Freiheit mit Hörgeräten – August 2020

Ich nestle an meinen Hörgeräten. Das linke Gehör-Schläuchlein verhaspelt sich zwischen meiner Ohrmuschel und dem Bügel meiner Brille in der Gummischlaufe meiner Atemschutzmaske. Ich schwitze. Alles klingt wie in einem Avatar. Meine Brillengläser sind durch den Dampf angelaufen und verschmiert. Wasserdampf ist ein Aerosol.

Ich atme ein, ich atme aus. Hunderttausende von Tröpfchen atme ich ein, und atme sie aus.

Wie die nasse Amsel am Wegrand nach dem Sommerregen sitze ich eingezogen in meine Kleidung und meine Maske.

Furchtbar, es ist demütigend, eine Maske anziehen! Ich muss mich verhüllen?! Ich darf nicht mehr, ich darf nicht mehr!

Nichts tönt mehr, nur der Verkehr!

Nichts tönt mehr, nichts tönt mehr.

Ich muss atmen, ein, aus, ein, aus.

Ich ordne mich, meine Erscheinung. Ich steige aus dem Bus: Freiheit!

Ich atme ein und aus und setze einen Fuss vor den andern, mechanisch, links rechts. Die Freiheit kann nicht marschieren.

Und doch setzen wir einen Fuss vor den andern, miteinander, links, rechts, links!

Die Amsel sitzt misstrauisch am Weg. Sie fliegt nicht davon. Sie sitzt nass auf dem Hag und beäugt mich. Sie muss nicht davonfliegen.

Doch die Kinder, sie tönen immer!

Wir werden vor Gefahren gewarnt hierzulande. Die Warnungen sind weitgehend adäquat hierzulande, weitgehend, ich könnte mitdiskutieren.

Wenn ich mitdiskutiere, helfe ich?

Was soll das?

Die drei letzten gefährlichen Pandemien der Menschheit habe ich selbst miterlebt:

  • HIV, Aids, bisher weit über zehn Millionen Tote weltweit
  • Hepatitis, HCV, heute sterben mehr Menschen an C-Hepatitis als an HIV
  • Sars-Cov-2

Covid-19 ist eine eigentlich noch glimpfliche Pandemie, mit einer Sterblichkeitsrate von eher unter einem Prozent der Infizierten.

HIV war eine Pandemie mit einer deutlich höheren Sterblichkeitsrate, viel höher. Fast hundert Prozent der HIV-Infizierten Menschen starben bis Mitte der Neunziger Jahren an Aids.

Hunderte meiner Patienten starben elendiglich, elendiglich, Hunderte, Hunderte, Hunderte. Ich kann meine Wut nicht loslassen. Ist meine Wut heute eitel und vergeblich?

Wieder leben wir in einer neuen Pandemie, in Zeiten neuen weltweiten Elends, und einer wachsenden Erkenntnis, dass solche Pandemien alle zwanzig, dreissig Jahre, aber, vielleicht, vielleicht doch nur alle fünfzig Jahre über die Welt einbrechen.

Wir leben nicht in einer dystopen Realität, es ist unsere heutige Wirklichkeit. Wie wollen wir, mit diesen Zeiten, mit dieser Realität umgehen?

Heute ist heute, und heute geht es immer noch um dasselbe:

Die Freiheit, die wir so suchten, die Freiheit, die wir fanden, die wir bewahrten, organisierten, erstickten. Und doch wieder suchten.

Die Freiheit.

«Kill your smartphone», hat jemand an die Brücke gesprayt.

Warum klingt das bei einer Brücke, fast wie «kill yourself, kill yourself»?

Nein, «Kill your smartphone, should I do that?»

SARS-CoV-2, «ich will den Scheiss nicht», geht nicht! Ich kann mich drehen und wenden, wie ich will! Ich will den Scheiss nicht! Aber er ist hier!

«I’ve got you under my skin», ist der alte Refrain der Pandemien. Willkommen im Club. Eine Pandemie trifft Dich in Deinem Innersten. Das ist, was pandemische Erreger so tun. Sie dringen in Dich ein! Sie dringen in Dich ein.

Ich will den Scheiss nicht!

Du willst den Scheiss nicht? Wirklich? Also, überleg mal! Ja, Du, hallo, Du, überleg mal selbst!

  • SARS-CoV-2 verbreitet sich vorwiegend als Aerosol. Mikroskopisch kleinste Tröpfchen, so klein wie eine menschliche Zelle, tragen Millionen Viren auf ihrer Oberfläche. Sie gelangen in die Tiefe der Atemwege, in die Lungenbläschen.

Ich will den Scheiss nicht! Ich will den Scheiss nicht!

Aber es ist da!

  • Gefährliche pandemische Erreger verbreiten sich mit exponentiellem Wachstum.
    Der Wirt eines Erregers gibt seine Keime an einen Zweiten oder an zwei oder drei weitere Menschen weiter.
    Diese übertragen sie wieder auf zwei, drei oder noch mehr menschliche Wirte.
  • Auch Meme, Wissen, Erkenntnis verbreitet sich exponentiell.
  • Ein exponentieller Prozess kann einen anderen exponentiellen Prozess auslöschen.

Ich will den Scheiss nicht! Ich will den Scheiss nicht!

Bleib cool, Mann! Bisher sind wir alle mit dieser Pandemie doch schon recht gut klargekommen! Noch nie ist die Menschheit einem so gefährlichen Erreger so wirksam begegnet! Weltweit wurden nur 12 Mio Infektionen registriert. Möglicherweise ist noch nichteinmal ein Prozent der Menschheit angesteckt. Bei Aids haben wir es auch gelernt. Bei Pest und Siphylis waren wir noch weit hilfloser!

«I’ve got you under my skin», ist der alte Refrain der Pandemien, dort wo es heiss abgeht und man das Leben sucht und aufs Spiel setzt. Man lebt nur einmal! Das ist mein Leben!

«Vivere pericolosamente, vivere pericolosamente», die Losung der lustvollen Gefahr hat zum Faschismus geführt, hat zum Faschismus geführt.

Was hat sich geändert? Nichts hat sich geändert.

Wo ist die Freiheit? Wo ist die Freiheit?

Ich atme aus, ich atme ein. Ich gehe, links, rechts. Marschiere ich? Ich gehe, aber ich kann jederzeit stehenbleiben.

Wo ist die Freiheit? Wo ist die Freiheit?

Ich sehe sie. Ich sehe sie jederzeit. Ich verliere sie, Ich verliere sie jederzeit.

Ich stelle der Wirklichkeit nach, um sie zu erhöhen. Um sie zu erhöhen?

Die Vöglein zwitschern umsonst! Zwitschern die Vöglein umsonst?

Das Kind jauchzt, und das Echo des Jauchzers zerschellt an der Brückenmauer.

Ich bin heute wie das Wetter, mal so, mal so.

Ich ziehe meine Maske an. Ich ziehe meine Maske an. Ich ordne meine Erscheinung, die Brillengläser sind dicht beschlagen, wahrscheinlich auch verschmiert, die Gehörgeräteschläuchlein haben sich sicher wieder in der Gummilasche der Maske verfangen. Die Geräusche in meinem Avatar sind übersteuert, gesteuert von einer Maschine, welche mir die Wirklichkeit filtert. Ich hocke in meiner Blase, mit meiner Maske.

Viren verfangen sich in meiner Maske.