Chawe

Niemand konnte mehr sagen, wann und wie Chawa ins Beer’sche Haus gekommen war. Sie war einfach da. Jede und jeder mochte sie, auch wenn oder vielleicht weil sie Chawa war, das gescheiteste und schönste Kind im wahrlich mit Geist und Schönheit reich gesegneten Hause Beer.

Der Hausherr höchstselbst hatte sich auf die Suche nach der Mutter von Chawa gemacht. Er fand die Frau sterbenskrank in einem stinkenden Verschlag. Cerf Beer liess den Doktor kommen, aber es war zu spät. Am Grab ihrer Mutter hielt Cerf Beer das kleine Mädchen an der Hand und sprach das Kaddisch-Gebet. Chawa gehörte nun zum Hause Beer wie viele andere Mädchen auch, die er in seinem Heim aufgenommen wurden. Aber Cerf Beer musste sich eingestehen, dass die Kleine mehr in ihm weckte als die anderen Mädchen und Frauen. Er hatte sich in Gleichmut geübt und sogar sicher gefühlt, jedes seiner Kinder erhielt alles nach seinem Mass. War seine Liebe gerecht? Nein, denn Cerf Beer wusste, sie war selbstgerecht. Wie kann der Mensch anders? Er ist so.

«Chawa mit der Schlang’
alle Menschen tun mir Bang!»

Chawas Mutter hatte das kleine Mädchen fortgeschickt, als sie merkte, dass sie es nicht mehr schaffen würde. Als Letztes hatte sie zu Chawa gesagt: «Geh zu Hirsch Bär, er ist der beste Mann, den es gibt.»

Und mehr als einmal hatte sie zu Chawa gesagt: «Chawa ist die erste Frau der Geschichte, sie ist die Klügste, Stärkste und Schönste. Sie hält die Schlange in der Hand und die Schlange bleibt bei ihr, denn sie ist Chawa».

«Chawa,
Du bist nicht die Schlange,
aber die Schlange ist immer in Dir.»

War sie drei oder vier Jahre alt, als sie ins Haus Bär kam? Chawa half in der Küche; sie brachte die Küchenabfälle dem Bauern, der sie an die Tiere verfütterte. Sie half bei der Wäsche und freute sich, wenn sie ein vergessenes Kleidungsstück aus dem Zimmer holen und in die Waschküche bringen konnte. Sie lachte jeden an, der sie ansah. Die Freude eines so kleinen Kindes, das einen anstrahlt, berührt jeden: Wir erkennen die unverstellte Freude, welche wir alle einst hatten, die einen mehr, die anderen weniger. Manchmal weinte Chawa, allein, versteckt, bis es sie schüttelte. Dann nahm sie eine Blume vom Weg oder eine Feder und ein Steinchen, lief auf den Friedhof und legte es auf den Stein am Grab ihrer Mutter. Sie hörte die Mutter in den Geräuschen der Pflanzen sprechen, sie sang die Lieder, die sie gemeinsam gesungen, und sie meinte, die Mutter riefe, sie möchte ihr noch etwas sagen.

Wie Chawa lesen lernte, wurde herumerzählt. Im Hause Bär konnten alle Grossen lesen; Bücher waren greifbar, aber damals waren noch nicht überall an den Wänden, in den Wohnungen und im Freien, in Aufschriften und Anschriften Buchstaben zu sehen, welche ein kleines Kind zum Lesenlernen anstiften konnten.

Chawa ging zu jedem und fragte, was ist Dein liebster Buchstabe und liess ihn sich zeigen oder in die Hand malen. Wenn sie ein Zeichen schon kannte, fragte sie um ein anderes. Sie bedankte sich überschwänglich und zeichnete das neue Symbol zusammen mit Buchstaben, die sie schon kannte, in den Staub am Boden, kostbare Worte des Glücks.

Auch das Spiel auf dem heimischen Cembalo brachte sie sich selbst bei. Sie hatte Choräle von Johann Sebastian Bach gehört und verband sie improvisierend mit den Melodien der Niguns, wortlosen Liedern, die sie noch von ihrer Mutter kannte. Aber so weit war sie erst einige Jahre später. Die Zeit am Cembalo war begehrt bei den Kindern. Vierhändige Stücke waren beliebt, und manche lebenslange Frauenfreundschaft wurde an den Tasten geknüpft.

Im Hause Bär sprach man elsässischen Dialekt aber ganz selbstverständlich hörte man Hochdeutsch und Französisch. Die Gebete am Schabbatabend sprach Cerf Beer auf Hebräisch, laut und deutlich vor der ganzen grossen Familie. Am Schabbatmorgen und an den Feiertagen spielte Chawa vor der Synagoge mit den anderen Kindern, aber sie verpasste es nie, rechtzeitig hineinzugehen, und dann stand sie bei den Frauen und sang die Gebetslieder mit, und die Freude ihrer Stimme färbte den Gesang der ganzen Gemeinde. «Wäre sie ein Knabe, sie würde einmal Kantor werden.»

Aber Chawa war kein Knabe, sie war ein Mädchen und würde eine Frau werden, nicht Vorsänger in der Synagoge.

Es war ein strenger Winter gewesen. Die Kinder spielten wieder draussen. Zu Pessach war es schon fast warm. Beim Abendmahl des Befreiungsfestes, Seder Pessach, erklärte Cerf Beer feierlich den Text der Haggada, der Geschichte des Auszugs des jüdischen Volkes aus der Sklaverei im Ägypten des Pharaos.

Die Freiheit ist viel grösser, erklärte er, als sich den Bauch vollzuschlagen, bequem und wohlig faul zu sitzen und Wein zu trinken. «Die Freiheit lässt sich erreichen, die Anstrengung ist gross und kann nur gelingen, wenn alle mitmachen. Das ist die Geschichte der Haggada.»

Immer drei Kinder oder zwei Erwachsene teilten sich eines der bebilderten Bücher. Chawa hatte die Bilder und die Texte der Lieder schon vorher genau studiert. Traditionell fragt das kleinste Kind, das fragen kann. Cerf Beer nahm Chawa auf seinen Schoss und der Wechselgesang begann. Mit klarer Stimme und Lust an der Bedeutung des Spiels fragte die Wissbegierige: «Ma nischtana ha Laila hase: was ist so besonders an dieser Nacht?»

Herz Beer vergoss verschämte Tränen der Rührung. Da spürte er eine verborgene Erregung, und dann war da die unschuldige Hand Chawas, die seinen Schritt unter ihrem weichen Gesäss berührte, und ihr freudiger Blick, der ihn anstaunte, dass sie die Schlange in der Hand hielt.

Cerf Beer erhob sich, strich seine Kleidung glatt, hob das Glas mit Wein und lobte seine Eva in gewähltem Hochdeutsch und fügte noch in ausgesuchtem Französisch ein Compliment für Ève hinzu. Chawa machte einen artigen Knicks vor dem Herrn des Hauses. In Zukunft war sie für Cerf Beer Ève oder Eva.

Ohne es zu wissen, hatte ihm Eva Fragen gestellt, die ihn noch lange beschäftigten: Ist Erkenntnis und all unser Streben tatsächlich so sexualisiert? Er wollte noch in derselben Nacht Spinoza konsultieren. Die Aufklärung will Affekte lieber verstehen als verwünschen und verlachen.

Es war ein unausgesprochenes Verbot im Hause Beer, Herz’ Cello anzurühren. Chawa hatte nicht mehr erlebt, wie sein Spiel das ganze Haus verstummen und in seinen Bann geschlagen hatte. Sie hatte sich schon manches Mal nachts in die Bibliothek geschlichen um heimlich Bücher zu lesen, die nicht für die Augen kleiner Mädchen bestimmt waren. Als sie eines Nachts nicht mehr lesen konnte, da ihr Licht verloschen war, begann sie im Finstern das schöne uralte Cello vorsichtig zu streicheln und hörte leise Töne. Sie zupfte das Instrument pianissimissimo und lernte nach und nach immer gewagtere Tonfolgen mit ihren kleinen Fingern zu erzeugen. Ihr Atem stockte. Der Geruch des Bogenharzes schien ihr unwiederstehlich. Spuren des vor Jahren eingetrockneten Kolophoniumstaubes waren an den Saiten und Deckplatte oberhalb des weissen Saitensteges und am Streichbogen des Instrumentes zu riechen. Chawa schloss daraus, dass das Harz durch den Bogen auf die Saiten gekommen sein mussten. Vielleicht hatte sie aber einfach jemand spielen gesehen und wollte die Bewegungen kopieren. Behutsam versuchte sie die Töne beim Streichen zu halten. Erst mit Übung, viel Kraft und Fingerdruck gelang dies. Leise aber immer bestimmter ertönten die Niguns aus dem Instrument.

Chawa hatte schon mehr als ein Jahr heimlich auf dem uralten Cello geübt. Herz Beer konnte nicht schlafen und las länger als gewohnt an seinem Stehpult. Seit geraumer Zeit vermutete er einen heimlichen nächtlichen Bibliotheksbesucher und war neugierig. Müde geworden, hatte er sich doch noch in einen Sessel gesetzt und war eingeschlafen, als ihn Chawas Cellotöne weckten. Die kleine Chawa spielte das Instrument im Stehen. Sitzendes Cellospiel wäre für eine Dame nicht schicklich gewesen, aber so bestand kein Hindernis; seither gehörte das Instrument Chawa.

Fragen durften am Familientisch im Hause Beer nicht nur beim Abendmahl zu Pessach gestellt werden. Fragen waren beliebt. Nicht nur die Insassinnen des Mädchenheims wurden verköstigt. Auch mancher arme Jeschiwa-Bocher sass mit am Tisch, da die jüdische Knabenschule des Städtchens ebenfalls von Herz Beer gesponsert wurde. Diskutiert wurde alles. Die Schriften, die eigene Anschauung, die Geschäfte, die Politik, die harten Strafen und die Gerechtigkeit der Strafen des Gerichts, die Nöte dieses Gauners, jenes armen Schluckers oder der reichen Witwe soundso.

Der König in Paris selbst hatte Cerf Beer als erstem Juden Frankreichs das Bürgerrecht verliehen. Beer war Generaldirektor der Militärrüstung und hatte die Ausrüstung des königlichen Heeres finanziert. Die mächtigen Bürger in Strasbourg sahen sich in ihren Privilegien herabgesetzt. Was? Ein dahergelaufener Hofjude sollte dieselben Rechte erhalten wie sie? Cerf Beer wehrte sich ein Leben lang gegen die Zumutungen der Judenfeinde, nicht nur für sich. Er unternahm alles, was er konnte, das Bürgerrecht, die Gleichheit und die Freiheit für alle Menschen in Frankreich praktisch durchzusetzen, bei Hof, vor Gericht, in Versammlungen und durch die Finanzierung und Verbreitung von Schriften.

Das Bürgerrecht, die Gleichheit und Freiheit der Menschen war immer wieder ein Thema am Familientisch. Ein Gymnasiast fragte, woher Könige ihr Suprematsrecht hernehmen könnten. Gott erschuf den Mann, jeden einzelnen von uns doch nach seinem Angesicht. Er hat keine Könige geschaffen. Eva war eben dabei die Suppe aufzutragen und stand wartend beim Jungen, der mit seinen Armen beim Sprechen ruderte. Sie fragte trocken, ob denn nicht auch den Frauen und sogar den Kindern die Gleichheit gut anstehen würde. Und während sie dem Bocher noch einen Knödel in den Teller schöpfte, zitierte sie: «Wejiwra Elohim, Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. Sakar wenekewa, männlich und weiblich erschuf er sie.»

Beer musste zuerst durchatmen. Dann sagte er ruhig: «Eva, Du hast da sicher eine wichtige Frage dazu, nehme ich an?»

«Mais c’est évident, n’est ce pas?»

«Könnte es nicht sein, dass es erst dann evident ist, wenn jeder Mann und jede Frau dies begriffen hat?» Hastig beendete er sein Mahl und zog sich rascher als erwartet in sein Kontor zurück, er musste in seinem Spinoza den Begriff der Evidenz überprüfen.

Die Streifzüge der Kinder waren mit Eva spannender, als wenn sie nicht dabei war. Sie fand immer etwas Interessantes: Vogelnester, Spuren eines Wolfs und einmal schreckten sie eine Schlange auf. Die Kinder liessen dem Tier keinen Fluchtweg. Chawa packte die Schlange im Nacken, sie hielt sie sanft und fest. Die Kinder konnten in aller Ruhe die giftigen Zähne und das Züngeln der gegabelten Zunge bestaunen: «Chawa mit der Schlang».

Die Jungen hatten insgeheim etwas Angst oder zumindest Respekt vor Chawa. Sie verteidigte das Recht im Hause des Gerechten, ihr Recht, mit einer Bestimmtheit, welche Frauen meist erst zeigen, wenn sie Kinder geboren haben.

Cerf Beer wagte nicht einmal, mit seiner Frau darüber zu sprechen, aber er bekannte gegenüber einem Freund, dass er oft Angst um seine geliebte Eva habe. Wie man hörte, war doch eben erst wieder eine Hexe gefoltert und zu Tode verurteilt worden, im fernen Glarus, zwischen den hohen Bergen der Schweiz. «Gott gebe, dass dies nie mehr geschehe, nicht dorten noch hierzulande.»

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