15.11.20/ASe: Zweifel an der Wirkmächtigkeit von Staat und Behörden werden rasch kritisiert. Darf ich die mehr oder weniger versteckten Emotionen beschreiben, welche uns Massnahmen effektiver oder weniger wirksam erscheinen lassen, als sie sind? Hoffnungen und Ängste können unseren Blick trüben und Interessen können das ausnützen. Wir Ärzte überschätzen unsere Wirkmächtigkeit gerne und Menschen in Not, Patienten, unterstützen diesen Glauben oft verzweifelt gerne. Epidemiologen sind auch in diesem Sinn Ärzte, und Politikerinnen und Behörden sehen sich eh schon gerne als Väter und Mütter ihrer Untertanen.
Die Macht der Geschichte wird aus meiner Erfahrung zu oft blind nur von oben herab wahrgenommen. Entwickelt sie sich nicht doch viel mehr von unten, durch das Wirken jedes Einzelnen und letztlich von uns allen? Könnte es nicht sein, dass ein Top-down Ansatz auch technisch weniger effektiv ist, als ein Bottom-up?
Schon vor dem Lock-down wegen Corona-Viren haben sich die Verhaltensweisen der Menschen in der ersten Welle deutlich geändert und auch in der zweiten Welle haben sie nicht auf den Bundesrat gewartet. Ob aus Angst oder Sorge, Eigennutz oder Solidarität, wir als Kollektiv von vielen Individuen haben uns weniger getroffen, haben die Hände gewaschen und desinfiziert und haben Masken getragen. Nicht wenige haben sich noch mehr in ihren Zimmern und Häusern eingesperrt und einige andere haben aus Trotz erst Recht aus allem ausbrechen wollen.
Die Fragen bleiben: Was beeinflusst unser Verhalten und in welchem Ausmass beeinflusst es unsere Handlungen? Wie wollen wir weiter mit Covid-19 leben bis Durchseuchung und Impfung die Probleme drastisch vermindern?
Lockdown- und Slowdown-Bestimmungen werden hierzulande weitgehend befolgt. Die offiziellen Warnungen wirken adäquat und die Erläuterungen plausibel. Trotzdem werden in der Corona-Hektik auch bei uns gesellschaftliche Diskussionen nicht mehr als das wahrgenommen, was sie sind: gesellschaftliche Diskussionen. «Wer hat versagt?» «Welches Land macht es besser?» sind wenig hilfreiche Fragen. Offensichtlich war ausgedehntes Testen und das Tracing hierzulande zu wenig wirksam. Die schieren Testkapazitäten waren und sind in der Phase einer wöchentlichen Verdoppelung der Zahlen nicht mehr Match-entscheidend. Das Verfolgen jeder einzelnen Infektionsspur war in der Schweiz schon vorher nicht oder nicht mehr möglich. Die Datenorganisation der Kantone war nicht im Ansatz an die Erfordernisse einer realen Epidemie vom Ausmass von Covid-19 angepasst. Sie konnte es gar nicht sein und ist es auch heute nicht.
Die Diskussionen um die Swiss-Covid-App haben verschleiert, dass Persönlichkeitsrechte nicht nur in einer weitgehend autonom agierenden App betroffen sein könnten. Wirksames Tracing beschneidet die Persönlichkeits- und Freiheitsrechte des Einzelnen zwangsläufig. Wer sich wirksame Tracing-Massnahmen wie in einigen asiatischen Ländern wünscht, muss diese Diskussion extensiv führen und gesellschaftlich durchfechten.
Die effiziente Organisation des Tracings bliebe dann immer noch eine technisch-logistische Herausforderung. Tracing-Massnahmen sind erst dann wirksam, wenn sie in wenigen Stunden erfolgen können. Unmittelbar bevor die ersten Symptome auftreten und in den ersten zwei bis drei Tagen mit Beschwerden sind die Menschen am meisten ansteckend, nachher verkriechen sich die meisten ins Bett oder werden auch so weniger infektiös. Ein erfolgreiches Tracing muss einen möglichst grossen Teil der Menschen möglichst unmittelbar nach ihrer Infektion mit SARS-CoV2 abfangen.
Je ferner die Segnungen des Staates erscheinen, desto weniger werden die von ihm erlassenen Einschränkungen befolgt.
Lesen Sie dazu auch:
→ Interview in der NZZ vom 28.10.2020,
→ Corona fast ein Manifest