23.4.23: Noch vor dem Morgengrauen erreicht der Nachtflug von Zürich den Flughafen Ben Gurion. Ben Gurion war der erste Ministerpräsident Israels und Führer der Sozialdemokraten. David Ben Gurion kam an diese Macht, als sein Vorgänger Chaim Arlosorow 1933, vermutlich von rechten Fanatikern im Umfeld von Seew Jabotinsky und dem Onkel von Benjamin Netanyahu umgebracht worden war.
Ich warte in einer Ecke des Ankunftsgebäudes. Zwei Gruppen von akzentfrei Spanisch sprechenden jungen und mittelalterlichen Menschen, die mit unterschiedlich ausgeprägtem Akzent auch Hebräisch sprechen, sitzen am Flughafen zusammen. Sie gehören anscheinend zur Organisation des ‘Marsch für das Leben’, der im Rahmen des Holocaust-Gedenktages Jom HaShoah an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge am Ende der Naziherrschaft erinnert.
Zwei Stunden später in Jerusalem sitze ich im Bus. An einer Haltestelle steht eine mittelalterliche Frau. Sie liest heilige Worte mit betonenden Mundbewegungen. Später sehe ich auch noch eine junge Frau. Auch sie wartet auf den Bus und liest wohl in einem Gebetsbuch. Wegen dem lauten Dieselmotor und den Busfenstern kann ich nicht erkennen, ob sie die Worte laut deklamiert oder mit stimmloser Inbrunst. Sie sind wohl auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit.
24.4.23: Um Sieben durchbricht eine Staffel von fünf schweren Kampfhelikoptern im Tiefflug von Osten her die morgendlich so verschlafene Ruhe über der Stadt, schon zum dritten Mal und dann zum vierten. Sie fliegen zurück, hinunter Richtung totes Meer und das Westjordanland, Judaea, Palästina. Morgen ist Jom HaAzma’ut, der Tag der Unabhängigkeit, der Gründung des Staates Israel. Heute aber ist Jom HaSicaron, der Erinnerungstag, Israel gedenkt den Gefallenen, den getöteten Soldaten in den Kriegen seit 1947 und den Kämpfern im Ghetto von Warschau und den Partisanen des zweiten Weltkrieges und den Partisanen schon früherer Kämpfe gegen die Engländer. Wer darf mit wem zusammen an wen öffentlich gedenken, ist umstritten. Dürfen die Familien von gefallenen Juden zusammen mit arabischen Familien trauern?
Israel kämpft noch um seine Demokratie, aber rund um Israel ist dieser Kampf weitgehend verloren. Wer Apartheit selektiv nur Israel vorwerfen will, vergisst, dass rund um Israel alle Regimes grosse Teile ihrer Bevölkerung unterdrücken, drangsalieren und sogar auf den Tod bekriegen. In allen umliegenden Ländern werden die Rechte grosser Teile der Einwohner krass missachtet, in den Königtümern und Emiraten Arabiens, von der Türkei bis Marokko, von Mauretanien bis zum Sudan.
In Syrien geschieht das zweifellos in besonders deutlicher und drastischer Weise. Baschir al Assad und schon sein Vater vereinigten als Anführer der Minderheiten von Alawiten, Schiiten, Christen, Drusen und noch andere gegen einen grossen Teil der Bevölkerung, die Sunniten. Die Baath-Partei Assads in Syrien und Saddam Husseins im Irak waren säkular eingestellt, überkonfessionell, aber blieben in den Stämmen verwurzelt, und durch festgefressene Korruption gelähmt. Als der arabische Frühling 2011 echte Demokratie forderte, brach in Syrien ein seither anhaltender Bürgerkrieg aus. Die gewalttätige Herrschaft wurde instabil.
Israel, wohin gehst du? Wohin gehst du mit dem amerikanischsten Premierminister deiner Geschichte? Mit einem Führerkopf, der Dich weiterwegbringt von Amerika als je einer zuvor? Weiter weg vom Westen, vom Abendland als je zuvor?
25.4.23: Wie jeder jüdische Feiertag beginnt Jom HaAzma’ut beim Eindunkeln am Vorabend. Am Abend ging ich in die Stadt, den Israelfahnen bewehrten Fussballfan-Jungen nach, die zum Freiheitsglockenpark strömten, zum Konzert im Freien. Begeistert schoben sie einen bleichen versehrten Alten im Rollstuhl in der Mitte und feierten ihn mit Gesängen: «Am Echad, ein Volk, ein Volk, ein Volk». Huldvoll lächelnd hob er bald den einen und dann den anderen Arm. Seine Augen streiften mich kurz. Wollte er verzweifelt auch endlich etwas sagen können? Auch in der Begeisterung der Jungen lag jetzt irgendwo eine Verzweiflung, oder meine ich das nur? Beitar hiess einst die Jugendbewegung der rechtsgerichteten Zionisten. Beitar ist heute der Name des Jerusalemer Fussballvereins, dessen Rassismus heftig diskutiert wird.
An der Tankstelle begegne ich einer kleineren Demonstration, vermutlich alles linke Ashkenasim, oft gleich alt und sogar älter als ich. Ernst, bitter, trotzig, verzweifelt, oder was bilde ich mir bloss ein, Blicke deuten zu können. «Am Echad!» Ein Volk, oder wenn es bloss nur eines wäre. Trennen sich hier die Wege der verschiedenen Judentümer wie schon zur Zeit Babylons?
Noch in meiner Kindheit und frühen Jugendzeit waren die Zionisten in der Schweiz eine Minderheit. Wir sozialistischen Jungen vom Schomer HaZair waren mehr geduldet als gefördert in der jüdischen Gemeinde. Aus der reichen Schweiz mit seiner kleinen jüdischen Gemeinde sind seit den Fünfziger Jahren vergleichsweise mehr Juden nach Israel ausgewandert als aus einem anderen Land Europas, gerade wieder in den vergangenen Jahren.
26.4.2023: Jom HaAzma’ut, Unabhängigkeitstag: Center for Human Dignity, das neueröffnete Museum for the History of Tolerance scheint exklusiv zu feiern. Menschenwürde, wird nicht immer allen zuteil. Der Blick hinter die Sicht versperrenden Abschrankungen beim Eingang zeigt, dass hier nur spezielle Zuhörer mit Einladung erwünscht sind. «Hämdilullah» schreit der breitbeinig am Gurt bewaffnete Wächter beim Vorbeigehen in sein Handy?! «There’s nothing wrong with the past– unless we live there»[1] tönt eine laute Konserve aus dem Amphitheater des Eingangsbereichs des Museums. Diese Leute lassen wissen, dass sie wissen, wo’s lang geht in Jerusalem.
Eine erste Sommerhitze ist zu spüren. Ich gehe durch einen leicht verwilderten Garten, den Garten der Unabhängigkeit, vorbei an einem wie abgeschnittenen als Torso belassenen Turm oder türkischen Mausoleum. Vögel zwitschern und krächzen.
Wohin gehst Du, Israel? Du meintest Du könntest den Antisemitismus überwinden? Was jetzt? Den Antisemitismus der uns Juden doch immer umgebenden Völker überwinden, ob wir jetzt hier im Lande Israels sind oder anderswo? Den Antisemitismus der uns umgebenden Völker überwinden? Seit sie sich zurückdenken, sind wir speziell für diese Völker; im Guten wie im Schlechten scheinen wir unübertroffen. Ist die uns allen unüberwindliche Feindschaft, der Antismeitismus unser einziger Zusammenhalt, mehr als je zuvor? Was bleibt jetzt noch? Was tun!?
In der Hitze des Tages strömen aus dem Jaffator wieder jugendliche israelische Fussballfans in brasilianische Leibchen aber vor allem blau-weiss in israelische Farben gekleidet. Fahnen schwingend und schwänkend triumphieren sie die breite Auffahrt herunter. Die meisten Autos tragen in die Fenster eingeklemmte Israelfahnen. Das Hupen und Signalhörner von Autobussen wehen von der höher gelegenen Strasse herüber und sogar das empörte Krächzen der grauschwarzen Rabenvögel übertönt die Parolen der Fans. Nein das ist keine sozialistische Jugend, die Jungen sind heute anders drauf. Die kleinen und schon grösseren Kinder kreischen und spielen ausgelassen in den Wasserfontänen aus dem Steinboden im Park.
Ich bin fast da, wo wir gewohnt haben, wo der Marathon im März die Läufer ohne Publikum abzweigte. Vor der burgähnlichen aus auffallend rötlichem Stein gebauten französischen Botschaft steige ich zum stählernen kleinen Baldachin auf einem verwilderten Gelände hinter den Bausichtverhauen. Ein fast erwachsener Teenager mit breitkrempigem schwarzem Hut und weissen Schaufäden, welche über den Hosenbund herunter schlenkern, stapft an mir vorbei. Er antwortet nicht auf mein ‘Schalom’ und ‘Chag Sameach’, frohes Fest. Hier geht es nicht weiter, alles ist von Wellblech und Plastiknetzen der Bauabschrankung umstellt. Im hohen Gras ein roher weisser Quaderstein oder sind das verwitterte Buchstaben eines Grabmals?
Ein junges Pärchen steigt auf ein Mäuerchen und durch eine Lücke im Zaun. Er hilft ihr im langen Rock hinauf. Ich klettere hinterher. Im grünen Park mit grandiosem Blick auf die Altstadt grillen und plauschen Familien mit kleinen Kindern. Grosseltern hinter ihren Rollatoren oder auf Rollstühlen werden über die holprigen Plattenwege herangeführt. Die Knaben spielen weiter Fussball, als eine rote Fliegerstaffel über der Stadt waghalsige Manöver durchführt. Frauen und Mädchen spielen gegen Jungen und Väter. Auch sie unterbrechen ihr Spiel nur kurz für einen Blick zum Himmelsspektakel. Das Kerosin der Flieger und der Rauch der BBQ-Feuer vermischen sich. Auch zwei Prinzessinnen in langen lila Chiffonröckchen spielen lieber weiter mit ihren Plastikschwertern. Die Hälfte der Leute sprechen Amerikanisch miteinander. Ein schwarzer grosser Junge erklärt einem hellhäutigen kleinen Erstklässler in akzentfreiem Deutsch und Hebräisch, wie man auf Englisch sagt, wohin man gehen will. Sie lachen über etwas, das ich im Weitergehen nicht mehr verstehe.
Ein Volk, ein gewöhnliches Volk wie jedes andere? Wäre das möglich?
Ich bin schon fast aus dem Park. Eine Gruppe von Mädchen sitzen mit betretenen Mienen auf der Wiese am Weg. Was ist los? Ein Mädchen springt auf und stürmt freudig auf mich zu: Ob ich etwas kaufen wolle. Ja was sie denn zu verkaufen hätten. Ich kaufe einige Smarties, welche sie mir in eine farbige Papiertüte abpackt. Ich werfe mir ein Zückerchen in die Höhe und fange es mit dem Mund auf. Zwei der Süssigkeiten fallen dabei aus meiner Tüte und kullern über den Boden. Das kleinste Mädchen, hebt sie begeistert auf, das Windelpacket ist unter dem Röckchen zu sehen. Sie schiebt ein Bonbon in den Mund, hält das andere mit gestrecktem Arm in die Höhe und dreht sich tanzend im Kreis. Die anderen Mädchen wollen jetzt auch tanzen. Zwei Mütter schreien entsetzt: «oh nein», als ich dabei bin, den anderen Mädchen das halbvolle Tütchen zu geben, da ich nicht so viele Smarties essen will. Habe ich alter grauhaariger Affe mit meinem Greisentanz das Spiel wieder in Gang gesetzt, dass die Mütter doch eben erst verboten hatten?
Das Tal hinunter über das Tote Meer hinweg sehe ich im Dunst die gelbbraunen jordanischen Bergen. Ich stehe vor dem Denkmal eines 22-Jährigen, der 1948 gestorben ist, als er hier allein versuchte, die Stellung zu halten. Nach hause führt mein Weg westlich der Mauern der Altstadt entlang der Waffenstillstandslinie des 48-er Krieges, der heute als Unabhängigkeitskrieg gefeiert wird, des arabischen Krieges gegen Jordanien, Ägypten und Syrien, nach Süden. Weil ich mit Google-Maps nicht sicher bin, frage ich einen entgegenkommenden braungebrannten Reservisten, wie dieses Tal heisst: G’hinom. Er lächelt spöttisch. Woher ich denn komme. Ich sage, , ich sei aus der Schweiz und dass ich keine Ahnung hätte. Er setzt an zu einer Erklärung, aber winkt dann ab. Ich wünsche ihm einen schönen Feiertag: ‘Chag Sameach’. Er winkt lachend zurück und geht weiter.
G’hinom Tal, Gehenna, was heisst das, die Hölle? Ich gehe mal nach Gehenna! Die Aussicht ist trotzdem schön. Das Tal fällt steil zum arabischen Stadtteil Abu Tor. Erst dahinter sehe ich Teile der hohen Mauer, welche das palästinensische Gebiet abgrenzt. Weiter unten im Osten liegt das tote Meer und im Dunst darüber hinweg sieht man auf die jordanischen Berge.
Drei Philippinas sitzen auf einem Mäuerchen im Schatten eines Baums. Auch sie geniessen ihren freien Tag; die Familien kümmern sich heute selbst um ihre alten Eltern.
Zum Schluss bin ich im Silo gelandet. Eine wunderschöne Beiz (vermutlich ein jiddisches Wort, so wie das Haus Beit, wie in Beit Lechem, Betlehem, das Brothaus) neben den stillgelegten Bahngeleisen, ein Hauch von Roter Fabrik oder Kochareal seelig in Zürich. Ich war etwas erschöpft. Ich wollte mich setzen. Und fragte eine Frau am Eingang, die am Essen war, ob ich hier einen Orangensaft erhalten könnte. Sie bat mich doch in den Schatten zu sitzen. Eine andere Frau brachte mir dann den Orangensaft. Und ich fragte, wie dass ich mich hier ins Internet einloggen kann. Sie half mir. Erst als ich zahlen wollte, begriff ich. Dass beide nicht zur Bedingung gehörten. Mit Blick auf ihr französisch beschriftetes T-Shirt begriff ich, dass sie einfach ein Gast war, der mit Freunden plauderte. «Je m’excuse, pardonnez moi madamme, es tut mir leid אני מצטער, je suis désolé, I am terribly sorry, I am just an old buthead from Switzerlan, än altä Sack vo Züri.»
1.5.23: Am ersten Mai sehe ich keine Demos oder irgendwelche Zeichen des Tags der Arbeit, der früher so wichtig war in Israel.
2.5.23: Ich habe mich schon gut eingerichtet. Ich habe mir ein billiges Mountainbike, ein Bügeleisen und Bügelbrett gekauft. Das Bügelbrett dient mir auch als Rücken schonendes Stehpult. Heute morgen habe ich eine lange Velotour um die Stadt gemacht. Jerusalem im Frühling ist unglaublich schön. Jetzt sitze ich bei meinem Morgenkaffee am Fenster des Restaurants neben vier anderen Gästen mit Internetanschluss und Blick auf die Emek Refa’im Strasse (Geistertal Strasse). Ich lese den Artikel im NZZ Folio, den mir eine Freundin in der Schweiz empfohlen hat und erkenne, die Orte, die im Artikel beschrieben sind, wilde Oasen zwischen Autobahnzufahrten und den Mauern der Altstadt. Schabat Schalom!
Seit Jom Haazma’ut hängen über dem Garten des Nachbars vis à vis an zwei Schnüren 30 Israelfahnen im Wind. Heute Abend, bevor der Schabat beginnt, sehe ich wie er den geschliffenen Steinboden des Wohnzimmers putzt. Aus den offenen Glastüren tönen aufgeregte Worte eines Demagogen. Meine ich das nur?
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern und Kriegern, das kenne ich doch als Schweizer. Es gibt hier jüdische Menschen, welche die letzten zweieinhalbtausend Jahre der jüdischen Geschichte seit Babylon ignorieren und sogar eliminieren wollen. Sie verleugnen mindestens die Hälfte des Judentums. «Am echad», ein Volk, rufen sie fanatisch und für meine deutschsprachigen Ohren tönt dieses «wir sind das Volk» verzweifelt nach dem bekannten «Heil, Heil, Heil» welches noch jeder Nationalismus hervorbringen kann.
5.5.23:
Der Gedanke eines einen allumfassenden Gottes war den Königen in Babylon und einigen Pharaonen nicht fremd. Sie wurden damit Herrscher aller ihrer Völker. Der Gedanke des einen allumfassenden Gotts wurde vom Volk Israel freudig aufgenommen und in die Welt getragen. Das warum wird als Befreiung an Pessach gefeiert. Die Juden haben den Gedanken des einen allumfassenden Gottes mit dem Bilderverbot verschärft und präzisiert. Das Bilderverbot ist nämlich die Aufforderung selbst zu denken und sich seinem Gott persönlich zu stellen: «Hinehni», hier bin ich! Spinoza hat diese jüdischen Gedanken radikal weitergedacht und damit die Aufklärung mitbegründet.
Ich bin hier um so gut Hebräisch zu lernen, dass ich Spinoza auf Hebräisch lesen kann. Denn ich denke, obwohl er lateinisch publiziert hat, hat er hebräisch gedacht. Gestern habe ich mir die Etika schel Baruch Spinoza auf Hebräisch gekauft, oho oh, hoffentlich überschätze ich mich nicht.
8.5.23:
Zuzeiten von Wokeness ist Identität zu einer kollektiv organisierten Plombe geworden. Welchen Nutzen hat ein Pflaster auf einer unheilbaren, offenen Wunde? Sicherheit und Geborgenheit im Eigenen ist trügerisch und ignoriert den anderen. Viele haben darin ihr Verderben gefunden und anderen solches gebracht. Der Verlust der Geborgenheit erscheint unerträglich. Nationalismus und die kollektive Identitätssuche haben hier ihre gemeinsame Wurzel. Ist Identität nicht die Verpflichtung gegenüber den Nächsten und den Vorfahren? Sie haben meine Identität geprägt.
9.5.23:
Mit meinem billig gekauften Mountainbike fahre ich durch die Stadt. In den Parks viele Familien beim Barbecue «Al haEsch». 30-40 Twens haben ein langes Buffet organisiert und stehen schwatzend und lachend darum. Lag Baomer der 33. Tag nach dem Pessachfest ist ein halbwegs freier Tag. Lag Bomer erinnert an den Bar Kochba Aufstand im 2. Jahrhundert erinnert. Hunderte von Jungen orthodoxer Charedim ziehen durch die einzelnen Quartiere mit farbenfrohen Hüten, mit Trommeln und ernsten Gesichtern. Mein Tischnachbar im Café macht mich darauf aufmerksam, dass an ihren Umzügen keine Israelfahnen zu sehen sind. An Lag Baomer erinnern die Charedim an den Tod eines wichtigen Gelehrten der damals direkt in den Himmel aufgestiegen sei.
Das Dogma, dass der Antisemitismus überwunden werden kann, darf nicht infrage gestellt werden, aber ist trotzdem die grundlegende Frage, die der politische Zionismus aufgeworfen hat. Auch 75 Jahre nach der Gründung stellt sich der Staat Israel als Retter des Judentums vor dem Antisemitismus dar. Obwohl, das Misslingen dieses Vorhabens in Europa noch mehr im Nahen Osten doch offensichtlich ist. Wo sind mehr Juden bedroht als in Israel? In Europa wie in Israel/Palästina sehen die uns umgebenden Völker Juden als etwas spezielles, und meist sehen sie uns in speziell negativer Konnotation. In fast allen muslimisch geprägten Ländern ist das Wort Jude fast gleichbedeutend mit einem Schimpfwort und man wünscht ihnen nichts Gutes. Auch in vielen europäischen Sprachen ist das so. Zu meiner Dienstzeit in der Schweiz ass man «gestampften Juden», eine schmackhafte Konserve aus schweinischen Fleischabfällen. Der positive und der negative Bezug auf das Judentum liegt dem Denken des Morgen- und Abendlandes zutiefst zugrunde. Ist die Überwindung des Antisemitismus wirklich keine Illusion?
Unter dem amerikanischsten Führer, den Israel je hatte, entfernt sich der Staat immer mehr vom Westen. Der Staat Israel stellt die Einheit des Judentums zunehmend in Frage.
Der Staat Israel versteht das Judentum nur als Kampfgemeinschaft gegen Antisemitismus unter ihrer Führung. Der politische Zionismus beansprucht dafür das ganze Judentum für sich. Diese Zionisten, und erst recht Netanyahu und sein noch extremerer Anhang, ignorieren so vieles, was das Judentum seit zweitausend Jahren und vielleicht schon seit dem babylonischen Exil ausmacht. Dieser Staat Israel bedroht immer mehr von dem, was vielen Juden am Judentum wichtig und lieb erscheint. Dieser Staat Israel bedroht den Kern dessen, was viele andere Menschen am Judentum gefunden haben, ein Judentum, welches das Christentum, den Islam und sogar die Aufklärung angestossen hat, ein Judentum der Freiheit, welches jeden Menschen zum Selbst-Denken auffordert.
10.5.2023:
Die hebräische Sprache zeigt manchmal grässliche Zusammenhänge. עקר akar heisst zwecklos/vergeblich und die weibliche Form עקרת akeret bedeutet auch unfruchtbar. עקרת בית Akeret Beit bedeutet die Hausfrau, die durch Kinder von ihrer Zwecklosigkeit entbunden wird. Nur tröstlich, dass der Hausmann עקר בית , Akar Beit, ebenso leicht als unnütz gelten kann.
Zwei Meter neben mir auf dem Balkon, sitzt ein grüner Papageienvogel auf der elektrischen Leitung und beäugt mich, während er sich an einer gelb-orangenen Frucht gütlich tut. Sie fliegen meist in kleinen Gruppen hoch über den Bäumen und sprechen ganz schnell miteinander: Wohin wollen wir, schau dort ist etwas Gutes und Lustiges! Jeden Tag gehe ich auf dem Trottoire unter einem Orangenbaum mit reifen Früchten die von den Ästen plumpsen und am Boden aufklatschen. Einem Mann gelingt es eine herabfallende Frucht aufzufangen. Lachend teilt er sie mit seiner Partnerin.
11.5.2023:
Ich sitze in einem Quartier neben und unter dem Machaneh Jehudah, dem alten jüdischen Markt in Jerusalem, zwei drei Strassen sind touristisch geprägt. Gleich daneben ist es echt. Da sitzen die jungen Soldaten die Maschinenpistole griffbereit, noch im Sitzen um die Schulter gehängt, mit ihren Freundinnen, Kameraden. Aus dem Lautsprecher des reichlich mit Israelfahnen geschmückten Lokals klingen ihre melancholischen Lieder. Mich erinnert das an meine Zeit als Schomer Hazair, junger Wächter (linkszionistische Pfadfinder). Diese etwas Älteren, lebten schon in Israel; die waren echt schon in der Zahal: Ja, in die israelische Armee gehen und natürlich eine tolle Freundin haben… Aber der schwüle Ernst, ist hier nur halbwegs inszeniert und Attitude, vor dem Schrecken, dem jede und jeder hier so schnell begegnen kann, dem Schrecken dem alle hier schon begegnet sind, zumindest in den Gesichtern und Alpträumen ihrer Nächsten, dem Schrecken der nicht übertüncht werden konnte. Die Opfer der Kriege sind sichtbar nicht nur in den Rollstühlen.
Jetzt in der Hitze des Tages eine Mischung die wir in Europa nicht mehr kennen: Wenn du als alter Mann hier im Schatten an der Strasse sitzt, ist die ganze Geschichte unglaublich spürbar und sichtbar, vor allem in den Gesichtern und Stimmen der Menschen. Es ist so unglaublich schön hier! Es lässt sich nicht erzählen, was man hier alles sehen kann. So schade, dass ich einzig Arabisch nicht verstehe. Vielleicht müsste ich es doch versuchen. Ich verstehe alle Sprachen, die ich hier höre, wenigsten ein bisschen, nur Arabisch nicht. Dass ich nicht verstehe, was die Arawim um mich herum dauernd sagen, finde ich immer mehr unerträglich. Wie können die Menschen hier so leben. Sie verstehen alle Sprachen, aber Arabisch verstehen sie nicht, oder tun viele bloss so? Es soll doch so leicht sein, es zu lernen, wenn man Hebräisch kann.
Zwei Meter weiter sitzt einer junger Marokkaner auf Koks und sagt dauernd überlaut in sein Handy, dass es ihm reiche: «Jesch Gwul», es gibt eine Grenze! Der Schlachtruf der Linken, von einst kann ich gut verstehen, dass es tatsächlich Grenzen für die Grossmachtsphantasien gewisser religiöser/pseudoreligiöser Kreise geben könnte. Er steht auf und schreit auf der Strasse, niemand beachtet ihn. Zwei vorbeischlendernde Teenies quatschen auf Russisch über Einkäufe und weil sie im selben Satz auf Ivrith fortfahren, bin ich sicher, dass meine Russischbrocken richtig waren. Du musst dir dabei die Beschallung von überall mit allen Musikstilen vorstellen. Der Geruch, die Hitze, die jetzt bald Mitte Mai, schon lähmende Kraft bekommen hat, Reizüberflutung pur. Zum Glück kann ein Alter einfach dasitzen und zuschauen, im Schatten. Meinen Kaffee habe ich auf ein sicheres Sims gestellt. Dann flüchtest du in ein ruhigeres Quartier hinab.
Eine junge Frau sitzt unter den Steinstufen des Weges. Sie streichelt ihre Katze, sie sieht mich halb lächelnd über ihre weiche Schulter an und blinzelt wegen der blendenden Sonne. Der erste Wind des Abends lässt die Palmen und die anderen Blätter leise rauschen. Das Zwitschern der Vögel setzt wieder ein. Die Pushnachrichten von Ha’arets sind langsam nervend, soll ich sie abstellen? Was ist in meinem Kopf, was sehe ich wirklich?
Was wäre, wenn ich jung wäre, sagen wir einundzwanzig, hätte bald meinen Bachelor. Als junger Mann mit jüdischem oder vielleicht sogar israelischem Background, sollte ich ins Militär? Sollte ich ins Militär, ins Schweizer Militär? Sollte ich mich primitiven Spielen und sogar der Gefahr aussetzen, gemobbt zu werden? Wenn, dann könnte ich ja erst auf Offiziersniveau nützlich sein. Ja, das Militär macht heute wieder viel mehr Sinn als auch schon, leider. Wie das tönt, mit einem israelischen Background, Cousins und Cousinen in Israel, da und dort, Chawerim von früher, die jetzt in der Zahal sind…
Wieviel absurder, der naheliegende Gedanke dort zu sein, wo alle andern sind? Aber wo sind alle andern? Sie haben sich so von den Selbstverständlichkeiten von früher entfernt. Diese Selbstverständlichkeiten sind Vergangenheit! «Am Israel, le’an atah holech? Volk Israel, wohin gehst Du mit mir?»
Jerusalem ist so schön im Frühling! «Schir haSchirim»: Das Lied der Lieder, das Hohelied! Du musst nicht religiös oder spirituell sein, um hier ständig die Geschichte aller dieser Leute zu sehen und zu hören. Sie schreien sie Dir dauernd in den Kopf, der Ohren hat. Eine junge Frau irrt verzweifelt zwischen anonymen Hochhauswohnblöcken, und schreit «mais écoute… non, tu ne veux pas que je retraumatise Maman, non, mais, écoute!»
Die gebildete arabische Dame, mit der ich gestern plauderte, zeigte mir voll Stolz das TED-Video ihrer Nichte, in dem diese in brillantestem English ihre so schwierige Identität als arabische, palästinensische, junge Frau mit israelischem Pass erklärt, als Bürgerin eines Staates, der ihr grundlegende Rechte der Selbstbestimmung jeder Bürgerin vorenthält.
Ich gehe durch das zunehmend abendliche Jerusalem, welches aus der ersten Hitze erwacht, durch Strassen mit vielen Kindern, jungen Familien. Pushnachricht Ha’arets: Im Süden des Staates flüchten die Menschen in die Bunker. Abfangraketen sind in Tel Aviv zu sehen. Die Leute hier sind mir tatsächlich nahe. Und ich weiss wie nahe auch der Tod jetzt in Gaza ist, so unvermeidlich für einfache Menschen, so schrecklich.
Am späteren Abend sitze ich in einem improvisierten Freiluft Pub. Eintritt frei, man kauft sich ein Bier und einen Burger vom offenen kleinen Grill am Eingang. Die vielleicht dreissigjährige Sängerin, eine dickliche lockige Ausgabe meiner Tochter, singt mit mächtiger Stimme Songs aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern. Hier wird nur Hebräisch gesprochen, aber alle sind amerikanischer Muttersprache. Eine alte Dame neben mir, vielleicht nur wenig jünger als ich, verlangt Ruhe: «Scheket». Die geballte Ladung Schmalz wird von den meisten ehrfürchtig inhaliert. Jetzt singt sie «Nothing’s gonna change my world».
15.5.23:
Der Abend ist früh und die Dämmerung kurz; wir sind weit im Süden. Bis nach Mitternacht lassen Auto Poser ihre Motoren so aufheulen, dass ich mehrmals zuerst an eine Alarmsirene denken muss. In der Nacht höre ich Schüsse. Sehr weit weg können sie nicht sein; oder sind es bloss Fehlzündungen der Rowdies? Feuerwerk an Hochzeiten, oder doch Schüsse an Hochzeiten? Trotz Wind und trocken heissem Wetter plagen mich einige Mücken. In der Nacht beginnt ein Amsel artiger Gesang schon bevor die Muezzin von Abu Tor aus dem Tal herauf singend zum ersten Gebet rufen. Jeden Morgen kommt die Müllabfuhr, noch in der Dunkelheit vor der Amsel und Muezzin, oder kurz nach Sonnenaufgang.
17.5.2023:
Wenn man den Medien glauben soll, herrscht Nervosität in der Stadt. Morgen ist Jerusalemtag, an welchem der jüdischen Wiedereroberung der ganzen Stadt Jerusalem im «Sechstagekrieg» von 1967 gedacht wird. Die Nationalisten aller Couleur haben zu Märschen Richtung Altstadt und Klagemauer (Tempelberg-Westmauer) aufgerufen, von allen Seiten und überall her, auch aus den Siedlungen aus dem besetzten Westjordanland. Muslime wurden aufgerufen, den Tempelberg und die Al-Aksa Moschee zu «beschützen». Der Polizeichef der Stadt hat erklärt, dass er keine Toleranz gegenüber Gewalt von welcher Seite auch immer üben werde.
18.5.23:
Die Geschäfte und Restaurants in der Altstadt sind fast alle mit schweren Eisenblechen verschlossen. Nur an einer Gasse sehe ich noch viele farbig leuchtende geöffnete Läden. Ich frage nach dem Preis eines schönen Tellers. Ein knappes Duzend höchstens 15-jährige Jungen stürmen, «Ein Volk, ein Volk» rufend in die Gasse. Die Händler schliessen hastig ihre Lokale. Schon bevor zwei Polizistinnen zur Stelle sind, haben zwei israelische Damen die Jungen mit grossmütterlichen Ermahnungen in verdutzte, mit eingezogenen Köpfen davon schleichende Knaben verwandelt. Wo sonst die Trambahn bergaufwärts kommt und beim Jaffa-Tor abbiegt, spielt eine Band. Hunderte von Jungen tanzen auf der Strasse. Ein alter Pressephotograph mit Gehstock und zwei grossen am Hals baumelnden Teleobjektiv-Kameras posiert mit den Polizeioffizieren vor Ort. In den Medien lese ich, dass Presseleute von Demonstranten verprügelt worden seien. Zehntausende fast ausschliesslich Junge mit Israelfahnen an Stangen oder als Umhang ziehen durch das Jaffator Richtung Klagemauer. Extremere Gruppen tragen Fahnen welche die Errichtung des Dritten Tempels fordern: Dein Reich komme, Dein Drittes Reich?! In einem tiefen Hof, eine ausgegrabene, von dorischen Säulen gesäumte römische Marktgasse, tanzen mehr als hundert Jugendliche der rechtsgerichteten Beitar mit Trommeln und wildem Schwenken von blauweissen Fahnen singen sie «Jerusalem aus Gold» in einer Fussballerversion.
20.5.23:
Die Nacht von Freitag auf den Samstag ist immer sehr ruhig. Die Schabatruhe ist eine Wohltat, auch am Morgen kaum Geräusche von Menschen. Männer gehen raschen Schrittes zu ihrer Synagoge, die einen in diese und die anderen genauso schnell in die entgegengesetzte Richtung. Ich sitze auf meinem Balkon und lese die Zeitungen.
Plötzlich Geschrei: Auf dem Gehsteig liegt eine korpulente Frau. Ich renne aus dem Haus um zu helfen. Die Frau schreit lauthals; also schon mal nichts unmittelbar Lebensgefährliches. Sie liegt bäuchlings halb auf ihrem linken Arm, der völlig verdreht unter ihrem Körper hervorlugt. Vermutlich ist der Oberarmknochen gebrochen. Ein anderer Mann kommt hinzu, er sei Pfleger. Die Sanität sei gerufen worden. Ich ziehe mich auf meinen Balkon mit Kaffee und Zeitungen zurück. Ein Motorrad-Arzt und zwei Sanitätswagen brauchen darauf fast eine Stunde bis sie die schreiende Frau soweit sediert haben, dass sie mit Krankenwagen abtransportiert werden kann. Es kehrt Ruhe ein, bevor die Familien feierlich aus den Synagogen nach hause schlendern. Einige Söhne und manchmal auch eine Tochter in Uniform oder auch nicht trägt ein leichtes Maschinengewehr, nicht selten sieht man eine Pistole an einem Gurt. Synagogen oder jüdische Familien auf ihrem samstäglichen Weg zur Synagoge könnten Ziele sein.
Am Abend strömen Tausende von begeisterten Mädchen auf den Platz vor der Westmauer, Kotel hama’aravi, Klagemauer. Jungen sind heute Abend viel weniger zu sehen. Warum? Ich werde die Lehrerin fragen.
21.5.23:
Die Front meines Morgen-Kaffee-Kaffeehauses ist in der Nacht auf heute Sonntag von einem Elefanten eingedrückt worden. Unklar wie es geschehen konnte, genau zwischen zwei schwere Eisenpfosten hindurch kann kein Auto mit Wucht gegen die Fassade gefahren sein. Es scheint eine kleine Bombe oder Handgranate gewesen zu sein, niemand kam zu schaden und niemand macht ein grosses Aufheben. Hat ja nicht mal gereicht, die Fassade einzudrücken. Und der Verkauf über die Gasse ist im Café auch heute möglich. Es reicht nicht einmal in die lokalen Nachrichten. Mein Freund zuhause in der Schweiz meint, das sei unheimlich.
22.5.23:
בלילה ישנתי במיטה. היה כמעט שקט גמור. רק רעש רחוק של העיר ולזוזי של יתוש מעצבן. בחלום היה לי טבעת עם כתר זהב שכאב בעצבע הטבעת. גם מהיתוש היה שקט עכשיו. פתחתי עין אחד שלי. על עצבע הטבעת כנפי היתוש זרחו באור נר הרחוב. הרגתי אותה. חצי בישן ניסיתי לתרגם את הסיפור שאני סופר עכשיו.
In der Nacht schlief ich in meinem Bett. Es war fast völlig still. Nur der ferne Lärm der Stadt und das Summen einer lästigen Mücke. Im Traum schmerzte ein Ring mit goldenem Krönchen an meinem Ringfinger. Sogar die Mücke war jetzt still. Ich öffnete eines meiner Augen. Am Ringfinger leuchteten die Flügel der Mücke im Licht der Straßenlaterne. Ich habe sie erschlagen. Im Halbschlaf versuchte ich, die Geschichte, die ich jetzt erzähle, auf Hebräisch zu übersetzen.
[1] There’s nothing wrong with the past – unless we live there: Eleven past one