Das Judentum auf dem Altar der Erlösung

Der 7. Oktober 2023 hat jeden jüdischen und noch viel mehr nichtjüdische Menschen getroffen. Wir ringen um unsere Position und viele versuchen die andern von ihrer Position zu überzeugen. Eine Erlösung von den Problemen wird gewünscht. Eine Lösung der Probleme wird auf diesem Wege nicht erreicht.

Der Gazakrieg ist eine schreckliche Wirklichkeit. Aber die ganze Welt, Juden und Nichtjuden in Ländern mit christlichen und muslimischen Wurzeln diskutieren über Positionen, letztlich Befindlichkeiten. Nicht die Frage, was zu tun ist, steht im Raum, sondern unsere Befindlichkeiten.

Die Judenfrage steht wieder im Raum. Die Frage nach dem Antisemitismus stellt immer auch die Frage nach dem Judentum. Wer definieren will, was als antisemitisch zu gelten hat, definiert immer mit, was das Judentum ausmacht. Zu definieren was das Judentum ausmacht, steht mir aber nicht zu.

«Ich habe keine Ahnung, was das Judentum ist, aber auf keinen Fall, will ich ein Antisemit sein.»

Als Jüdin oder Jude kann ich allenfalls für mich formulieren, was mir das Judentum bedeutet. Aber das wollen alle diese verunsicherten Menschen mir auf keinen Fall zugestehen. Als Jude soll ich akzeptieren was sie definieren, wer und was ich sein soll. Das war schon immer so, wegen der Schoa, wegen dem Holocaust, und schon vor dem Holocaust wegen dem Kreuz, an dem der Jude Jesus zu Tode gefoltert wurde, als Opfer für die Erlösung der Menschheit. Das war auch so, als die Juden dem Propheten Mohamed und seinen Heerscharen des einzig wahren Gottes in Medina und in anderen Städten der arabischen Halbinsel im Wege standen. Der Jihad für den allumfassend erlösenden Sieg musste schon immer das Judentum siegreich überwinden.

Judentum und Antisemitismus sind banale Bedingtheiten unseres Denkens, sie sind unabdingbar, wir werden sie aus unserem Denken nicht los, weder im christlich geprägten Abendland noch in den muslimischen Ländern.

Darf ich Netanjahu mit einem Schimpfwort bezeichnen? Ist das antisemitisch? Darf ich mich über einen orthodox gekleideten jüdischen Mann ärgern, der im öffentlichen Bus tatsächlich stinkt? Es ist unmöglich, über Juden und Jüdisches zu sprechen ohne unangenehme Gefühle zu empfinden. Es ist eine Zumutung, eine Verunsicherung, denn alles was Jude oder Jüdisches betrifft, kann mich sofort eines Ungenügens überführen, da ich etwas nicht weiss, nicht bedacht habe oder einfach nicht so geschliffen daher reden kann wie die Politiker.

Das ist kürzlich einem Sportunternehmer in Davos geschehen, der sich über einige jüdisch-orthodoxe Feriengäste und deren unsoziales Benehmen geärgert hat. Die Bagatelle wurde skandalisiert und auf den Frontseiten der Medien verhandelt. Der Präsident der jüdischen Gemeinden hat sich echauffiert, als sei die Sache von Wichtigkeit.

Nebbes, und vielleicht ist es als Schweizer Jude in einer sicheren Heimat ungehörig, sich aufzuregen. Trotzdem, die Tatsache, dass das Judentum wieder und wieder in Frage gestellt ist, dass es eine Judenfrage gibt und wieder und wieder erscheint, muss bedacht werden. Die Lösung der Judenfrage ist ein Urtopos unseres Denkens.

Der Bezug auf die eigene Gefährdung wurde uns Juden am 7. Oktober 2023 wieder realer und dringlicher gestellt. Die zionistische Fiktion des jüdischen Staates als Hort und Schutz des jüdischen Volkes bekam unübersehbare Risse. Nirgendwo auf der Welt sind so viele Juden tödlich bedroht, wie in Israel. Wie hohl erscheint die Behauptung des politischen Zionismus, erst der Staat Israel habe das Judentum zum Herrn seiner eigenen Geschichte, zum autonomen Subjekt gemacht.

Der politische Zionismus wollte die Judenfrage lösen. Der Staat Israel brachte das Judentum erneut auf den Altar der Erlösung. Ist der politische Zionismus nur einer der jüngsten Heils- und Erlösungs-süchtigen Sprösslinge des Messianismus? Das Christentum, der Islam, die Aufklärung, Kant, Hegel, Marx, Stalin, Hitler, alle stellten die Judenfrage als Prüfstein ihrer Ideologie. Die Beantwortung der Frage erfolgte immer wieder blutig. Geht mich das gar nichts an?

Was tun? (vgl. hiezu)