierreich gehören, sei seine psychologische Kränkung, die dritte grundlegende Kränkung der Menschheit.