Mein Vater

Mein Vater war schon lange der Ansicht, dass jüdische Menschen in Israel mehr gefährdet sind als sonst wo auf der Welt, und der Untergang des Staates Israel wäre nicht das Ende des Judentums. Diese Ansichten waren gefährlich und hätte manchen Zionisten zur Weissglut oder noch Schlimmerem treiben können. Seit dem 7. Oktober 2023 ist diese Tatsache auf schreckliche Weise unübersehbar, und sogar das Ende des Judentums ist wieder denkbar geworden.

Mein Vater erzählt angeblich jüdische Witze, die schon sein Vater erzählte. Seine Witze sind so böse, dass sie hochaktuell geworden sind, in unserer Zeit die für uns Juden vernehmbarer und weltweit böser als auch schon trommelt und trommelt und trommelt.

Kennst Du den bösesten jüdischen Witz?

Kennst Du den Witz von der Mausefalle, dem Speck und der Rasierklinge? Nein? Eine Rasierklinge wird aufrecht stehend auf ein Holzbrettchen gesteckt. Ein Speckstück wird auf eine Seite der stehenden Rasierklinge gelegt. Ein Speckstück in einem jüdischen Witz? Warte doch, es heisst doch mit Speck fängt man Mäuse. Und das ist lustig? Nein, noch nicht, und Du kannst anstatt Speck auch Käse nehmen. Also das Mäuschen kommt zur Mausefalle. Es blickt über die Rasierklinge und reckt seinen Hals. Es sieht den Speck, es schüttelt langsam den Kopf am langen Hals über der scharfen Klinge und sagt, «nein nein, das ist keine Mausfalle».

Mein Vater verblüfft mit Geschichten über alles und jedes, noch mehr als schon sein Vater es tat. Die Geschichten seines Vaters und der ganzen Mischpoche hat er in seinen Büchern aufgenommen:

«Der kleine Juhude»:
«Ich bin ein Schweizer Juhude und hab› die Heimat lieb!»
Die über Jahrhunderte reichende Familiensaga beginnt mit dem Pogrom von Zürich. Vom Hochmittelalter bis heute, geht die Geschichte des kleinen Juhuden weiter in eine dystopische Zukunft, in der das Opfer der Juden mit einer ganz neuen und anderen Systematik gefordert wird.

«Mühlesteg»: Nemo ist am Mühlesteg im Zentrum von Zürich aufgewachsen, in Häusern, welche damals zwischen zwei Brücken im Flussbett des Stadtflusses Limmat standen. In der Kindheit meines Vaters war Nemo ein wichtiger Mensch, denn Nemo war der beste Freund seines Vaters. Nemo war Journalist und hiess eigentlich Johann Peter Scherrer; Nemo war sein Pseudonym.

«Sucht und Freiheit»: Mein Vater ist kein religiöser Mensch. Aber auch sein Judentum begründete sich zuerst einmal nicht aus der Bedrohung sondern aus dem Licht der Befreiung des Menschen. Er hat ein Manuskript über grundlegende Bedingtheiten des Denkens geschrieben .  Eine dieser Bedingtheiten ist der Bezug des abendländischen und des morgenländischen, des christlich und des muslimisch geprägten Denkens zum Judentum. Das moderne Denken wurde weit über die von Philosemitismus und Antisemitismus umfassten Begriffe hinaus vom Judentum grundlegend durchdrungen. Die Annahme und die Ablehnung der jüdischen Gedanken durchdringt jedes moralische Urteil unseres Denkens. Das philosophische Büchlein meines Vaters lehnt sich eng an das Denken von Baruch Spinoza an. Spinoza hat mit seinem Denken die Aufklärung mehr angestossen, als den meisten Menschen heute bewusst ist. Spinoza, sein Leben und die positive und negative Aufnahme seiner Gedanken sind für das säkulare Judentum exemplarisch. Sie sind für das Denken und die Geschichte der Aufklärung exemplarisch, ja fast eine Bedingtheit. Das Büchlein beschreibt weitere Bedingtheiten des Denkens ausführlich. Sucht ist nur eine davon.

Mein Vater, oder war es sein Vater lässt grüssen.
Seidenberg /  Zawidow / Har Meshi / הר משי