Wassergasse

Gii-Gampfen
Wasser stampfen
Wasser ab den Röhren

Kind jetzt halt Dein Mund
schön zu
Ich mag Dich nimmer hören

Im Mittelalter stand mitten im Fluss die Wasserschöpfi. Auf der Gigampfen-Wippe stampften ein oder zwei Wassermannen hin und her tretend das Wasser in die Röhren. Später schöpften grosse Räder das Wasser; schwankende Plankenstege führten zu ihnen. Noch später wurden am oberen und unteren Mühlesteg mächtige Mühlen und Häuser in den Stadtfluss gebaut.

Wenn Du am Morgen aus der Bahnhofhalle ins Freie trittst und auf der Bahnhofbrücke über den Fluss gehst, siehst Du etwas geblendet von der Sonne hinauf zu den prachtvollen Gebäuden der beiden Hochschulen. Rechts der Brücke aber gaben die etwas verlotterten schattigen Fassaden der Häuser, einst keinen stattlichen Anblick ab. Ineinander verschachtelt war zu verschiedensten Zeiten, irgendwie hinein- oder wieder hinzugebaut, umgebaut oder halbwegs wieder instand gestellt worden. Aufgemalte Reklame, Pappschilder und aus den Löchern der Fenster hängende Fahnen appellierten an die immer zahlreicher gewordenen Menschen auf der Bahnhofbrücke. Die Rückseiten der Mühlesteghäuser waren düster und der Ruf der Bewohner war schlecht.

Wo einst auf der Wasserwippe die Mannen tretend das Wasser in die Leitung gepumpt hatten und später grosse Mühlenräder gedreht hatten, dort wohnten Hanspeter und seine Schwester Mathilde mit ihrer Mutter, mitten im Stadtfluss, in einer der alten Mühlenhäuser am unteren Mühlesteg.

Eine Mühle war das Haus zu Hanspeters und Mathildes Zeit auch schon lange nicht mehr, bloss ein grosses Haus mitten im Stadtfluss, das Haus Nummer eins am unteren Mühlesteg. Das Wasser des Stadtflusses rauschte ungenutzt im schmalen tiefen Durchlass zwischen den hohen Mauern der Häuser Mühlesteg eins und zwei. In der Wassergasse konntest Du Dein hölzernes Schiffchen am Faden im Fluss treiben lassen. Und in dieser Wassergasse zwischen den Häusern lernten Hanspeter und Mathilde schwimmen. Die Mühlesteg-Frauen banden den kleineren Kindern einen Kälberstrick um den Bauch und liessen sie vom einen quer übers Wasser gehaltenen Besenstiel zum anderen treiben.

Die Waschküchen im Kellergeschoss der beiden Häuser lagen benachbart. Ein Brett verband die Fenster über dem rasch fliessenden Wasser. Du musstest auf den Rand des grossen steinernen Waschtroges klettern, auf das Brett sitzen und konntest die Füsse über dem Wasser baumeln lassen. Dein Schiffchen war vielleicht nur ein etwas zugeschnitztes Stück Holz, aber vielleicht war es auch wohlgeformt, glattpoliert und rot angemalt. Und du konntest das Schiffchen an Deinen grossen Zeh binden oder Dich ins Wasser plumpsen lassen oder kopfüber hineinspringen und Dich aus der Wassergasse hinaus in den strudelnden Stadtfluss und unter der Bahnhofbrücke hindurch ziehen lassen. Das war der Sommer für die Kinder der Mühlesteghäuser.

Hanspeterchen stand auf dem Waschtrog am Fenster und sein Schiffchen trieb in der Wassergasse am Zwirn. Er jauchzte noch mehr als seine Mutter kam und ihn lachend packte. Hanspeterchen strampelte, aber es half gar nichts. Kitzelnd und knubbelnd zog sie ihn nackt aus und band ihm einen Strick um den Bauch, den Kälberstrick. An diesen Strick gebunden liess ihn die Mutter ins Wasser gleiten. Hanspeterchen durfte seine Angst nicht zeigen. Er liess sich treiben, patschte trotzdem panisch, tauchte halb unter, prustete, verschluckte sich und lernte, sich über Wasser halten. Und wenn seine Schwester Mathilde das konnte, dann konnte er das erst recht.

Das hölzerne Mühlenrad zwischen den Mühlesteghäusern Nummer eins und zwei war schon lange verfault und die Reste entfernt worden. Aber die Aufhängung der Mühleradachse war zwischen den hohen Häusermauern immer noch gut sichtbar und an den vorstehenden Holzsparren und Eisen konnte man sich halten. Die grösseren Kinder kletterten mit gespreizten Armen und Beinen zwischen den Hauswänden zwei, drei oder mehr Meter hoch, so dass sie sich am unteren Ende der Wassergasse ins Wasser fallen lassen konnten, dass es knallte und spritzte. Frau Ferraras Tino hielt sich jeweils an zwei hohen Eisensparren und wirbelte sogar mit einem Salto mortale kunstvoll ins Wasser. Tino sprang eines Tages auch aus dem Fenster der mütterlichen Wohnung in den Fluss. Aber diese Geschichte kommt später.

An den Wänden und Sparren der Wassergasse konnte man sich natürlich auch schürfen, Holzsplitter einfangen oder gar böse verletzen.

Die Waschküchen waren vor allem ein Ort harter Arbeit, voll Dampf, Stampfen und Klopfen durch gerötete Frauenhände.  Das Klatschen der nassen Wäsche und das ungeduldige Rufen oder Fluchen hallte zwischen den hohen Mauern der Wassergasse, wenn die Hilfe der Kinder nicht sofort erfolgte wie geheissen.

Kind jetzt halt Dein Mund
schön zu
Ich mag Dich nimmer hören

Im Winter fiel in der frühen Nacht nur das geringe Licht der flackernden Lampen durch die mit Eisblumen beschlagenen Fenster in die Düsternis zwischen den grauen Wänden der Mühlesteghäuser. Die Eiszapfen an den Resten der Mühleradaufhängung waren kalt und drohten Dich zu durchbohren und mitzuziehen ins kalte Nass des Stadtflusses. Das Rauschen und Gurgeln des Wassers hätte das Echo jeden Schreis verschluckt. Im Winter war die Wassergasse zum Fürchten.

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