Wahrheit 1

In Freiheit kann ich die herrschende Wahrheit immer in Frage stellen. Jetzt wo beide, die Freiheit und die Wahrheit, so oft in Frage gestellt werden, lohnt es sich, die beiden Begriffe wieder einmal zu untersuchen. Meinen Sie nicht?

Bleiben wir mal bei der Wahrheit. Was ist wahr? Die Wahrheit ist zutiefst in mir drin. Ich bin mit der Wahrheit immer verbunden.

Wir denken in einem «omniconnected brain»: Jede Nervenzelle ist mit jeder anderen über nur wenige Stellen verbunden[1].

In einem omniconnected brain mit einem Belohnungssystem[2] ist kein Gedanke möglich, der nicht die Gier dieses Belohnungssystems jederzeit zu befriedigen sucht.

Über die neurologische Basis der Wahrheit lohnt es sich nachzudenken.

Es gibt eine Wahrheit, welche im Dialog entsteht. Eine Wahrheit, die unser beider Belohnungssystem zu stimulieren in der Lage ist. Es gibt eine Wahrheit zwischen uns. Diese Erkenntnis ist schon älter als die Entstehung der Wirbeltiere. Sie lässt uns sozial handeln.

Die Wahrheit lässt uns manchmal gemeinsam gegen Dritte streiten. Die herrschende Wahrheit ergibt sich aus jedem Dritten, der hinzukommt oder immer schon da ist.

Die Wahrheit ohne uns selbst als Teil der Evolution zu denken ist absurd. Die Wahrheit ist schon in unserem genetischen Code und in der Evolution aller Sprachen.

Die Wahrheit ist immer schon eine herrschende Wahrheit. Ohne Sprachregelungen können wir nicht sprechen. Nur innerhalb unseres Codes können wir uns verständigen.

Und doch gelingt es uns diesen Code immer mehr zu erweitern. Der Code ist gefrässig und wuchernd. Geht die Gier eines Belohnungssystems darüber hinaus?

Gibt es nur eine Wahrheit? Die Antwort ist unerträglich.

Eh Mann, hast Du die Wahrheit? Warum sagst Du, das ist wahr und das ist wahr? Glaubst Du mir nicht?

Als kleines Kind konnten wir irgendwann nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben. Die Meinung hatte sich im Kindergarten durchgesetzt und wir alle beeilten uns, unsere Meinung anzupassen. Insgeheim hatte jeder von uns seine Zweifel gebrütet und seine eigene Wahrheit zu finden versucht. Es war in derselben Zeit, als wir uns fragten, ob es einen lieben Gott gibt, ob er lieb und allwissend und allmächtig zugleich sein kann. Und wir begannen uns den herrschenden Meinungen anzupassen. Wir hegten unsere eigene geheime Wahrheit aber immer.

Als Kinder übten wir unsere Gefühle gegenüber den Rechthabern, den Klugscheissern, den Gehorsamen, den Furchtlosen. Wir schlossen uns Koalitionen an und verliessen Gruppen, um uns anderen anzuschliessen. Unsere geheime Wahrheit, unsere eigene Wahrheit trugen wir immer in uns. Wir alle, immer.

Als Amerika uns erzählen wollte, was Wahrheit und Freiheit sei, bewahrten wir, alle anderen, uns unsere Zweifel. Die Wahrheit sah in Vietnam, Laos, Kambodscha, Chile und so weiter anders aus, als Amerika erzählt haben wollte.

Dass China seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine Freiheit in den eigenen vier Wänden… Sollen wir froh sein, dass Putin uns noch nicht zu Ende erzählt hat, was ein wahrer Krieg bedeutet?

Gibt es nur eine Wahrheit? Gibt es nur richtig oder falsch?

Die Wahrheit in einem omniconnected brain mit einem Belohnungszentrum kippt fast immer und zwangsläufig zu einem entweder-oder. Das ist die gefrässige Bedingung unseres Denkens. Unser Denken will zwischen wahr oder falsch unterscheiden.

Was sind die Bedingungen der Wahrheit im Frühjahr 2022?

Ist Wahrheit endlich? Unser Tod ist für jeden Menschen eine Quelle der Angst und trotzdem fast einzige Gewissheit. Das mögliche Ende der Menschheit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf neue Weise fast zur Gewissheit verdichtet[3]. Kann der Zweifel am Ende der Menschheit noch genügend Hoffnung spenden?

Soeben wurden in einer der renommiertesten naturwissenschaftlichen Magazine grundlegende Zweifel an der technischen Untersuchbarkeit des Gehirns dargestellt[4].

Freiheit und das Versprechen einer Freiheit müssen unterschieden werden. Die Utopie ist mächtig. Die Utopie hat nur so viel Macht wie wir bereit sind ihr zuzuschreiben.

Die Utopie, das göttliche Heilsversprechen, der messianische Kult hat schon in Gestalt des Mannes Moses, im Gottesstaat nach dem Auszug aus Ägypten, eine faschistoide Wendung erfahren. Aber ebenso, wie im Judentum die Idee eines einzigen Gottes, einer allumfassenden Singularität sich mit der staatlichen Macht verbunden hat, und zu einem eifersüchtigen, auf seine Allmacht pochenden Gott wurde, so hat im Judentum das Bilderverbot jeden Menschen zum eigenen Denken aufgerufen; so geschah es zuerst im Judentum, später im Christentum, im Islam und seit Spinoza in der abendländischen Aufklärung.

Unser ständiges Bedürfnis nach einer vollständigen und allumfassenden Wahrheit kollidiert mit Tod, Verderben und nur schon dem Fehlen einer starken Utopie. Wahrheit ohne Utopie verkauft sich schlecht, nicht sexy, mit so was sollst Du Mann mir nicht kommen wollen.


[1] Esoterik: Es ist nicht esoterisch, zu sehen, dass auch jeder Mensch mit jedem anderen über nur wenige Zwischenmenschen verbunden ist. Aber, wie ergiebig kann eine nicht esoterische Idee der Menschheit als einem Hologramm sein? Mit welchem Apparat wird dieses Hologramm auf welcher Matrix abgebildet?

Wie ergiebig ist die Idee des Universums als Hologramm? Ist jedes Teilchen mit jedem anderen in der Welt verbunden? Mit welchem Apparat bildet sich diese Welt in einer anderen ab?

[2] Belohnungssystem: Das Säugetier hat ein zentrales Belohnungssystem welches am Ende der mesolimbischen Dopaminbahn im Nukleus accumbens Dopamin ausschüttet. Ein zweites Dopamin-abhängiges System liegt im hypothalamisch-hypophysären Bereich. Die meisten Suchtdrogen wirken auch dort. Brauchen wir ein zentrales Belohnungssystem?

[3] Das Ende aller Tage ist aber so alt wie die Idee einer Menschheit. Die Idee der Menschheit ist mit diesem tiefen Zweifel an uns selbst verbunden. Vielleicht würde es sich lohnen, über diesen Zweifel nachzudenken.

[4] Nature: