Moisej

Moisej Zawidow erreichte, was er vom Leben wollte wie im Traum. Schon als Gymnasiast war sein Ziel die Armee des Zaren. Er war uniformierter Trompeter und berittener Hornist, ein herrliches Leben. Seine Truppe zog meist hoch zu Ross, von einer Veranstaltung zur nächsten, Paraden und grandiose Aufmärsche, geschmückte Bankettsäle und Kasinos. Mädchen und Frauen gab es in jeder Stadt, und Verpflichtungen, abgesehen vom Dienst, keine, bis der Krieg kam.

Als ihr gross gewordener Sohn in den Krieg ziehen sollte, zerriss Mirjam die Leutnantsuniform. Wütend zerrte Moisches Mutter an den Epauletten, Laschen und Knöpfen, schränzte Kragen und Umschläge ab, sie nahm die Schere, um die Ärmel abzuschneiden, und in immer kleinere Fetzen und Schnipsel zu verwandeln. «Werde endlich erwachsen! Das ist kein Spiel. Der Krieg ist kein Spiel, ist kein Spiel.»

«Moische! Mein Moischele», rief sie sogar aus.

Wassili brachte Moisej nach Odessa. Noch weiter, nach Istanbul oder Serbien hätte er ihn sogar gebracht. Am besten würde sein Stiefsohn nach Deutschland oder in die Schweiz gehen, meinte er.

«Ja, geh in die Schweiz», riet Wassili. Vergeblich, Moisej rückte in Odessa ein, in den russisch-japanischen Krieg des Zaren.

«Ich bin doch kein vaterlandsloser Jude. So einer bin ich nicht. Das grosse Russland braucht mich.» Auch Wassilis Geld wollte Moische nicht annehmen. Aus eigenem Geld kaufte er sich die neue Uniform. Von Odessa kam er über Moskau nach Sibirien. Dort desertierte er.

Der Krieg war tatsächlich kein Fest und kein Spiel. Der Schrecken des Krieges war zunächst nur tröpfchenweise sichtbar. Bei Omsk am Fluss Irtytsch sassen sie Tage lang auf einem Geleise der transsibirischen Bahn fest. Auf dem Nachbargeleise fuhr ein Zug mit Toten und Verwundeten aus der Gegenrichtung ein. Der Blick in ein Gesicht ohne Nase, auf die Verstümmelten in den Luken der Transportwagen und die Schreie der Schwerverbrannten liess die aufgekratzten Gespräche und Neckereien der Kriegsneulinge nach und nach verstummen. Das unbeschwerte Kartenspiel im Zug wurde bald nicht nur unterbrochen, sondern ein für allemal beendet, als nichts mehr weiterging. Alles raus!

Leute verunfallten und ertranken im Sumpf. Das eigentliche Schlachten war immer noch weit entfernt aber jeder spürte wie es näher und näher kam, unaufhaltsam. Das grosse Sterben setzte schon weitab der Front ein, unübersehbar und unmittelbar neben Moisej. Die Ochrana liquidierte jeden Verdächtigen ohne Prozess, aber noch schlimmer, war es dort, wo nicht einmal mehr die Geheimpolizei des Zaren für Ordnung sorgte.

Bloss weg! Bei der Flucht über den gefrorenen Amur starben die nächsten Kameraden: Auf dem Fussmarsch quer durch China konnte bald dieser nicht mehr weiter, und kaum drehte sich unser Held um, da war auch sein nächster Freund am Ende seiner Kräfte.

Moisej gelangte nach Schanghai und über Hamburg nach Zürich. Er war quer durch China gelaufen. Er hatte gefroren, gehungert und alles überlebt. Die anderen starben fast alle. Moische blieb unbeschadet.

Spiel ihre Spiele, brüll ihre Parolen, blas ihre Märsche aber bleib bei Dir: «Das, was Dir im Kopf, niemand kann Dir nicht nehmen!»

Zwölf Jahre später war Moische in Zürich schon vierfacher Vater. Als Lenin, Nadeschda Krupskaja, Fritz Platten und all’ die anderen berühmten Genossen im plombierten Wagen durch Deutschland nach Petersburg zu ihren grossen heroischen Taten fuhren, wurde Moisches jüngster geboren, Philipp. Da wollte er nicht mehr weg, nicht mehr zurück nach Russland und die glorreiche Revolution fand ohne ihn statt. Die grosse Geschichte zog an ihm vorbei, aber der Grossvater des Kleinen, konnte Geschichte und Geschichten seinen Kindern und Kindeskindern erzählen, es war einmal und so ist das gewesen: «Schil-buil schil-buil, xi xi xi!»

Moses Zawidow, Moische, Moritz, Moisej Beerowitsch, wurde fast 92 Jahre alt. Alle Genossen Emigranten seiner Zeit waren schon tot, nur er lebte noch. Man sah den rüstigen Greis immer nur tadellos, perfekt mit Gehstock im Dreiteiler mit Krawattennadel, Taschenuhr am goldenen Kettchen und Poschetli im Veston aus englischem Tuch. Jeden Tag spazierte er aufrecht vom Haus an der Spiegelgasse 16 in der Zürcher Altstadt zum Bahnhof Stadelhofen. Dort traf er seine frisch pensionierten Freundinnen im Restaurant Olivenbaum zu Kaffee und Kuchen. Hörner und Trompete blasen, vermochte er schon lange nicht mehr, aber die soldatische Haltung stand ihm immer noch gut.

Moische hielt Hof im Olivenbaum. Er traf sich immer nur mit einer der drei Frauen. Die beiden anderen mussten sich derweil an einem oder zwei anderen Tischen gedulden, bis der Platz in seiner Fensternische frei wurde. Als seine Kräfte nicht mehr ausreichten für den täglichen Flirt, als er den eleganten Auftritt nicht mehr so schaffte, wie er das brauchte, setzte er sich in einer sibirisch eisigen Kälte Ende Dezember 1968 zum Sterben ins Bellevue-Rondell beim Zürichsee. Er schickte den Kleinen weg, der ihn im offenen Unterstand der Tram fand: «Geh, ich sterbe.»

Bei seiner Abdankung auf dem jüdischen Friedhof Friesenberg sassen die Schicksen, seine drei Freundinnen, einträglich beisammen auf der hintersten Bank. Sie trauten sich nicht nach vorne zur Familie zu sitzen.

Philipp Zawidow, der jüngere Sohn, sprach das Kaddisch am offenen Grab und hielt die Eloge. Auf der Suche nach der Freiheit sei sein Vater in die Schweiz gekommen, so wie seine Väter einst von Zawidow in den Osten der Ukraine zogen. Sein Vater habe sich nichts geschenkt. Er sei nicht in Angst erstarrt, wie alle anderen um ihn herum. Er habe seine Familie, die Menschen um sich kaum noch verstanden. Es wurde getuschelt. Der alte Zawidow habe auf die Sowjetunion vertraut, auf Stalin, ausgerechnet. Im Zug der Freiheit sitze man Denkfahrzeugen auf, aber irgendwann seien diese verschlissen oder gerieten auf falsche Geleise. «Und manchmal verlassen einen alle Mitreisenden und man sitzt schon allein im Wagen. Wir Juden haben uns leider immer wieder in den falschen Wagen gesetzt oder zu lange gewartet mit dem Aussteigen. Moische ben Beer aber habe eine gute Wahl getroffen: Die Schweiz.»

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