Sucht und Freiheit

Copyright André Seidenberg, Zürich Juni 2024 → English Version

Das Heil der Welt oder nur weniger Probleme? Beide Fragen werden in meinem neuen Buch diskutiert. Hier können Sie anfangen zu lesen.

Die Schweizer Opioidkrise des vergangenen Jahrhunderts hat erfolgreiche Elemente im Umgang mit Suchtproblemen gezeigt. Die praktische Erfahrung des Arztes führt zu konkreten Vorschlägen und verknüpft sie mit den grundlegenden Fragen des Nachdenkens über das Leben.

Das Thema Sucht ist Teil meiner Lebensgeschichte geworden. Als Arzt habe ich dreieinhalb Tausend opioidabhängige Menschen persönlich getroffen, gekannt, und manchmal ein halbes Leben lang begleitet, begleitet in ihrer Opioidabhängigkeit, in einer Sucht, aus der sie kaum einen Ausgang fanden. Die meisten lernten, sich mit ihrem endlosen Leiden zu arrangieren. Die Sucht hat sie nicht losgelassen, das Leiden war nicht geheilt, aber eingedämmt. Die Einschränkung, mit welcher Sucht einhergeht, war am kleinstmöglichen Ort in ihrem Leben zurückgedrängt, eingedämmt. Diese Hilfe mag gering erscheinen, aber meist war sie entscheidend.

Ein Hoffnungsverkäufer mag ein erfolgreicher Arzt sein, aber es kommt der Moment, wo er ein schlechter Arzt sein wird. Dieses Buch ist nicht erbaulich. Es hilft Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, nur etwas mehr Realität zu gewinnen.

Sucht ist oft eine unheilbare Krankheit, bei Opioiden fast immer. Bei vielen anderen Suchtmitteln finden die meisten Menschen wieder einen Weg aus der Sucht heraus. Bleibende Narben sind bei allen Süchten trotzdem nie auszuschliessen. Sucht findet ihren Weg der Zerstörung, wie viele andere Krankheiten auch.

Und noch schlimmer: Sucht ist in uns allen angelegt und betrifft heute die Menschheit.

Sucht ist menschlich. Nur der Mensch kann Tiere oder Menschen in süchtige Abhängigkeiten bringen. Sucht ist in unserer Biologie grundlegend angelegt, aber nur der Mensch kann sich Begehren in süchtiger Weise hingeben. Nur der Mensch kann Bedingungen schaffen, welche Sucht ermöglichen.

Sucht ist gefrässig und droht uns Menschen zu zerstören. Sucht könnte die Geschichte des Menschen beenden, da wir die Endlichkeit der irdischen Ressourcen aus unserem Handeln ausblenden können. Unser Denken und Handeln ist durch Sucht grundlegend korrumpierbar. Darum lohnt es sich, diese Bedingtheit unseres Denkens genauer zu untersuchen.

Der Rausch ist ein uraltes menschliches Bedürfnis, aber Sucht ist neu. In der ganzen Menschheitsgeschichte herrschte vorwiegend Mangel. Darum ist Sucht erst seit wenigen Dekaden für jede und jeden möglich, und ein uns alle betreffendes Problem geworden. Wir alle sind von irgend etwas abhängig: Nikotin, Alkohol, Schlaf-, Beruhigungsmittel, Esssucht, Magersucht, Sexsucht, Spielsucht, TV, Handy, Arbeit, Sport, Geld, Machtstreben, Rechthaberei, etc.

Alle unsere Motivation wird vom Belohnungssystem gesteuert. Es gibt keine Schönheit und keine Wahrheit unabhängig von Dopaminausschüttungen im Nucleus accumbens. Die Korrumpierbarkeit unseres Denkens ist offensichtlich. Über Sucht nachzudenken, lohnt sich. Über Sucht nachzudenken, ist notwendig, aus schierer Selbsterhaltung.

Hoffnung sucht Belohnung. Jede Hoffnung stimuliert belohnende Impulse im menschlichen Gehirn. Jede Hoffnung kann süchtig machen. Hoffnungssüchtig, trunken vor Hoffnung torkeln wir jedem geschickten Hoffnungsverkäufer nach, marschieren in Hoffnungsvereinen, grölen deren Parolen und singen ihre Lieder. Hoffnung ist notwendig und ihre Realität muss immer gesucht werden. Die Lage ist nicht hoffnungslos. Wir können Probleme mit Sucht bewältigen und auch als Menschheit überleben.

Unsere Existenz, unser Streben, ist im Leben, im Diesseits, nicht im Jenseits oder Tod. Wir stehen auf der Seite des Lebens, solange wir leben. Mehr Hoffnung, gibt es nicht. Wer weiss schon persönlich wo er steht, wenn der Tod ruft? Für den Arzt ist die Wahrheit bis an den Tod die Leitschnur seines Handelns. Der Arzt begegnet dem grossen Schrecken nicht gerade selten. Angst kann das Denken beeinträchtigen. Aber Furcht vor dem, was Schreckliches sein könnte, was es Schreckliches tatsächlich gibt, diese Furcht ist berechtigt und angebracht. Und fast jeden denkbaren Schrecken gibt es tatsächlich. Jede Verkleinerung der Realität kann schaden.

«Die Affekte der Hoffnung und Furcht können nicht an und für sich gut sein»[1], sagt Baruch Spinoza[2] in seiner Ethik. Hoffnung, Schrecken und Gefahr sind nur gut oder schlecht insofern unsere Gefühle affiziert sind. «Wer von der Furcht geleitet wird und das Gute tut, um das Schlechte zu meiden, der wird nicht von der Vernunft geleitet.»[3]

Was ist das Streben, Spinozas Begriff Conatus, das Begehren, die Begierde? Was treibt uns an, bis wir nicht mehr weiter wissen, getrieben, in die Enge getrieben sind? Was ist dieser Trieb, der uns ein Leben lang leitet, aber uns auch in die Irre führen kann. Immer wieder finden wir diesen Trieb in allem: in allem was wir suchen, in allem, was wir gut finden, wohin wir wollen, was wir wahr finden, schön finden, in allem, was wir sind.

Die dauernde Getriebenheit durch unsere Bedürfnisse, und so auch der Rausch und die Sucht, zeigen auf unsere Subjektivität. Aber alle diese erfassen das Subjektive nie. Wie Spinoza mit seinem Begriff Conatus hat Freud mit seinem Begriff der Libido und des Es auf die Omnipräsenz des Subjektes hingewiesen und mit seiner Forderung «wo Es war soll Ich werden» [4] auf die Heilkraft des Bewusstseins gesetzt.

Der Zwiespalt zwischen Leben und Tod existiert, im Leben vor dem Tod.

Genügt die Freude darüber, dass wir Teil dieses unbändigen Lebens sind? Bis in die Unendlichkeit wünschen wir immer noch mehr. Menschen in existentiellen Situationen zu begegnen, ist für den Arzt eine tägliche Last und ein grosses Glück. Die schiere Selbsterhaltung, von was sonst soll er sich leiten lassen? Was ist wichtiger: Hoffnung oder Wahrheit, Freiheit und das Recht des Menschen?

Religion, Mystik und alternativer Hokuspokus werden als harmlose private Hilfen angesehen, gerade bei Krankheit und Sucht. Aber jeder Obskurantismus kann schaden. Das vorliegende Buch beleuchtet auch einige religiöse Dinge, aber hat keine religiöse Absicht. Schon für das traditionelle Judentum erstreckt sich die Allumfassenheit Gottes[5] im Diesseits, von und bis in die Unendlichkeit. Auch Spinoza sah sich als Teil der Unendlichkeit der Natur Gottes, und dieser Gedanke erschien ihm sogar ein Trost. Obwohl Spinoza jeden Obskurantismus aus der Realität bannen wollte, suchte er darin Erlösung zu finden.

Die Menschen stehen oft im «Banne des Aberglaubens … [da] sie keinen Plan ergreifen können und … meistens kläglich zwischen Hoffnung und Furcht schwanken, ist ihr Sinn in der Regel geneigt, alles Beliebige zu glauben… Im Banne des Aberglaubens … ersinnen sie unzählige Dinge und deuten die Natur, ganz als ob sie ihren Wahn teilten, auf sonderbare Weise.»[6] Die Entkleidung der Welt vom Gestrüpp und den Gespenstern des Aberglaubens, von jeder Furcht und Hoffnung[7], hinterlässt keine absolute Wahrheit, sondern nur noch bedingte Wahrheiten. Die allumfassende Wahrheit liegt in einer vom Menschen erstrebten, unerreichbaren Unendlichkeit.

Aber Doktor, wir brauchen doch eine allgemeine Wahrheit. Wie willst Du Deine Patienten behandeln können, die Vielheit der Menschen, ohne eine wissenschaftliche allgemeingültige und konkrete Wahrheit? Du wärst doch handlungsunfähig!

Karl Marx fragte zu Recht nach der richtigen Praxis: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.»[8] Marx wollte der Philosophie des Idealismus’ Beine machen, sie vom Kopf auf die Füsse des Materialismus stellen. Aber dazu musste der Marxismus das Individuum, das Subjekt, praktisch abschaffen.

«Was tun?»[9] Auch wenn sie schon grauenhaft benutzt und schrecklich pervertiert wurde, die Frage bleibt notwendig, gerade angesichts des individuellen Menschen. Für jeden Arzt ist die Frage unmittelbar, praktisch und unverzichtbar. Wenn die Verzweiflung noch so gross ist, darf der Arzt seinen Verstand nicht verlieren, ob aller Not und Gefühlen.

Was tun in dieser Welt? Ärztinnen und Ärzte stellen sich die Fragen des Lebens sehr konkret. Schon in der Zeit meines Studiums sind Freunde und später Patienten verwahrlost, erkrankt, verschwunden, in realen und anderen Gefängnissen verelendet und gestorben. Und noch mehr Menschen haben die Suche nach Freiheit und allem anderen irgendwann aufgegeben, in eine Ecke gestellt, verschoben, aber ein Leben lang mit Sehnsüchten vermisst. Rausch und Exzess sind nicht dasselbe wie Sucht. Aber Sucht ist eines der Gefängnisse, von denen hier die Rede ist.

Grosse Teile der staatlichen Obrigkeit waren bis in die Achtziger Jahre hinein der Ansicht, dass sie in die Körper und Geister der Menschen hinein regieren müssten. Sie wollten uns Ärzte als Repressionsinstrumente gegen Drogensüchtige einspannen. 1985 versuchte die Zürcher Gesundheitsdirektion die Abgabe von sterilen Spritzen und Nadeln an Drogenabhängige zu verbieten. Mit unserer Generation von Ärzten war das nicht mehr möglich. Die Ignoranz und die Überheblichkeit der Behörden und der Ordinarien waren für unsere Patientinnen lebensgefährlich.


Bild: Gertrud Vogler (Sozialarchiv Zürich)

Aids war eine neue Krankheit. Zürich und die ganze Schweiz waren von HIV und Heroinsucht mehr betroffen als jedes andere Land in Europa. Hunderte von Ärzten weigerten sich, dem Erlass des Kantonsarztes in Zürich zu folgen. Sie erklärten, dass sie weiterhin sterile Injektionsutensilien an Süchtige abgeben werden. Wissenschaftliche Grundlagen und Evidenz waren bezüglich HIV/Aids und auch bezüglich Suchtkrankheiten spärlich. Wie eine Katastrophe kamen diese Seuchen über unsere so wohl geordnete Stadt und unser schönes Land. Die schrecklichsten Dinge platzten wie Eiterbeulen in die Sicht der Öffentlichkeit: Süchtige Täter, süchtige Opfer, süchtige schwangere Frauen, die an ihren quellenden Brüsten neue intakte Venen zum Spritzen fanden, Blut und Eiter, Eltern, die ihre an Aids verstorbenen Kinder beerdigen mussten, bevor sie selbst starben, ganze Familien, die in wenigen Jahren verschwanden und mehr Geschichten, die sich nur schwer erzählen lassen.[10] [11] [12]

Die Kraft einer Gesellschaft kann an ihrer Fähigkeit gemessen werden, Menschen an ihren Rändern aufzunehmen und zu halten. Der kranke Mensch, der sieche Mensch, der Mensch mit Siechtum[13], Lepra, Aussatz wird nicht ausgestossen, sondern gepflegt. Die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen ist ein zentraler Gedanke des Abendlandes, und ein grundlegendes Motiv vieler Ärzte.

Was tun?[14] Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt.[15] Was kann ich schon Besseres tun auf dieser Welt? Auch ein nicht-gläubiger Mensch steht vor dieser Welt, die ihn fragt: Wo bist Du?[16] In jedem menschlichen Antlitz erblickst Du diese Fragen.

Keine Sorge, dieses Buch will zu keinem Glauben, nur zum Denken verführen. Es müssen viele Gedankenbögen gespannt werden, viele Denkfahrzeuge vorgestellt werden, viele Materialen aus Philosophie, Biologie, Medizin, Physik, Mathematik und sogar Theologie zusammengetragen werden. Ein gutes Buch ist wie ein Hologramm, in welchem in jedem Teil der ganze Inhalt aufleuchtet. Das gelingt mir nicht. Der Aufbau des Buches gleicht eher der Doppelhelix eines Chromosomenstrangs. Er wird nicht nur linear abgelesen und in die Sprache eines Eiweisses übersetzt, sondern rekursiv greift der Prozess immer wieder auf dieses oder jenes Teil zurück, um die weitere Entwicklung zu regulieren. Das auf und ab und Drehen der Gedanken will unterhalten und die Bedingtheit des Denkens verdeutlichen. Also wünsche ich Geduld und Vergnügen.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort 2
Freiheit 6
Sucht 9
Bedingtheiten. 14
Spinoza. 18
Hologramm.. 26
Belohnungssystem.. 39
Opioidkrise. 47
Abstinenz. 56
Zivilisation. 67
Rausch. 70
Francesca. 71
Drogenpolitik. 7
Inhalativa. 77
Kokainversuche. 79
Jim.. 83
Gott 87
Einheit 92
Sicherheit 100
Individualität 104
Wahrheit 107
Leviathan. 117
Mangel 125Denken. 127
Vorwort 2
Freiheit 6
Sucht 9
Bedingtheiten. 14
Spinoza. 18
Hologramm.. 26
Belohnungssystem.. 39
Opioidkrise. 47
Abstinenz. 56
Zivilisation. 67
Rausch. 70
Francesca. 71
Drogenpolitik. 7
Inhalativa. 77
Kokainversuche. 79
Jim.. 83
Gott 87
Einheit 92
Sicherheit 100
Individualität 104
Wahrheit 107
Leviathan. 117
Mangel 125
Denken. 127
Zeittafel 134

[1] Spinoza, Ethik (Ethica Ordine Geometrico Demonstrata), posthum, Ethik IV.47

[2] Baruch Spinoza, Benedictus de Spinoza, 1622-1677

[3] Spinoza, Ethik IV.63

[4] Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 1900

[5] אין סוף, En Soph, Unendlichkeit.

[6] Spinoza dachte diese Unendlichkeit allerdings in einer so unmittelbaren Nähe, dass sein asketisches Leben und Denken davon spirituell durchdrungen erscheinen. Die Bedingtheit der menschlichen Existenz, hat Spinozas Denken nicht sehr beschäftigt.

[7] Spinoza, Tractatus theologico-politicus TTP, Vorrede

[8] Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 1845, 11. These.

[9] Wladimir Illjtsch Lenin, «Что делать?» Was tun? 1902. Der Titel geht zurück auf den 1863 im zaristischen Gefängnis geschriebenen Roman von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828 – 1889)

[10] Grob P J: Zürcher «Needle-Park», 2009

[11] Sieber E: Platzspitz, Spitze des Eisbergs, 1991

[12] Seidenberg A, Das blutige Auge des Platzspitzhirschs. Meine Erinnerungen an Menschen, Seuchen und den Drogenkrieg. 2020. Und auf der Website: https://seidenberg.ch/platzspitz/platzspitz-chronik/

[13] Im schweizerdeutschen Gsüchti, Gicht, klingt die Wortwurzel Sucht noch deutlich an

[14] Karl Marx, der aus opportunistischen Motiven getaufte Sohn von Rabbinerfamilen, hat vielleicht den jüdischen Hintergrund seiner Frage nach dem Tun verdrängt. Den Nachhall der schrecklichen Irrungen der marxistisch gefassten Frage ertönt beispielsweise heute in den Heils-Rufen für die Hamas, durch LGBTQ und Klimaaktivist*innen. Die parteiische Fassung der Frage was zu tun ist, beleuchtet auch die schrecklichsten Szenen des Nationalismus.

[15] Talmud, Sanhedrin 37a

[16] Hineni הנני! Hier bin ich! 1. Mose 22. Hineni und Tikun Olam תיקון עולם sind Stichworte eines messianischen