Alexander

Alexander Walterowitsch Netter wusste nicht, dass er seine Frau und seine beiden Söhne erst nach vielen Jahren wieder sehen würde. Der Krieg war nicht glorreich und die Revolution zerstörte das Russland, das er so liebte. Netter, der Sohn eines westeuropäischen Diplomaten und einer russischen Gräfin kämpfte zunächst als Hauptmann der Freiwilligenarmee und dann als Major der weissen russischen Armee in der Ukraine. Im Dienste seines Schwiegervaters, Alexander Pawlowitsch Kutepow, hatte er dort aufgeräumt mit dem kommunistischen Pack und Judengesindel. Aber der Besen war zu klein geworden und am Schluss mussten sie schmählich fliehen. Es nützte nichts mehr, dass er sich durch rote Horden, durch stinkende Massen von Itzigs gepflügt und im Blut der Sozialisten und Juden gebadet hatte.

Fast betteln musste er bei den alliierten westlichen Mächten, damit ihn das letzte Schiff von Odessa nach Gallipoli auf die Dardanellen mitnehmen durfte. Als er die Reste seiner Truppe auf das sichere Schiff gebracht hatte, konnte er seine beiden Töchter nicht mehr an Bord holen. Schüsse pfiffen durch die Luft und Kanonendonner waren zu hören, als das Fallreep hochgezogen wurde.

Seine schönen Töchter kamen zu spät, hinter ihnen rannten die Verfolger, erreichten und packten sie. Tinas und Sinas Schreie gellten über die Pier als sie der roten Meute zu Opfer fielen. Herzergreifend und vergeblich riefen sie um Hilfe als sich das Schiff von der Mole löste. Major Netter vermutete einen bösen Handel zwischen dem britischen Kommandanten und dem jüdischen Teufel, Politkommissar Rafail Abramowitsch Gross.

Dass seine Töchter Theater spielten und sich schon lange den sozialrevolutionären Narodniki angeschlossen hatten, konnte sich Alexander Walterowitsch nicht vorstellen. Dass die Töchter froh waren, ihren reaktionären tyrannischen Vater loszuwerden, war für Netter undenkbar. Noch weniger hätte er sich vorstellen können, dass sie mit einem politischen Propagandazirkus zusammen mit einem Schweine dressierenden jüdischen Clown durch die Lande zogen und sich dem grölend, geifernden Publikum von Bauern und Proleten als die Attraktion der «wirklichen und echten Prinzessinnen» darboten. Was hatte Netter doch alles unternommen für ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit.

Bis zur Oktoberrevolution waren sie bei seinem fürstlichen Onkel in St. Petersburg noch willkommen gewesen. Als Walterowitsch in einer dunklen Nacht zu Fuss zum Palais seines Onkels unterwegs war, stiess er an einer Ecke unversehens mit dem früheren Hauslehrer zusammen. Er lüpfte höflich seine Uniform-Mütze und entschuldigte sich sogar schon, als er erst erkannte, mit wem er da kollidiert war: «Rafail Abramowitsch!»

Mit seiner Pistole schoss Walterowitsch dem Flüchtenden nach. Aber er verfehlte den verdammten, steckbrieflich gesuchten, jüdischen Spion.

In der Kommandantur bestätigte sich der Verdacht. Den Offizieren der zaristischen Garde lag die neue geheimdienstliche Liste der revolutionären Kader vor. Darauf stand auch der Name Rafail Abramowitsch Gross. Mit dem Genossen Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, hatte es Gross heimlich und mitten im Krieg geschafft, im plombierten Wagen per Eisenbahn quer durch das deutsche Kaiserreich nach St. Petersburg zu gelangen, nach Russland in die Revolution.

Alexander Netter wusste nicht, dass dieser Zusammenstoss kein Zufall war und dass seine beiden schönen Töchter mit ihrem früheren Hauslehrer zusammenarbeiteten. In den Wirren der Revolution brachte sie der Vater an immer wieder neuen Orten hinter der Front unter. Diese berichteten aber den Roten über die Zusammenkünfte der hohen zaristischen Offiziere im Haus der sie gerade beherbergenden fürstlichen Gastgeber. Auf geheimen Wegen schlichen sie zu konspirativen Treffen auf abgelegenen Bauernhöfen, Scheunen und in anderen Verstecken. Wochen lang verschwanden die beiden jungen Frauen und tauchten bei den Roten unter.

Abramowitsch war ihr offizieller Führungsoffizier. Er befahl sie dahin und dorthin. Als adlige Töchter auf der Flucht konnten sie sich an immer neuen Orten einschleusen. Die reizenden, unschuldigen Kinder Alexander Walterowitschs und der Gräfin Netter-Kutepow, die Enkelinnen des berühmten Generals Alexander Pawlowitsch Kutepows, begannen die Weissen mit allen Tricks auszuspionieren und zu verraten.

Der Tod drohte überall und das Leben war so kurz. Beide verliebten sich und verloren den jungen Mann bald durch den immer grausameren Bürgerkrieg. Auf den Schleichwegen durch die Linien konnte an jedem Baum neben der Strasse ein Gehenkter baumeln; im Graben hinter jedem Dorf sahen sie Leichen, manchmal ineinander verschlungen, in der Hitze stinkend aufgedunsen, im Winter steifgefroren.

So lernten Tina und Sina auch die Leute des Zirkus‘ und vor allem dessen Clown Zawidow a Groisser, kennen. Freiheit und Sozialismus waren für diese Leute ein und dasselbe.

«Die Wahrheit muss jeder für sich selbst finden: das haben Sie doch gesagt, Rafail Abramowitsch».

«Ja, nicht genau so. Ich sage: Jeder kann die Wahrheit finden, wenn er sich anstrengt. Die Wahrheit ist objektiv. Die Partei braucht Euch, und deshalb ist es notwendig, dass ihr schleunigst wieder in die Befehlszentrale der Weissen kommt.»

«Komm sei doch nicht so! Du bist doch nur eifersüchtig. Sie wollen uns nur deswegen nicht beim Zirkus haben, Rafail Abramowitsch.»

Sie wehrten sich vergeblich. Erst nach der väterlichen Flucht mit den erbärmlichen Resten der weissen Armee auf dem Schiff, konnten sie endlich ungestört Jonas’ Zirkus anschliessen. Rafail Abramowitsch passte das überhaupt nicht. Vergeblich drohte er mit der Parteidisziplin. Die Töchter Netters scherten sich nicht darum, welches die richtige Partei sein werde. Als «Tina und Sina», wurden sie «die wirklichen und echten Prinzessinnen». Alles, was sich für Töchter von Natalie und Alexandre Netter nicht schickte, war jetzt erlaubt und sogar erwünscht. Sie konnten sich kleiden und herumtollen wie immer sie wollten. Sie rauchten Papyrossi und tranken Wodka direkt aus der Flasche. Und sie liebten ihren Clown.

Major Netter wollte mit seinen Truppen zurück auf die Krim, um weiterzukämpfen. Aber ihm fehlten die Mittel und er fand keinen Weg. Seine Soldaten desertierten und sogar Offiziere liefen davon. Als er sich geschlagen geben musste, flüchtete Netter allein durch Bulgarien nach Belgrad und Triest und von dort über die Alpen wieder in das Land seiner Vorväter. In der Nähe der Hauptstadt und im französischen Teil des Landes war keine geeignete Bleibe zu finden und man wollte ihn wohl auch nicht zu nahe haben. Also gab man ihm, dem Ostflüchtling, erneut und jetzt definitiv als Teil seines Familienerbes das für ihn so schreckliche Anwesen am Rande unserer Stadt. General Kutepow, der Schwiegervater, lebte damals im Exil in Paris und organisierte den Kampf der zaristischen Romanows gegen die Sowjets. Man traf sich mehrmals in Genf. Vergeblich versuchte man im Westen Europas Unterstützung für die weisse Front zu gewinnen.

Alexander Walterowitsch Netter konnte die Niederlage nicht verwinden. Verzweifelt über den Verlust seiner Töchter und seiner Heimat verliess er die Reste seiner ihm fremd gewordenen Familie und schlug sich über geheime Wege in die Ukraine durch. Die Stadt Jekaterinoslaw war von den Sowjets mit faulen Tricks erobert worden und hiess jetzt Dnjepropetrowsk. Der Major traf dort alte Freunde aber bald auch Feinde. Rafail Abramowitsch erwischte ihn im Bett einer tatarischen Hure, deren Zuhälter ihn an den sowjetischen Politruk verraten hatte. Erbärmlich, fast nackt, wurde Netter durch Dnjepropetrowsk gejagt. Ein rasch gewachsener Pöbel zerfetzte ihn zuletzt jubelnd auf dem Platz vor der grossen Synagoge.

Das war das Ende des Majors Alexander Walterowitsch Netter. Ohne Hosen, «sans culotte», wie irgendein proletarischer Wicht, entsetzte sich Madame Netter: «Sans culotte, quelle blamage! quelle blamage!» konnte zuverlässig jeder hören, der das Wort auf den verstorbenen Major brachte. Madame Netter betupfte sich dann sorgfältig und hüstelnd die zugespitzten Lippen an den Mundwinkeln und versorgte das Tüchlein in der Spitzenbordüre der Ärmel ihres schwarzen, mit Strass und Edelsteinen besetzten Kleides. Sie hatte weder Krieg noch Revolution erleben müssen, aber ihre Tuberkulose und das Schicksal hatte sie während vielen Jahren ausgezehrt.

→ zum Weiterlesen

→ zum Weiterlesen